John Sinclair 2097 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2097 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Ich war ganz schön erstaunt, als ich die altmodisch mit der Hand geschriebene Postkarte las. Sie war von einer Frau, die ich seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen hatte - und die ich im Zusammenhang mit einem Fall kennengelernt hatte, der so weit zurücklag, dass man die Jahre schon beinahe nicht mehr zählen konnte.

Doch plötzlich hatte ich die schrecklichen Ereignisse von damals wieder ganz deutlich vor Augen, als wäre das alles erst gestern passiert. Und schon bald sollte mich meine Vergangenheit wieder einholen ...

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EPUB

Seitenzahl: 166

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Inhalt

Cover

Impressum

Willkommen im Shocking Palace

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Néstor Taylor/Bassols

eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-6850-5

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Willkommen im Shocking Palace

von Ian Rolf Hill

Lieber John Sinclair,

vermutlich wundern Sie sich, eine altmodisch mit der Hand geschriebene Postkarte zu bekommen. Vor allem von einer Ihnen fremden Person. Oder kennen Sie mich noch? Ich muss gestehen, ich habe Sie all die Jahre über nicht vergessen und würde mich sehr darüber freuen, wenn wir uns wiedersehen könnten.

Ich werde in der 38. Kalenderwoche in London sein. Wenn Sie möchten, können Sie mich unter nachstehender Handynummer erreichen. Es interessiert mich sehr, wie es Ihnen in den all den Jahren ergangen ist.

Auch bei mir hat sich viel getan, und dass dies überhaupt erst möglich war, habe ich allein Ihnen zu verdanken. Bitte machen Sie mir doch die Freude, mit mir einen Kaffee trinken zu gehen.

Ihre Marina Held

Zuvor

Hätte Burkhard Müller auf den letzten Kaffee verzichtet, wäre ihm vieles erspart geblieben.

Er hätte vorher auch auf Toilette gehen können, aber der Drang, nach Hause zu fahren, war stärker gewesen als der Druck auf die Blase. Den konnte er jedoch eine Autostunde später nicht länger ignorieren und bog von der A10 auf den Rastplatz Schwielowsee ab, hinter dem sich die kahlen Stämme hochgewachsener Kiefern erhoben.

Die von der Sonne aufgeheizte Luft trieb Burkhard sofort den Schweiß aus den Poren, als er aus dem Opel Astra kletterte, in dem die Klimaanlage für Abkühlung sorgte. Der Sommer meinte es dieses Jahr gut, nachdem der nasskalte Winter sich bis in den April hineingezogen hatte. Trotzdem hätten es gerne ein paar Grad weniger sein dürfen, immerhin ging es schon mit Riesenschritten in Richtung Herbst. Zumindest kalendarisch betrachtet.

Burkhard hielt sich gedanklich nur kurz beim Wetter auf. Für die klimatischen Verhältnisse interessierte er sich momentan genauso wenig wie für das Rauschen des Verkehrs in seinem Rücken oder den verlassen daliegenden Rastplatz, auf dem nur ein einziger LKW stand, dessen Fenster zugezogen waren. Die beiden Schilder in der Frontscheibe verrieten Burkhard, dass dort ein Pärchen namens Beate und Bernd ein Päuschen machte.

Er schnaufte und wischte sich den Schweiß von der Stirn, der nicht nur aufgrund der spätsommerlichen Wärme dort perlte, sondern auch wegen des stärker werdenden Harndrangs. Nur eine Minute länger und er würde sich in die Hose machen.

Burkhard warf sich förmlich gegen die Tür des Toilettenhäuschens, die erbärmlich quietschte. Zumindest nahm er sich die Zeit, die Nase zu rümpfen, bevor er sich in eine der Keramiken erleichterte, die in regelmäßigen Abständen rechts an der Wand hingen. Pfützen undefinierbarer Flüssigkeiten verteilten sich auf dem gekachelten Boden, und ein Gestank nach Urin, kaltem Zigarettenrauch und billigem Desinfektionsmittel raubte ihm den Atem.

Nein, diese Rastplatztoiletten gehörten nicht zu den Orten, die Burkhard gerne oder freiwillig aufsuchte. Versonnen betrachtete er die obszönen Schmierereien an den Wänden, während er dem Plätschern lauschte, in das sich unvermittelt ein lautes Poltern mischte, das den einundvierzigjährigen Buchhändler zusammenzucken ließ.

Hastig warf er einen Blick über die Schulter und beeilte sich, sein Geschäft zu beenden.

Vier Toilettenkabinen befanden sich in seinem Rücken, von denen die letzte, rechts in der Ecke, verschlossen war. Doch das fiel Burkhard erst jetzt auf, genauso wie ihm erst jetzt bewusst wurde, dass er zuvor keinen Mucks von dem Insassen gehört hatte. Schlief dort jemand seinen Rausch aus oder hatte sich gar einen Schuss gesetzt?

Im Stadtgebiet von Berlin war das nichts Außergewöhnliches, hier in der Pampa, wie man so schön sagte, allerdings schon. Doch was ging es ihn an? Er hatte getan, wozu er gekommen war, und konnte sich erleichtert auf den restlichen Heimweg machen. Es war Wochenende und er freute sich auf zwei unbeschwerte Tage mit der Familie.

Burkhard wollte sich bereits abwenden, als es erneut von innen gegen die Kabinenwände schepperte, dicht gefolgt von einem leisen, monotonen Stöhnen. Also doch ein Alki oder Junkie, der aus seinem Rausch aufwachte. Vielleicht hatten Beate und Bernd aber auch Krach gehabt, und Bernd war kurzerhand ausquartiert worden?

Normal klang das jedenfalls nicht, was der Kerl dort abzog.

Und wieder dröhnte es gegen die Tür, deren Blatt unter dem Hieb erzitterte. Burkhard wich zurück, und sein Blick wanderte hinunter, wo zwischen Tür und Boden ein Zwischenraum existierte, durch den man in die Kabine spähen konnte. In der Regel sah man dort den Fuß der Toilettenschüssel und, sofern sie besetzt war, zwei Schuhe und eine heruntergelassene Hose. Burkhard bückte sich und neigte sich dabei leicht zur Seite.

Tatsächlich sah er schwarze Herrenschuhe und die Säume einer dunklen Hose, die jedoch hochgezogen zu sein schien. Möglicherweise ist er krank, dachte Burkhard und zögerte, die Toilette zu verlassen.

Das war sein zweiter Fehler an diesem Tag.

»Hallo?«, rief er mit krächzender Stimme und spürte, wie sein Herz schneller schlug. Burkhard bückte sich tiefer, stützte sich mit den Händen an den Oberschenkeln ab und trat näher an die Toilettenkabine heran.

Das Stöhnen wiederholte sich, ging in ein hechelndes Atmen über. Nein, korrigierte sich der Buchhändler in Gedanken, kein Atmen, das hört sich mehr wie ein Schnuppern an. Wie ein Hund, der Wild wittert.

Eine Antwort auf seine Frage erfolgte nicht.

Die plötzliche Stille verunsicherte Burkhard. Bilder von epileptischen Anfällen flackerten vor seinem geistigen Auge auf, obwohl er selten einen echten Krampf zu Gesicht bekommen hatte. Früher einmal in der Schule, bei einem seiner Freunde, und später im Supermarkt, wo eine Frau umgekippt war, außerdem noch ein paar schlecht gespielte im Fernsehen.

Immerhin wusste er, dass sie schnell wieder vorübergingen und die Betroffenen anschließend ziemlich neben der Spur waren. Eine Gänsehaut rieselte über seinen Rücken, kroch entlang der Wirbelsäule bis zum Nacken hoch, wo sich die feinen Härchen aufrichteten.

Burkhard erschauerte und richtete sich auf, als sich das Schloss von innen drehte. Der halbrunde rote Streifen, der anzeigte, dass die Kabine verschlossen war, wechselte die Farbe und wurde grün. Der Buchhändler wollte auf die Toilettenkabine zugehen, doch irgendetwas hielt ihn davon ab.

Wie eine innere Stimme, die ihn warnte.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

Eine verbale Antwort bekam er auch dieses Mal nicht. Dafür wurde die Tür aufgezogen und eine Gestalt torkelte heraus, hielt sich an der dünnen Kabinenwand fest und stierte Burkhard aus tief in den Höhlen liegenden Augen an.

In den geweiteten Pupillen lag ein gieriger Ausdruck. Also doch ein Junkie, fuhr es ihm durch den Kopf. Dazu passte auch das aufgerissene Hemd, das feucht und schmutzig an dem aufgeschwemmten Körper klebte. Es wies zahllose Risse auf, und erst beim zweiten Hinsehen erkannte Burkhard, dass es sich mit Blut vollgesogen hatte, das aus einer klaffenden Wunde am Hals des Mannes gesickert war. Trotz der Anspannung begriff Burkhard, dass es für so eine große Verletzung eigentlich viel zu wenig war.

Die Haut im Gesicht und auf der Brust war kalkweiß, als würde sich im Körper selbst kein Tropfen mehr befinden. Der Typ hatte nur wenige Haare, die sich als Kranz am Hinterkopf verteilten. Seine dichten Brauen hoben sich wie pelzige Raupen von dem wächsernen Antlitz ab.

Burkhard schwankte zwischen Furcht und Hilfsbereitschaft. Einerseits wollte, nein, musste er diesem Mann, der offensichtlich Opfer eines Verbrechens geworden war, helfen. Andererseits stieß ihn etwas von dem Kerl ab, als hätte er eine Seuche, vor der ihn sein Unterbewusstsein warnte. Was auch immer mit dem Fremden geschehen war, Burkhard zögerte. Und das rettete ihm das Leben.

Der Mann aus der Toilette, dessen besudelte Kleidung dennoch einen vornehmen Eindruck machte, stieß sich vom Türrahmen ab und schlurfte mit hängenden Schultern auf Burkhard zu.

Die Arme pendelten von einer Seite zur anderen, der starre Blick fixierte den Buchhändler. Wieder drang das Stöhnen zwischen den kaum erkennbaren blassen Lippen hervor, steigerte sich zu einem abgehackten Grunzen. Lachte der Kerl etwa?

»Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Burkhard verunsichert, ohne dabei zu merken, dass er automatisch vor dem Fremden zurück in Richtung Ausgang wich.

»Komm her!« Es war nicht mehr als ein Hauch, und Burkhard hatte Mühe, die Worte überhaupt zu verstehen. Sie klangen rau und brüchig, als hätte dieser Mann seit Tagen nichts getrunken und auch keine Silbe gesprochen.

Ohne Vorwarnung warf er sich nach vorne, streckte die Arme aus und wollte Burkhard festhalten. Das teigige Gesicht des Verletzten verzog sich zur Fratze, als er den Mund aufriss und ein tierisches Fauchen aus der Kehle drang. Burkhard schrie vor Entsetzen, als er die fingerlangen Eckzähne aus dem Oberkiefer ragen sah, und warf sich im Reflex zurück. Er stieß mit Rücken und Hinterkopf gegen die Tür, die jedoch nicht aufschwang, sondern ins Schloss gedrückt wurde.

Der Fremde hatte seinen Körper nicht richtig unter Kontrolle, glitt auf den feuchten Kacheln aus und schlug der Länge nach hin, bekam aber noch Burkhards Hosenaufschlag zu fassen und zerrte daran. Auch er rutschte aus und an der Tür hinunter. Sofort kam der andere wieder hoch, warf den Kopf in den Nacken und fletschte die Zähne, wollte sich auf Burkhard stürzen, der sich in Panik herumwarf, nach der Klinke der Tür angelte und diese aufriss.

Auf allen vieren krabbelte er aus dem Toilettenhäuschen in das Licht der Sonne. Die Hände des Fremden tasteten über seine Beine und Oberschenkel. »Komm, komm, komm!«, stammelte er, und Burkhard fühlte, wie sich die Finger des Verletzten in seinen Hosenbund schoben und am Gürtel festkrallten.

Der Fremde wollte ihn zurück ins Toilettenhäuschen ziehen und obwohl er verwundet war, unter Schock stand oder psychisch krank war, trat Burkhard mehrfach zu, keilte regelrecht aus, wie ein in Panik geratener Gaul. Seine Schulsohlen trafen einen harten und zugleich nachgiebigen Widerstand. Er hörte das Knacken des Nasenbeins und die Hand rutschte vom Gürtel. Burkhard wälzte sich herum und kroch rückwärts aus der Reichweite des Verletzten, der wie eine Spinne hinter seinem Opfer her krabbelte – und mit einem schmerzerfüllten Jaulen vor dem Sonnenlicht zurückwich!

Burkhard glaubte, den Verstand zu verlieren, als er sah wie sich Rauch von der Hand des Fremden emporkräuselte. Er roch verkohltes Fleisch und versengtes Haar und beobachtete wie der Andere in das schummrige Dämmerlicht des Toilettenhäuschens zurück kroch.

Schwer atmend kämpfte sich Burkhard auf die Beine und sah, dass der Verletzte sich ebenfalls erhob. Fast wäre der Buchhändler über die eigenen Füße gestolpert und gestürzt. Im letzten Moment fing er sich, stolperte auf die Tür zu und warf sie ins Schloss, ehe sich der Fremde mit seinem ganzen Gewicht dagegenstemmte.

»He, was zum Geier treiben Sie da eigentlich?«

Burkhard warf den Kopf herum, und sein gehetzter Blick erfasste einen stiernackigen Kerl im Holzfällerhemd mit struppigem Vollbart und Schirmmütze. Neben ihm stand eine stark geschminkte Blondine, in einer mit Strass besetzten Jeans, die mindestens eine Nummer zur klein war.

Das mussten Bernd und Beate sein.

»R …rufen Sie die Polizei!«, keuchte Burkhard und zuckte zusammen, als er hinter der Tür ein animalisches Fauchen vernahm.

Kurz darauf erzitterte die Metalltür unter den Schlägen. Der Buchhändler sah aus dem Augenwinkel, wie die beiden LKW-Fahrer sich näherten, konnte sich aber nicht um sie kümmern, denn er fühlte, wie die Tür unaufhaltsam aufgedrückt wurde. Kaum war der Türspalt breit genug, wand sich schlangengleich ein Arm hervor, um das Opfer zu fassen zu kriegen und es in das Toilettenhäuschen zu zerren.

Doch das Einzige, was der Kerl erwischte, war das Sonnenlicht. Und wieder wölkte Rauch auf. Nur dass Burkhard dieses Mal sogar ein Knistern vernahm, als würde jemand Alufolie zusammenknüllen. Der Gestank nach verbranntem Fleisch intensivierte sich, und aus dem Inneren des Häuschens hörte er schmerzerfülltes Kreischen. Endlich gab der andere Ruhe, und als Burkhard den Kopf abermals drehte, sah er in die erschrockenen Gesichter von Bernd und Beate.

»Was war denn das?«, rief der bullige LKW-Fahrer außer sich.

Burkhard dachte an die langen Eckzähne, an die leichenblasse Haut und die tiefe Halswunde. Vor allem aber an die heftige Reaktion auf das Sonnenlicht. Seine Kehle war wie zugeschnürt, und er musste sich räuspern, ehe er eine Antwort geben konnte.

»D …das war ein … ein Vampir!«

Jetzt

Versonnen lächelnd drehte ich die Postkarte in den Händen. Auf der Vorderseite war das nächtlich beleuchtete Brandenburger Tor zu sehen, das Wahrzeichen Berlins und einer der beliebtesten Touristenmagnete der deutschen Hauptstadt.

Ein wenig regte sich mein schlechtes Gewissen, dass ich im Gegensatz zu Marina nie daran gedacht hatte, mich bei ihr zu melden. Andererseits – würde ich das bei jedem Menschen tun, der mir beruflich über den Weg lief und den ich sympathisch fand, käme ich zu gar nichts mehr.

Nur war Marina Held nicht unbedingt eine gewöhnliche junge Frau gewesen. Oder besser gesagt, die Umstände, unter denen wir uns kennengelernt hatten, waren alles andere als normal gewesen.

Selbst für meine Verhältnisse nicht.

Obwohl ich schon zahlreiche Fälle mit übersinnlichem Hintergrund und dämonischen Gegnern erfolgreich zum Abschluss gebracht hatte, konnte man mit Fug und Recht behaupten, dass ich noch am Anfang meiner Karriere als Geisterjäger gestanden hatte. Suko war damals noch nicht beim Yard gewesen und hatte sich mit Bill Conolly im Himalaya herumgetrieben. Ich aber hatte gerade einem untoten Kreuzritter das Handwerk gelegt und mich auf dem Rückflug von Düsseldorf nach London befunden, als ich Marina kennengelernt hatte.1)

Neunzehn Jahre jung, mit dunkelblonden Locken, blauen Augen und niedlichen Sommersprossen um die zierliche Nase herum. Es hatte einen kurzen Moment gedauert, bis ich mich wieder an sie erinnerte, doch dann stürmten die Bilder aus der Vergangenheit auf mich ein und wurden zu einem Film, der vor meinem geistigen Auge ablief. Ich war zwar zu der Zeit schon mit der Privatdetektivin Jane Collins liiert und Marina als Abiturientin auch ein wenig zu jung für mich gewesen, trotzdem hatte ich den Flirt mit ihr genossen. Nicht ahnend, dass sie mir kurz darauf einen grauenhaften Fall bescheren würde, der mich in den Nachtclub der Vampire führen sollte.

Leider war Marina Held nicht nur Stein des Anstoßes gewesen, sondern eben auch eine Zeugin, die von den drei Vampirschwestern zum Schweigen gebracht werden sollte. Das war auch der Grund, weshalb dieser Fall so ungewöhnlich und mir im Gedächtnis haften geblieben war. Den Untoten war es nämlich gelungen, Marina zu entführen und eine von ihnen hatte sie sogar zur Ader gelassen. Ich hatte es geschafft, sie zu retten und ins Krankenhaus zu bringen, wo man ihr mit einer Bluttransfusion das Leben gerettet hatte.

Ein einmaliger Vorgang, und wir beide hatten unser Glück kaum fassen können. Nichtsdestotrotz hatte Marina ihren Aufenthalt in London abgebrochen und war zurück nach Berlin gegangen, sodass wir uns auf den Augen verloren hatten. Es sollten Jahre vergehen, bis es mich wieder in die Stadt an der Spree verschlagen hatte. Andere Fälle hatten mich beansprucht, und das Auftauchen des Schwarzen Tods hatte dazu beigetragen, dass ich Marina einstweilen vergessen hatte.

Immerhin hatte es sich unterm Strich dann doch nur um einen, für meine Verhältnisse, gewöhnlichen Fall mit herkömmlichen Vampiren gehandelt. Obwohl sie die ersten gewesen waren, die bei Sonnenlicht hatten existieren können. Nur gegen geweihte Silberkugeln, Eichenbolzen und fließendes Wasser waren sie nicht gefeit gewesen.

»Sieh ihn dir an! Ist er nicht süß, wie er da in Erinnerungen schwelgt?«

Ich hob den Kopf von den eng geschriebenen Zeilen und sah Glenda und Suko in der Tür zum Vorzimmer stehen und mich beobachten. Der schwarze Haarschopf unserer Sekretärin lugte um den Türsturz herum, während Suko im Rahmen lehnte und einen Becher in der Hand hielt, in den er einen Teebeutel tunkte, als würde er für die Reklame üben.

»Ihr seid ja bloß neidisch, weil sich an euch keiner erinnert und ihr keine Postkarten bekommt.«

»Das wird es sein«, erwiderte mein Freund und Kollege und balancierte die Tasse zu seinem Arbeitsplatz, der dem Meinen direkt gegenüberlag.

Glenda folgte ihm und nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Ich betrachtete sie unter hochgezogenen Augenbrauen und bewunderte ihre Sommergarderobe.

Kniehohe Stiefel und ein luftiges Kleid aus blauem Stoff mit weißen Blüten. Über den Schultern trug sie eine dünne graue Strickjacke, und wieder musste ich anerkennen, dass Glenda einfach alles tragen konnte, obwohl sie ja auch keine Neunzehn mehr war. Zu jener Zeit, als ich Marina Held kennenlernte, war sie tatsächlich nicht mehr gewesen als meine Sekretärin. Und jetzt … mir wurde schwindelig, wenn ich daran dachte, was alles in den letzten Jahren und Jahrzehnten passiert war.

Die Gegner waren gekommen und gegangen, so wie viele Freunde mittlerweile nicht mehr an unserer Seite weilten. Bei dem Fall mit dem Kreuzritter hatte mich beispielsweise Kommissar Will Mallmann unterstützt, der Jahre später als Dracula II zu meinen erbittertsten Feinden wurde.2)

Vielleicht war das ja der Grund, weshalb ich mich so über diese Karte freute. Weil es ein Gruß aus der Vergangenheit war, die ich trotz der Gefahren irgendwie unbeschwerter in Erinnerung hatte.

Damals hatte ich noch keine Ahnung davon gehabt, dass es mich einmal nach Atlantis verschlagen würde, dass es Dimensionen wie Aibon gab oder Dämonen wie den Schwarzen Tod und die Großen Alten. Ich hatte mich auch nicht mit Asmodis, Baphomet und Beelzebub herumschlagen müssen, geschweige denn mit Luzifer oder Lilith. Ich wusste weder, dass ich mehrere Male wiedergeboren wurde noch dass ich der Sohn des Lichts bin, dem es quasi in die Wiege gelegt worden war, gegen die Mächte der Finsternis zu kämpfen. Jane Collins war nicht durch Wikka und den Geist des Rippers zur mordenden Hexe geworden, und auch meine Eltern hatten beide noch gelebt und sich bester Gesundheit erfreut.

»Was schreibt sie denn?«, fragte Glenda und reckte den Hals.

Ich grinste. »Neugierig bist du dann doch, wie? Dabei dachte ich, du hättest die Karte längst gelesen.«

Sie machte ein empörtes Gesicht. »Also hör mal. Ich arbeite zwar als deine Sekretärin, aber ich weiß, was sich gehört. Ich habe lediglich nachgeguckt, an wen die Karte adressiert ist.«

»Und ob es einen Absender gibt«, murmelte Suko und fing sich einen bösen Blick von Glenda ein, sodass er sich schnell hinter seinem Computerbildschirm duckte.

»Verräter«, zischte sie. »Ja, gut, ich habe gesehen, dass die Karte mit Marina Held unterschrieben ist und sie sogar eine Handynummer aufgeschrieben hat.«

»So ist es. Und wenn du mir eine Tasse deines unverwechselbaren frisch gekochten Kaffees bringst, verrate ich dir noch mehr.«

»Das ist Erpressung!«

»Aus deinem Munde hört sich das gleich so durchtrieben an.«

»Ich kenne dich eben, mein Lieber«, rief sie, erhob sich aber und kehrte wenig später mit dem Gewünschten zurück.

»Also?«

»Also was?«

Sie verdrehte die Augen. »Himmel, lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen. Wer ist Marina Held, und was möchte sie?«

»Wie kommst du darauf, dass sie etwas möchte?«

»Weil sie dir sonst nicht ihre Handynummer aufgeschrieben hätte.«

»Okay, der Punkt geht an dich.« Ich erlöste meine Freunde aus der nagenden Ungewissheit und setzte sie über Marina ins Bild.

Glenda hatte damals zwar den Bericht getippt, aber die junge Frau persönlich nicht kennengelernt. Beide staunten daher nicht schlecht, als sie die Einzelheiten erfuhren.

»Donnerwetter, die Frau muss ja mächtig Eindruck bei dir hinterlassen haben, dass du dich an diesen Fall so gut erinnerst«, bemerkte Glenda spitz. »Mir sagt das alles nämlich gar nichts.«

»Ich kann mich auch nicht entsinnen, jemals von einer Marina Held gehört zu haben«, warf Suko ein.

Ich zuckte mit den Schultern. »Du kamst mit Bill erst ein paar Wochen später zurück, und danach hatten wir sofort auf diesem Rummelplatz zu tun, wo dir ordentlich eins übergebraten wurde. Und nicht zum letzten Mal, wie ich anmerken möchte. So was bleibt nicht ohne Folgen.«

Suko hob die Teetasse an die Lippen. »Du mich auch. Als ob ich der Einzige wäre. Umso mehr wundert es mich, dass du dich so gut an diese Fälle erinnerst, die ja wirklich schon Jahrzehnte zurückliegen.«

»Klärt das bitte später im Sandkasten, ja?«, schaltete sich Glenda ein und sah mich herausfordernd an. »Wirst du’s tun?«