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Das Bimmeln des Telefons riss Glenda Perkins aus der Konzentration.
Beiläufig angelte sie nach dem Hörer, vage hoffend, dass es keine große Sache war und es sich lediglich um eine Auskunft für eine andere Abteilung handelte.
Die Hoffnung zerbarst, kaum dass der Anrufer seinen ersten Satz beendet hatte.
"Murphy hier. Sind John Sinclair oder Suko im Haus? Ich glaube, ich bin da an einer Sache dran, die sie interessieren dürfte."
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Seitenzahl: 137
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Die Leichenfresser von nebenan
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: JTbookcovers/shutterstock
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-7277-9
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Die Leichenfresser von nebenan
von Ian Rolf Hill
Das Bimmeln des Telefons riss Glenda Perkins nur kurz aus der Konzentration, die sie für das Schreiben und Archivieren des letzten Berichts benötigte. Es war reine Routine, obgleich nicht langweilig. Dafür war der Inhalt viel zu brisant, faszinierend und teilweise auch verstörend. Manchmal wunderte sie sich darüber, wie normal das alles für sie geworden war. Dieses Mal jedoch nicht, da ärgerte sie sich einfach nur über die Störung von außen. Sie hatte gehofft, den Bericht vor Feierabend abliefern zu können.
Beiläufig angelte sie nach dem Hörer, vage hoffend, dass es keine große Sache war und es sich lediglich um eine Auskunft für eine andere Abteilung handelte.
Die Hoffnung zerbarst, kaum dass der Anrufer seinen ersten Satz beendet hatte.
»Murphy hier. Sind John Sinclair oder Suko im Haus? Ich glaube, ich bin da an einer Sache dran, die sie interessieren dürfte.«
»Nun macht schon! Kommt endlich in die Hufe! Wir sind sowieso schon spät dran, und ich hab keine Lust, zu spät zu kommen, nur weil ihr wieder herumtrödelt.« Carol Green biss sich auf die Unterlippe, schloss sekundenlang die Augen und zählte innerlich bis zehn.
Sie schaffte es gerade mal bis zur Vier, als das Geschrei sie alarmierte.
»Gib das her! Das ist meins!«
»Stimmt doch gar nicht. Das hat Oma mir geschenkt.«
Carol öffnete die Augen und beobachtete, wie ihre achtjährige Tochter Tina, den Rucksack bereits auf den Schultern, mit ausgestreckten Armen in die Höhe sprang und nach etwas angelte, das der zwei Jahre ältere Felix mühelos nach oben aus der Reichweite seiner Schwester hielt. Mit dem angewinkelten linken Ellenbogen hielt er sie auf Abstand und grinste frech in dem Wissen, dass Tina im Grunde recht hatte.
Unwillkürlich wurde Carol an Ted erinnert, ihren Mann, der vor fünf Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen war und sie mit den beiden Kindern allein gelassen hatte. Kein Wunder, dass Felix so zappelig und unaufmerksam war. ADHS nannten die Ärzte dieses Phänomen.
Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Ein Syndrom, das gefühlt bei jedem zweiten Kind diagnostiziert wurde.
Carol war innerlich in ein tiefes Loch gefallen, als der Leistungsknick von Felix in der Schule nicht länger ignoriert werden konnte und ein Arzt den Begriff in den Raum geworfen hatte. Bislang hatte die Dreiunddreißigjährige immer angenommen, ADHS wäre eine Modeerscheinung, die bei vernachlässigten Kindern aufträte, und sofort meldete sich ihr schlechtes Gewissen.
Ja, sie vernachlässigte ihre Kinder. Tag für Tag, von denen sie sechs in der Woche in zwei verschiedenen Jobs malochte, um das Geld für Miete, Essen und Schulbedarf aufzubringen. Die Wochenenden verbrachten die Geschwister meistens bei Carols Eltern auf dem Land, in einem kleinen Kaff namens Aldbury, gut eine Stunde Autofahrt von London entfernt.
Natürlich hätte sie auch mit Tina und Felix dort hinziehen können, doch zum einen gab es dort kaum Arbeit für sie, und zum anderen wohnten die beiden Kids gerne in der Stadt. Hier gingen sie zur Schule, hatten Freunde, und bislang hatte Mister Lexington, der zwei Etagen tiefer im Hochparterre lebte, auch immer ein Auge auf die Kinder gehabt, wenn diese nach Hause kamen.
Das vorgekochte Mittagessen brachte Carol stets am Morgen vorbei, damit er es am Nachmittag lediglich aufzuwärmen brauchte. Doch das war vor Mister Lexingtons OP gewesen, und seitdem war die ohnehin schon komplizierte Situation noch vertrackter geworden …
Und das musste sie ihren beiden Sprösslingen erst einmal beibringen.
Doch eins nach dem anderen. Zunächst musste sie dafür sorgen, dass der Streit nicht eskalierte. Mit schnellen Schritten lief sie auf den Küchentisch zu, gegen den Felix lehnte und den Oberkörper über die Platte zurückbog. Zum Glück war er noch nicht annähernd so groß wie Ted, sodass es Carol keine Mühe bereitete, ihm den Fidget Spinner aus der Hand zu nehmen.
Sie hasste dieses Ding, das ihre Mutter in der gut gemeinten Absicht verschenkt hatte, damit es Felix half, seine Energien in geordnete Bahnen zu lenken. Fidget Spinner seien bei ADHS therapeutisch wirksam, habe sie gelesen. Carol konnte angesichts solcher Aussagen nur die Nase rümpfen.
Therapeutisch wirksam – pah!
Zwar war ihre Mutter weitsichtig genug gewesen, beiden Kindern ein solches Spielzeug zu schenken, doch natürlich hatte Felix seines schon wenige Tage später verbummelt und sich einfach das seiner kleineren Schwester geschnappt.
»Schluss damit!«, rief sie und schob den Fidget Spinner in die Außentasche ihrer Jacke.
»Aber Mum, das ist wirklich meiner«, protestierte Tina und Tränen glitzerten in ihren Augen. Das fehlte ihr gerade, dass ihre Tochter einen hysterischen Anfall bekam. Für so was ist sie doch eigentlich viel zu jung, oder?, dachte Carol mürrisch.
»Mir egal. In der Schule braucht ihr den sowieso nicht und jetzt Abmarsch.«
»Immer bist du auf seiner Seite«, schrie Tina, wirbelte auf der Stelle herum und stürmte aus der Küche durch die schmale Diele ins Treppenhaus. Wuchtig schlug sie die Wohnungstür hinter sich ins Schloss. Felix blieb ihr dicht auf den Fersen. Allerdings weniger aus Gehorsam der Mutter gegenüber oder weil er Tina trösten wollte, im Gegenteil. Ihm ging es lediglich darum, seiner Schwester hinterherzubrüllen, dass das überhaupt nicht stimme und sie eine dämliche Zimtzicke sei.
Carol seufzte schwer und fühlte sich unendlich müde. Langsam folgte sie ihrem Nachwuchs die Treppe hinunter, wo ihr Golf, den sie sich nur mit der Unterstützung ihres Dads leisten konnte, auf dem Bürgersteig parkte.
Tina und Felix standen sich an der Motorhaube gegenüber und beharkten sich gegenseitig mit Beschimpfungen. Eine gewisse Kreativität in der Wahl ihrer Worte konnte sie beiden nicht abstreiten, wenngleich sie sich wünschte, dass sie diesen Einfallsreichtum in produktivere Bahnen lenken würden.
Sie entriegelte die Türen per Knopfdruck und scheuchte die Kinder ins Auto. »Rein mit euch und ich will während der Fahrt nichts mehr hören! Ist das klar?« Sie verlieh ihrer Stimme einen schneidenden Klang, der seine Wirkung zum Glück nicht verfehlte. Tina zog sich die Kapuze des Hoodies über den rotbraunen Wuschelkopf und verdrückte sich auf die Rückbank, wo sie demonstrativ die Arme vor der schmalen Brust verschränkte.
Da sie wusste, dass die beiden keine Ruhe geben würden, wenn Felix ebenfalls in den Fond kletterte, verfrachtete sie ihren Sohn kurzerhand auf den Beifahrersitz. Er war für sein Alter glücklicherweise groß genug dafür.
Bevor sie sich hinter das Steuer klemmte, reichte sie Tina ihre Handtasche. »Nimmst du sie bitte mal?«, fragte sie und hätte fast mit den Zähnen geknirscht, als ihre Tochter demonstrativ aus dem gegenüberliegenden Fenster starrte und blind nach dem Griff der Tasche tastete, den sie natürlich mehrfach verfehlte.
»Tina, bitte. Ich weiß, dass das Ding dir gehört, aber einer muss jetzt einfach der Erwachsenere sein.«
Immerhin erreichte sie, dass ihre Tochter die Handtasche neben sich auf den Rücksitz stellte, provozierte aber gleichzeitig einen Proteststurm ihres Sohnes.
»Ich bin viel älter und größer als dieses Baby«, rief er zornig und brachte das Fass damit zum überlaufen.
Tina kreischte auf und wollte ihrem Bruder tatsächlich die Handtasche an den Kopf hämmern, was Carol im letzten Moment verhinderte.
»Es reicht!«, brüllte sie und fühlte die Ader an ihrer Schläfe dick hervortreten. »Ich hab jetzt endgültig die Schnauze voll. Noch ein Wort, und ihr geht zu Fuß, und dieses dämliche Spielzeug fliegt in den Müll. Kapiert?«
Die Geschwister beschlossen zu schweigen, was Carol nur recht sein konnte.
Auf dem Weg durch den morgendlichen Verkehr, erkundigte sich Felix schließlich nach Mister Lexington. »Können wir nachher wieder zu ihm?«
Carol atmete tief durch die Nase ein und schüttelte den Kopf. »Nein, er ist erst vorgestern aus dem Krankenhaus zurückgekommen. Es geht ihm zwar gemessen an den Umständen gut, aber was Mister Lexington jetzt braucht ist Ruhe und keine verzogenen Gören, die seine Wohnung auf den Kopf stellen.«
»Aber wir sind doch ruhig«, behauptete Felix im Brustton der Überzeugung, und Carol konnte gar nicht anders, als höhnisch zu lachen. »Ha, ha, der war gut. Das hab ich ja gerade gesehen wie ruhig ihr beide seid.«
»Das liegt doch nur an dem Baby da hinten.«
»Du bist doch das Baby, du blöder Mongo.«
»Tina!«, stieß Carol entrüstet hervor und drehte sich zu ihrer Tochter um. »Das nimmst du auf der Stelle …«
»Mum!«, schrie Felix und Carol fuhr wieder herum und trat heftig auf die Bremse. Fast hätte sie die rote Ampel überfahren, wenn ihr Sohn sie nicht rechtzeitig gewarnt hätte.
»Das reicht!«, rief sie. »Ihr geht nach der Schule direkt zu den Mitchells.«
»Was?«, kam es fast gleichzeitig aus den Mündern ihrer beiden Kinder. »Nein, Mummy, bitte nicht«, quengelte Tina. »Nicht zu den Mitchells.«
»Ja, echt Mum. Die gehen gar nicht.«
Carol runzelte die Stirn und fuhr wieder an, als die Ampel auf Grün sprang. »Ach, plötzlich seid ihr euch also einig, ja? Hätte ich das gewusst, hätte ich die Mitchells schon viel früher gefragt, ob sie auf euch aufpassen.«
»Bitte Mummy, lass uns bei Mister Lexington bleiben. Wir versprechen auch, uns zu vertragen. Bitte Mum!« Tinas Stimme zitterte sogar leicht, doch Carol beschloss, standhaft zu bleiben. Selbst als Felix vorschlug, so lange in der Schule zu warten, bis sie sie wieder abholte.
»Kommt gar nicht infrage. Ich arbeite bis zwanzig Uhr. Ihr nehmt den Bus und geht zu den Mitchells, und dabei bleibt es!«
»Aber wir kennen die doch kaum!« Tina wagte einen letzten Versuch, biss jedoch weiter auf Granit.
»Ich habe mich mit ihnen unterhalten und hatte den Eindruck, dass sie sehr nett seien. Vielleicht ein wenig altmodisch, aber das ist vielleicht auch nicht das Schlechteste für euch zwei.«
»Aber die schwitzen ständig, obwohl es überhaupt nicht mehr warm ist«, warf Felix ein.
»Ja, und sie stinken wie die Pest«, setzte Tina noch einen oben drauf.
»So etwas sagt man nicht. Das ist unhöflich«, tadelte Carol ihre Tochter. »Das ist ein Drüsenproblem oder so, hat Mister Mitchell gesagt. Dafür können sie nichts. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören. Ihr sollt schließlich nicht bei ihnen einziehen. Außerdem werden sie euch ja nicht gleich auffressen.«
☆
»Ich will da nicht hin, Felix! Die Mitchells sind … sind …« Tina suchte nach dem richtigen Wort, und ihr älterer Bruder half ihr aus, denn ihm ging es schließlich keinen Deut besser.
»Gruselig!«
»Ja, gruselig sind sie. Wie die uns immer angucken.« Tina zog die schmalen Schultern hoch und fröstelte.
Nebeneinander schlurfte das Geschwisterpaar über den Bordstein nach Hause. Sie hatten beide schon früh Schulschluss gehabt, und es war gerade mal halb drei Uhr nachmittags. Und obwohl sie sich vor den Mitchells ekelten, wollte keiner von ihnen noch fünf Stunden an der Schule herumlungern.
Was sollten sie dort auch machen, so ganz allein? Niemand von Felix’ Freunden war geblieben, und er konnte sich ja schlecht mit seiner kleinen Schwester abgeben. Die anderen würden ihn nur auslachen und als Babysitter hänseln. Er kam sich so schon doof genug vor, dass er sie auf dem Rückweg mitnehmen musste. Selbst wenn er dafür eine Schulstunde warten musste, weil die kleine Streberin ausnahmsweise länger Unterricht hatte und nicht schwänzen wollte. Könnte ja auch einfach mal Bauchschmerzen kriegen, die olle Memme.
Aber versprochen war versprochen und wurde nicht gebrochen.
Und an sein Ehrenwort hielt sich Felix, da mochte kommen was wolle.
Es war kalt und aus den Wolken rieselte feiner Sprühregen, der sein dichtes dunkelblondes Haar längst durchnässt hatte. Tina trug ein durchsichtiges Regencape, unter das sie sogar ihren Rucksack gesteckt hatte, damit ihre wertvollen Bücher nicht nass wurden. Das Knistern und Rascheln des Plastiks, wenn sie sich bewegte, nervte Felix. Seine Hände und Füße zitterten, als stünden sie unter Strom. Das Atmen fiel ihm schwer, und je länger er ruhig neben seiner Schwester herging, desto mehr bekam er das Gefühl, jeden Augenblick platzen zu müssen.
Das Gewicht des Tornisters drückte auf die Schultern und gegen den Rücken dicht über dem Po. Felix wusste nicht, was er auf die Worte seiner Schwester erwidern sollte. Ihm ging es ja nicht anders, aber das konnte er unmöglich zugeben. Unvermittelt schubste er Tina an die Gitterstäbe des Zauns, der das Grundstück umgab, das sie gerade passierten.
»Wer zuerst zu Hause ist, hat gewonnen!«, brüllte er und rannte einfach drauflos.
Tina schrie etwas hinter ihm her, das er nicht verstand. Es war ihm auch egal, was die kleine Heulsuse nun schon wieder für ein Problem hatte.
Eine ältere Frau, die ihren fetten Mops ausführte, der grunzend und schnaufend über den Gehweg tapste, brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. »Pass doch auf, du Rotzlöffel!«, rief sie hinter ihm her, aber auch das kümmerte Felix nicht.
Er hatte nur sein Ziel vor Augen. Das Haus mit der hässlichen schmutzig gelben Fassade, in dem sie schon eine Ewigkeit wohnten. Seit Dad …
Der Tornister mit den Büchern hämmerte gegen seinen Rücken, schien ihn festhalten und auf den Boden ziehen zu wollen, doch Felix würde nicht aufgeben. Er war wütend, denn er hasste dieses Haus aus tiefstem Herzen.
Aus vollem Lauf sprang er gegen die Mülltonne neben der Treppe. Scheppernd fiel sie auf den Bordstein und erbrach ihren Inhalt in einem stinkenden Schwall auf den feucht glänzenden Asphalt. Ein dumpfer Schmerz zuckte durch sein Bein. Die Tonne war viel schwerer gewesen, als er angenommen hatte. Mehrere Plastiksäcke rutschten aus dem Inneren, dazwischen leere Getränkepackungen, Bananenschalen und …
Felix runzelte die Stirn und näherte sich langsam der offenen Mülltonne, die den Blick auf den restlichen Inhalt verbarg. Sein Atem ging schnell, und sein Herz raste. Trotz der Kälte war ihm warm geworden. Er trug ja immer noch die Jacke der Schuluniform und den schweren Tornister.
Tapsende Schritte näherten sich ihm von hinten. Er hörte das schluchzende Keuchen von Tina.
»Du …«, japste sie. »Du bist so ein … Arsch. Das sage ich alles Mum.«
Normalerweise hätte Felix eine solche Beschimpfung nicht auf sich sitzen gelassen, doch der Anblick der gelblich weißen Dinger, die zwischen dem Müll herumlagen, lenkte ihn ab. Waren das Knochen? Er blinzelte mehrmals, als ihm das Wasser aus den Haaren ins Gesicht rann. Hastig wischte er sich mit dem Ärmel über die Augen.
»Felix?« Tina stapfte auf ihn zu, zerrte an seiner Jacke. Wütend fuhr er herum und schubste sie weg.
»Du bist so gemein«, rief sie, aber Felix kümmerte sich gar nicht um sie. Er ging um die Mülltonne herum und erblickte einen großen Knochen, der wie ein Dreieck geformt war, und an dem noch blutige Fleischfetzen klebten. Felix erkannte die gebogenen Rippen eines Brustkorbs, die in einen nassen schwarzen Lappen gewickelt waren.
Plötzlich bekam er Bauchschmerzen, und sein Hals wurde so eng, dass er nicht mehr schlucken konnte.
»Felix, was ist mit dir?« Tinas Stimme klang nicht länger wütend, sondern ängstlich. Sie folgte ihrem Bruder, der wortlos auf die Reste des Kadavers starrte, der zur Hälfte aus der Mülltonne gerutscht war. Die geweiteten Augen von King glotzten dem Jungen entgegen.
Dass es sich bei den Überresten um den Rottweiler von Emmett Smith handelte, war nur anhand der blutigen Schnauze und der Reste des dunklen Pelzes erkennbar, die lose an dem fleischlosen Schädel klebten, in denen die Augen wie trübe Murmeln ruhten.
☆
Felix würgte, und Tina begann wie am Spieß zu kreischen. Niemand kümmerte sich um die beiden Kinder. Die wenigen Fahrzeuge rauschten über die Straße, und außer ihnen befand sich kein weiterer Passant auf den Gehwegen. Die dicke Frau und ihr Mops waren längst verschwunden, und auch die Fenster der umliegenden Gebäude blieben verschlossen.
Tinas Schreie schmerzten Felix in den Ohren. Sie waren so hoch und schrill wie der Feueralarm, als er versucht hatte, Popcorn in der Pfanne zu braten. Tina rannte die Treppe zum Haus hinauf und drückte mehrmals auf eine der Klingeln rechts neben dem Eingang. Felix wich langsam vor Kings Überresten zurück, doch erst als er das Summen vernahm, mit dem die Tür geöffnet wurde, kam wieder Leben in seinen Körper.
Er sprang die Treppe hinauf und schaffte es gerade noch rechtzeitig, die Tür aufzustoßen, bevor sie ins Schloss fiel und ihn ausgesperrt hätte. Der Flur dahinter lag im Dunkeln und er bildete sich ein, durch den typisch muffigen Geruch hindurch den süßlichen, Übelkeit erregenden Gestank der Mitchells wahrzunehmen.