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"Hilf mir!"
Johnny Conolly schlug ruckartig die Augen auf.
Er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren und sich daran zu erinnern, wo er sich befand. Die Finsternis der Nacht wurde durch das silbrige Mondlicht, das wie ein Schleier durch das schmale Erkerfenster fiel, aufgeweicht.
Noch während er darüber nachdachte, ob er den Hilferuf geträumt hatte, drang die Stimme abermals in sein Bewusstsein.
"Hilf mir, Johnny! Bitte!"
Wie von der Tarantel gestochen richtete er sich auf, sprang aus dem Bett und eilte auf nackten Sohlen zum Fenster. Obwohl die Worte nicht akustisch an seine Ohren drangen, sondern direkt im Kopf entstanden, wusste er, dass die Ruferin draußen auf der Straße stand.
Sein Herz schlug schneller, denn er hatte die Stimme längst erkannt.
Trotzdem war es ein Schock für ihn, als er sie tatsächlich zu Gesicht bekam.
Wie ein Hauch glitt ihm ihr Name über die Lippen.
"Nadine!"
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Seitenzahl: 152
Veröffentlichungsjahr: 2018
Cover
Impressum
Avalons Geistersumpf
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Mykhailo Skop/shutterstock
eBook-Produktion: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-7462-9
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
www.john-sinclair.de
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
www.bastei.de
Avalons Geistersumpf
von Ian Rolf Hill
»Hilf mir!«
Johnny Conolly schlug ruckartig die Augen auf.
Er brauchte einige Sekunden, um sich zu orientieren und sich daran zu erinnern, wo er sich befand. Die Finsternis der Nacht wurde durch das silbrige Mondlicht, das wie ein Schleier durch das schmale Erkerfenster fiel, aufgeweicht.
Noch während er darüber nachdachte, ob er den Hilferuf geträumt hatte, drang die Stimme abermals in sein Bewusstsein.
»Hilf mir, Johnny! Bitte!«
Wie von der Tarantel gestochen richtete er sich auf, sprang aus dem Bett und eilte auf nackten Sohlen zum Fenster. Obwohl die Worte nicht akustisch an seine Ohren drangen, sondern direkt im Kopf entstanden, wusste er, dass die Ruferin draußen auf der Straße stand.
Sein Herz schlug schneller, denn er hatte die Stimme längst erkannt.
Trotzdem war es ein Schock für ihn, als er sie tatsächlich zu Gesicht bekam.
Wie ein Hauch glitt ihm ihr Name über die Lippen.
»Nadine!«
Sie stand unter dem Fenster und sah zu ihm hoch.
Ihr rotbraunes Haar fiel offen auf die Schultern und umrahmte das bleiche Gesicht, aus dem sämtliche Farbe gewichen war. Die Augen lagen tief in den Höhlen, und die eingefallenen Wangen verliehen dem Gesicht etwas Totenkopfartiges.
Das wallende weiße Gewand, das wie ein Leichenhemd um ihren schlanken Leib wehte, verstärkte den geisterhaften Eindruck, den die Frau auf den jungen Mann machte.
Rein äußerlich hatte die Erscheinung nur wenig mit der Person gemein, die Johnny in Erinnerung hatte und die er anhand der Stimme einwandfrei identifiziert hatte.
Nadine Berger!
Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und die Augen brannten.
Wie lange hatte er sie nicht mehr gesehen?
Jahre war es her. Noch bevor es ihn in die Anderswelt verschlagen hatte, aus der ihm erst vor Kurzem die Flucht geglückt war.
Obwohl er die Entscheidung nicht freiwillig getroffen hatte.
Denn auch in Twilight City hatte er Freunde gefunden, sogar eine Art Familie. Er hatte geliebt und gelitten, und mehr als einmal hatte er nachts wach gelegen und sich zurück in seine eigene Realität gesehnt. Und jetzt, wo er wieder hier war, fühlte er Sehnsucht nach der Anderswelt.
Oder nur nach Abby Baldwin?
Die Frage beschäftigte ihn, seit er zurückgekehrt war. Der Gedanke an die junge Hexe, der er kurz vor der Rückkehr seine Liebe gestanden hatte, ließ ihn seitdem nicht mehr los. Sie zerfraß ihn innerlich, machte ihn unruhig und führte zu ständiger Unrast. So sehr, dass er wie ein Besessener Trost bei anderen Menschen suchte, so wie bei Cathy oder zuletzt in den Armen von Susan Lester. Susan, die von einem mörderischen Gerippe getötet worden war. Satans Guru hatte ihr bei lebendigem Leib das Herz aus der Brust gerissen, und das vor Johnnys Augen.
Dieses Erlebnis hatte ihn in seinen Grundfesten erschüttert. Es hatte ihm auf drastische Weise bewiesen, dass er nirgends Ruhe finden würde, egal in welcher Dimension oder Welt er sich befand. Er war in eine tiefe Depression gestürzt, bis er schließlich einen Entschluss gefasst hatte. Es hatte Kraft gekostet, ihn in die Tat umzusetzen, doch es hatte sich gelohnt.
Die Idee, ausgerechnet nach Egloskerry zu fahren, wo er seine Ex-Freundin Laura Patterson und ihren Bruder Timothy besuchte, stammte dagegen nicht von ihm selbst. Letztendlich war es seine Mutter Sheila gewesen, die ihn dazu ermutigt hatte. Nicht allein deshalb, weil Laura sich nach seinem Verschwinden darum bemüht hatte, herauszufinden, was mit ihm passiert war.
Erst als Sheila Conolly von den Toten zurückgekehrt war, hatte Laura eine Antwort auf ihre Anrufe und Mails bekommen, auch wenn sie bis heute nicht die ganze Wahrheit erfahren hatte.
Die Story von dem Zeugenschutzprogramm, in das Sheila angeblich aufgenommen worden war, und seinem eigenen Auslands-Trip, hatte sie unkommentiert hingenommen und akzeptiert. Möglicherweise ahnte sie, dass es lediglich eine schlechte Ausrede war, doch Laura war klug genug nicht nachzubohren.
Kurz nach ihrer ersten Konfrontation mit der Welt des Übernatürlichen, die ihre Eltern das Leben gekostet hatte, hatte sie Johnny zu verstehen gegeben, dass sie damit nichts zu tun haben wollte.1) Allein deshalb hatte sie die Geschichten vom Zeugenschutz und Aussteigerdasein dankend angenommen.
Es war eben nicht jeder zum Geisterjäger geboren …
Trotzdem hatte sie sich ehrlich gefreut, als er sich bei ihr gemeldet hatte, um sie und ihren Bruder für ein paar Tage zu besuchen. In der Einsamkeit von Cornwall hoffte er, Frieden zu finden. Mit sich in Einklang zu kommen und die trüben Gedanken abzuschütteln. Weg aus London, aufs Land fahren und einfach mal so tun, als wäre all das nicht passiert.
Der Tod seiner Mutter, Susan Lesters grausames Ende, der Trip in die Anderswelt, Abby …
Nein, Abby konnte er einfach nicht ignorieren. Und dass man vor seinen Problemen nicht davonlaufen konnte, wurde ihm jetzt wieder drastisch vor Augen geführt. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass der Geist von Nadine Berger allein seinetwegen erschienen war.
Natürlich, schließlich rief sie sogar um Hilfe.
Der Blick der ehemaligen Schauspielerin bohrte sich in den seinen. Dann hob sie die Hand und winkte ihm zu. Die nächsten Worte waren wie ein Hauch, der ihn wie ein eiskalter Nebelschleier erreichte und ihn frösteln ließ.
»Komm mit mir!«
Johnny keuchte und beobachtete wie sein Atem auf der Scheibe beschlug.
Für die Dauer eines Lidschlags verschwand die geisterhafte Gestalt von Nadine Berger hinter dem blinden Fleck aus kondensierter Feuchtigkeit. Als er ihn wegwischte, war die Schauspielerin verschwunden.
Heißer Schreck fuhr ihm durch die Glieder, brachte sein Herz zum Rasen. In fieberhafter Eile drehte er sich um und suchte seine Klamotten zusammen. Während er sich anzog, wirbelten die Gedanken unkontrolliert durch sein Gehirn.
Nadine Berger war einst eine Schauspielerin gewesen, die von einem Dämon getötet worden war. Nur hatte ihre Seele nie den Weg ins Jenseits gefunden, sondern war durch die Magie von Fenris, dem Götterwolf, in den Körper einer Wölfin gefahren, die menschliche Augen besessen hatte.
Bei den Conollys hatte Nadine eine neue Heimat gefunden und war zur Beschützerin des kleinen Johnny geworden. Bis sie einen Weg fand, ihren alten Körper wiederzubekommen und ins menschliche Dasein zurückzukehren. Durch den Schädel des Riesen Brân war sie auf die Nebelinsel Avalon gelangt, wo sie in seinem Kessel wiedergeboren worden war. Jener Kessel, der auch Sheila Conolly ins Leben zurückgeholt hatte.
Der Kreis schließt sich, dachte Johnny, als er die hohen Wanderschuhe zuschnürte.
Aber erst nachdem Nadine von einem mächtigen Vampir namens Dracula II zur Untoten gemacht worden war, hatte sie sich entschieden, auf Avalon zu bleiben, und war zur Hüterin des Dunklen Grals geworden.
Trotzdem fungierte sie weiterhin als sein persönlicher Schutzengel, wobei sie diese Protektion durchaus auf die gesamte Familie ausweitete. Vor allem, wenn es um die Magie der Nebelinsel ging.
Seine Eltern hatten ihm von ihrer letzten Begegnung mit Nadine erzählt, und wie sie ihnen als Geist in seinem Zimmer im Londoner Bungalow erschienen war. Dort hatte sie einen goldenen Apfel als Zeichen der Hoffnung hinterlassen. Gleichzeitig hatte sie mitgeteilt, dass es ihr nicht mehr möglich war, Avalon zu verlassen.
Merlin, der Herr der Nebelinsel, hatte sie für ihren vermeintlichen Verrat bestraft, denn er machte sie für den Angriff der Hölle unmittelbar verantwortlich. Und jetzt erschien sie ausgerechnet hier in Egloskerry, um ihn um Hilfe zu bitten?
Das mochte alles Mögliche sein, aber gewiss kein Zufall.
Johnny schnappte sich den gefütterten Parka, denn um diese Jahreszeit war es bereits tagsüber empfindlich kalt. Noch ließ der Schnee auf sich warten, dafür gab es reichlich Bodenfrost, und Nebelschwaden krochen aus dem nahe gelegenen Sumpf durch die engen Gassen des verschlafenen Dorfes.
Zuletzt steckte Johnny die Beretta mit den geweihten Silberkugeln ein. Nach den Erlebnissen in Twilight City und in Italien, wo er den Feuerfluch der Gaukler gebrochen hatte, verzichtete er nur ungern auf die Pistole. Das gebrannte Kind scheute das Feuer. Besser die Waffe dabei haben und nicht brauchen, als brauchen und nicht dabei haben.
Bevor er das Zimmer verließ, griff er nach der Stabtaschenlampe, die er extra für diesen Ausflug mitgenommen hatte. Er hatte Timothy versprochen, mit ihm und dessen bester Freundin Imogen eine Nachtwanderung zur nahe gelegenen Festungskirche zu unternehmen. Jetzt kam ihm die Taschenlampe zugute.
Behutsam öffnete er die Tür und lauschte in die Dunkelheit. Kein Laut drang an seine Ohren, und so huschte er in den Flur, wo er die Tür leise hinter sich schloss, bevor er die Treppe ansteuerte. So vorsichtig wie möglich schlich er nach unten, sich dicht an der Wand haltend, damit sich das Knarren der altersschwachen Dielen in Grenzen hielt.
Unter keinen Umständen wollte er Laura oder Timothy wecken.
Zum Glück war er der einzige Gast, auch wenn er dies für seine Freundin aufrichtig bedauerte, denn die Pension lief mehr schlecht als recht. Egloskerry war eben nicht Glastonbury und zog nur wenige Touristen an.
Einen Haustürschlüssel hatte Laura ihm bereits am ersten Tag ausgehändigt. Immerhin gehörte er fast schon zur Familie, hatte sie gesagt und ihm dabei zugezwinkert. Gar nicht mal doppeldeutig oder anzüglich. Und gerade diese Unbefangenheit war es gewesen, die ihn in Verlegenheit gebracht hatte und jetzt sein schlechtes Gewissen weckte.
Schließlich war der Geist von Nadine allein seinetwegen erschienen, und er würde es sich nie verzeihen, wenn Laura oder Tim etwas passierte. Denn dass Nadine sich ausgerechnet hier und heute zeigte, musste einen bestimmten Grund haben. Umso wichtiger war es, dass er herausfand, was sie von ihm wollte.
Das Klicken des Türschlosses klang in seinen Ohren so laut wie ein Pistolenschuss. Er verharrte, zählte in Gedanken bis zehn und atmete erleichtert aus, als sich weiterhin nichts rührte.
Feuchtkalte Luft quoll ihm entgegen, als er die Tür aufzog und ins Freie huschte. Schaudernd drehte er sich um und zog die Tür sachte ins Schloss. Bevor er den Schlüssel hineinstecken und umdrehen konnte, bemerkte er eine Bewegung aus dem Augenwinkel.
Er hob den Kopf und erstarrte. Eine Gänsehaut rieselte ihm über den Rücken.
Keine fünf Schritte stand sie vor ihm und lächelte traurig.
Nadine Berger!
Sie sah aus wie ein Gespenst. Ihre Erscheinung war sogar leicht durchscheinend, und der Druck in seinem Hals wurde noch stärker, schnürte ihm die Kehle zu.
War sie in der Zwischenzeit gestorben? Hatte Merlin sie für den vermeintlichen Verrat getötet und ihr Leben im Austausch für das von Sheila Conolly genommen?
Johnny wollte sie ansprechen, doch kein Laut drang über seine Lippen.
Dafür forderte Nadine ihn abermals auf, ihr zu folgen.
»Komm mit mir!«, flüsterte sie, drehte sich um und schwebte hinein in die dichter werdenden Nebelschwaden.
Johnny nahm die Verfolgung auf. Nicht ahnend, dass sein nächtlicher Ausflug längst bemerkt worden war.
☆
Ausgerechnet Timmy hatte mitbekommen, wie sich Johnny aus dem Haus schlich.
Der Junge war wütend und enttäuscht, dass ihn Lauras Freund nicht geweckt hatte. Dabei hatte der ihm und seiner Freundin Imogen doch versprochen, eine Nachtwanderung zu machen.
Und jetzt stahl er sich ganz alleine davon.
Tim fühlte sich von Johnny verraten und im Stich gelassen. Ein schmerzhafter Druck in der Brust trieb ihm das Wasser in die Augen. Aber er war nun mal ein Mann, und Männer weinten nicht. Auch wenn Laura ihm erzählt hatte, dass dies Unsinn war.
Tapfer schluckte der Junge seine Enttäuschung hinunter, und plötzlich fiel ihm ein, dass Johnny ja erst in der nächsten Nacht mit ihm auf Wanderschaft gehen wollte.
Wahrscheinlich wollte er bloß den richtigen Weg auskundschaften, damit er sich nicht verlief.
Dass er dies am helllichten Tag weitaus besser und gefahrloser hätte machen können, daran dachte der Elfjährige nicht. Er war mit den Gedanken längst woanders. Seine Abenteuerlust war geweckt, und jetzt war er froh, die dicke Herbstkleidung für den nächsten Tag schon bereitgelegt zu haben. Er machte sich nicht die Mühe, aus dem Schlafanzug herauszuschlüpfen, sondern zog Cordhose und Pullover einfach drüber.
Schnell noch die Socken überstreifen und ab nach unten. Sein Parka hing an der Garderobe, wo auch die Gummistiefel standen. Dort musste er ohnehin vorbei und auf Strümpfen würde ihn niemand hören. Laura sowieso nicht. Wenn die schlief, konnte neben ihr eine Bombe hochgehen, ohne dass sie etwas merkte.
Tim drückte sein Gesicht gegen den offenen Türspalt und horchte in die Dunkelheit.
Im Erdgeschoss drehte sich der Schlüssel im Türschloss. Da wusste er, dass er keine Zeit verlieren durfte. Er schlüpfte durch den Spalt und huschte die Treppe hinab.
Er sah gerade noch, wie die Eingangstür hinter Johnny zufiel, und befürchtete schon, dass dieser von außen abschließen würde. Doch das geschah zum Glück nicht. Stattdessen beobachtete er, wie Johnny am rechten Flurfenster vorbeiging.
Tim riss den Parka von der Garderobe, die links neben der Eingangstür an der Wand hing, und schlüpfte in die Gummistiefel. Er nahm sich nicht die Zeit, die Hosenaufschläge glattzuziehen, so wie es ihm Mama und Laura gezeigt hatten. Es war zwar unbequem mit der hochgeschobenen Hose in den hohen Stiefel zu laufen, aber immer noch besser, als Johnny aus den Augen zu verlieren.
Leise öffnete er die Tür und reckte den Kopf hinaus. Die Kälte der Nacht störte ihn nicht. Im Gegenteil, er genoss die feuchte Kühle auf der erhitzten Haut.
Ihm war klar, dass Laura sauer sein würde, wenn sie herausbekam, was er hier tat. Aber genauso sicher war er, dass Johnny ihm beistehen würde. Schließlich wollte der ja sowieso mit ihm ins Moor. Er durfte seinen älteren Freund nur nicht aus den Augen verlieren, dann war alles paletti.
Die Aufregung machte Timmy immun gegen die Kälte. Sein Herz klopfte bis zum Hals und hätte er in einen Spiegel geschaut, hätte er sehen können, wie seine Wangen glühten.
Eben verschwand Johnny um die nächste Hausecke.
Timothy grinste.
Dort führte der Weg über die steinerne Treppe hinaus aus dem Dorf und direkt zu der Festungskirche und dem dahinterliegenden Sumpfland.
Nebel erschwerte die Sicht, aber wenigstens war es nicht stockdunkel, obwohl hier in Egloskerry nach Mitternacht die Straßenbeleuchtung abgeschaltet wurde. Der Vollmond spendete genügend Licht, sodass der Junge die Gestalt des Erwachsenen deutlich erkennen konnte.
Er sah sogar die große Taschenlampe in dessen Hand, die Johnny aber nicht einschaltete. Wie ein Dieb schlich sich sein Kumpel aus dem Dorf. Timothy musste sich beeilen, damit er nicht den Anschluss verlor.
Es sah schon schaurig aus, wie Johnny so heimlich, still und leise durch den Nebel huschte. Unwillkürlich dachte Tim an die alten Filme, die Laura ihm erlaubt hatte zu gucken. Sie waren uralt, aber unheimlich spannend. Zuletzt hatte er »The Hound of the Baskervilles« gesehen.
Auch darin war es um ein Moor gegangen, in dem ein riesiger Höllenhund sein Unwesen treiben sollte. Sherlock Holmes und Doktor Watson hatten das Monster schließlich erschossen.
Die Landschaft in dem Film hatte fast genauso ausgesehen wie hier. Timmy fröstelte, als er an die Tochter des Mannes dachte, der den Hund zum Töten abgerichtet hatte. Sie war am Ende in ein Sumpfloch gefallen und darin ertrunken.
Laura hatte ihm erzählt, dass das nur ein Film sei und man in der Wirklichkeit nicht so leicht im Moor versinken konnte. Nicht, dass ihn das beruhigt hätte.
Zugleich hatte er aber auch den Nervenkitzel genossen, den der Film in ihm ausgelöst hatte, und der Gedanke, dass jeden Moment das schaurige Geheul des Höllenhundes erklingen konnte, verursachte bei ihm eine Gänsehaut.
Ob Johnny wohl auch Angst hatte?
Nur ein kleines Bisschen vielleicht.
Nur warum sollte er dann ganz alleine ins Moor gehen?
Timothy verengte die Augen und blieb dicht hinter der Mauer stehen, die zu der schmalen Brücke führte, die sich bogenförmig über den Bach wölbte.
Sprach Johnny nicht mit jemandem?
Ja, er war sich sicher, dass Lauras Freund etwas sagte, konnte außer ihm aber niemanden sehen.
Das war irgendwie noch unheimlicher als Sumpflöcher und Höllenhunde.
Timothy überlegte, ob er Johnny ansprechen sollte, als dieser hinter einer Kurve verschwand. Der Elfjährige schrak zusammen und sprang auf. Wenn er sich nicht sputete, war sein Kumpel fort, und er würde einen ganzen Tag auf die Nachtwanderung warten müssen. Dass Imogen nicht dabei war, störte ihn momentan überhaupt nicht. Sie hätte wahrscheinlich sowieso nur gequengelt.
Viel schlimmer jedoch war, dass er ganz allein sein würde, und er war schon ziemlich weit von zu Hause entfernt. Und plötzlich wurde aus prickelndem Grusel drückende Angst.
Der Wind fuhr heulend durch die Wipfel der Bäume, fegte vereinzelt Blätter von den stellenweise entlaubten Ästen und Zweigen. Ein Vogel schrie, und Timothy riss die Augen auf. So schnell ihn seine Füße trugen, rannte er über die Brücke, bog um die Ecke und atmete erleichtert auf, als er Johnny wenige Meter vor sich sah.
Dieser ging mitten auf dem unbefestigten Feldweg, der direkt an der Festungskirche vorbeiführte, deren eckiger Turm sich schwarz und drohend vor dem nachtblauen Himmel abhob.
Der bleiche Vollmond stand schräg über dem zerfallenen Bauwerk.
Timothy begann zu frieren, als er beobachtete, wie Johnny den Weg entlangstiefelte. Wie ein Roboter, fuhr es ihm durch den Kopf. Dabei bewegte er sich relativ langsam, sodass Timmy keine Mühe hatte, Schritt zu halten.
Ob Johnny wohl in die Kirche gehen würde? Der Elfjährige wusste nicht, wie er das finden sollte. Der Bau war tagsüber schon unheimlich, was Timothy irgendwie sogar toll fand. Vor allem weil sie wirklich wie eine Kulisse zu einem jener alten Gruselfilme aussah.
Hinzu kamen die verwitterten Grabsteine, die zwischen dem dichten Gras aus dem Boden ragten. Die Vorstellung, dass sich bleiche Hände aus der Erde wühlten und die Toten wiederauferstanden, ließ es kalt über seinen Rücken laufen.
Er hatte schon Filme mit Zombies gesehen. Alte Schinken, obwohl »Die Nacht der lebenden Toten« wirklich gruselig war. Danach hatte er eine Woche lang nicht mehr schlafen können. Er hatte ja lieber den alten »Dracula« gucken wollen, doch Imogen hatte gemeint, dass der nur was für kleine Babys sei. An dem Abend hatte er bei seiner Spielkameradin übernachtet und zu dritt hatten sie sich den Schwarzweißfilm angeguckt.
Imogen, ihre Katze Bastet und er.
Na ja, eigentlich hatte Bastet die Hälfte davon verschlafen und einen sichtlich gelangweilten Eindruck gemacht. Im Gegensatz zu den beiden Kids.
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