John Sinclair 2114 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2114 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Als das Rascheln des Maschendrahtzauns ihn aus dem Schlaf riss, wusste Juri noch nicht, dass er gleich sterben würde.
Er blinzelte, konnte in der Dunkelheit aber keine Einzelheiten ausmachen. Die Welt um ihn herum bestand nur aus Schatten, von denen sich einer heftig bewegte und an dem Drahtgeflecht rüttelte, auf das das Licht des Mondes silbrige Reflexe warf.
Juri schnaubte und rappelte sich auf die Beine. Ein beißender Geruch alarmierte ihn und brachte sein Herz zum Rasen. In das Scheppern, mit dem der Eindringling sich Zugang verschaffte, mischte sich ein tiefes Knurren. Es war das letzte Geräusch, das Juri in seinem Leben hörte.
Er warf sich herum, wollte fliehen, doch die stinkende Kreatur war schneller. Ein mörderischer Schlag traf Juri in die Flanke, brach ihm die Rippen und presste ihm die Luft aus den Lungen. Aus seiner Kehle drang nur ein pfeifendes Wimmern.
Kurz darauf gruben sich hunderte rasiermesserscharfe Zähne hinein und beendeten sein Leiden ...

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Seitenzahl: 155

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Impressum

Carnegras Brut

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Néstor Taylor/Bassols

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7606-7

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Carnegras Brut

(1. Teil)

von Ian Rolf Hill

Als das Rascheln und Scheppern des Maschendrahtzauns ihn aus dem Schlaf riss, wusste Juri noch nicht, dass er gleich sterben würde.

Er blinzelte, konnte in der Dunkelheit aber keine Einzelheiten ausmachen. Selbst bei Tag hatte er bereits Mühe, seine Umwelt richtig wahrzunehmen. Das Alter und der viele Alkohol hatten ihren Tribut gefordert.

Die Welt um ihn herum bestand nur aus Schatten, von denen sich einer heftig bewegte und an dem Drahtgeflecht rüttelte, auf das das Licht des Mondes silbrige Reflexe warf.

Juri schnaubte und rappelte sich auf die Beine. Ein beißender Geruch alarmierte ihn und brachte sein Herz zum Rasen.

In das Scheppern, mit dem der Eindringling sich Zugang verschaffte, mischte sich ein tiefes Knurren. Es war das letzte Geräusch, das Juri in seinem Leben hörte.

Er warf sich herum, wollte fliehen, doch die stinkende Kreatur war schneller. Ein mörderischer Schlag traf Juri in die Flanke, brach ihm die Rippen und presste ihm die Luft aus den Lungen. Aus seiner Kehle drang nur ein pfeifendes Wimmern.

Kurz darauf gruben sich hunderte rasiermesserscharfe Zähne hinein und beendeten sein Leiden …

Bei dem gleichförmigen Rattern der Schmalspurbahn hätte Mira Velitschkova durchaus einschlafen können. Dass dies in ihrer über dreißigjährigen Dienstzeit noch nicht einmal vorgekommen war, hatte mehrere Gründe.

An erster Stelle stand ihr Pflichtgefühl. Wäre sie auch nur ein einziges Mal eingenickt, wäre ihre Karriere als Zugchefin der Rhodopenbahn umgehend beendet gewesen.

Dafür war ihre Funktion einfach zu wichtig.

Während der fünfstündigen Fahrt saß sie immer an demselben Fensterplatz, im dritten der insgesamt fünf Waggons. Von hier aus konnte sie in weiten Kurven Hindernisse auf der Strecke schneller sehen als Fidan, der Lokführer, und gegebenenfalls die Notbremse ziehen.

Die Fahrt führte oft durch tiefe Schluchten, und nicht selten kam es dabei zu Steinschlag.

Ein weiterer Grund dafür, dass Mira nicht wegdämmerte, war das beständige Ruckeln, mit dem die Waggons über die Gleise schaukelten. Der Zug hatte zwar gerade mal eine Reisegeschwindigkeit von fünfundzwanzig Stundenkilometern, doch die Schienen befanden sich einem altersbedingt eher schlechten Zustand.

Angst brauchte deshalb niemand zu haben. In ihrer gesamten Dienstzeit war noch nie ein Zug entgleist. Die geringe Geschwindigkeit sowie die Erfahrung und das Können des Bahnpersonals hatten bislang das Schlimmste verhindert.

Fidan und sie waren ein eingespieltes Team. Auch der Zugführer der alten Diesellok arbeitete schon seit achtzehn Jahren bei der Rhodopenbahn. Eine lange Zeit, in der man sich gut kennenlernte. So wie auch die meisten der Fahrgäste.

Von den Touristen einmal abgesehen gab es zahlreiche Menschen, denen die letzte Schmalspurbahn des Balkans die Existenz sicherte.

Dazu gehörten beispielsweise auch die vier alten Frauen aus dem winzigen Pomakendorf Svetino, die ihre Waren auf dem Markt in Welingrad verkaufen wollten. Zuleika, Basima, Iman und Olcay waren weit über Siebzig und waren schon mit der Rhodopenbahn gefahren, als Mira noch in die Windeln gemacht hatte.

Die Pomaken waren eine muslimische Minderheit und wohnten zumeist in winzigen Dörfern in den rauen Gebirgen des Balkans. Sie lebten von Landwirtschaft, Viehzucht und Kunsthandwerk. Die jüngere Generation fand mittlerweile auch in den großen Städten wie Sofia oder Plowdiw Arbeit, sodass nicht wenige Dörfer nur noch von den Alten bewohnt wurden, die nach und nach wegstarben.

Trotz der ärmlichen Verhältnisse, in der die Pomaken lebten, hatte Mira die vier alten Frauen noch nie mürrisch oder trübsinnig erlebt. Obwohl sie auf dem Markt Konkurrentinnen waren, herrschte keine Missgunst unter ihnen.

Ihr Schwatzen und Lachen begleitete Mira auf einem Teil der Strecke und war ein weiterer Grund für ihre Wachsamkeit.

Auch die atemberaubende Naturkulisse, die selbst nach dreißig Jahren nichts von ihrer Faszination eingebüßt hatte, trug ihr Scherflein dazu bei, dass sie nicht müde wurde. Die dichten Wälder, die tiefen Schluchten und die hohen Berggrate erinnerten die Zugchefin stets daran, weshalb sie diesen Beruf so sehr liebte und für kein Geld der Welt einen anderen Job angenommen hätte.

Im Laufe des Jahres veränderte sich die Landschaft zudem ständig. Wo im Sommer die grünen Wipfel üppiger Wälder ein schier endlos erscheinendes Meer bildeten, das sich bis zum Horizont erstreckte, lag jetzt eine dichte Schneedecke, die das Licht der Wintersonne reflektierte, als glitzerten tausend Diamanten darauf.

Das Geschnatter der Frauen würde Mira nicht lange begleiten, denn die Fahrt von Svetino bis Welingrad dauerte nur knapp vierzig Minuten. Sieben davon hatten sie erst geschafft. Etwas mehr als eine halbe Stunde durfte sie also den Stimmen der Marktfrauen noch lauschen, und ein stilles Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie fuhren nicht jeden Tag mit der Rhodopenbahn, doch wenn sie es taten, breitete sich ein warmes Gefühl in Miras Bauch aus.

Sie mochte die vier Pomakinnen, und ihre Anwesenheit erinnerte die Zugchefin daran, dass sie die Hälfte der Strecke bereits hinter sich hatte. In der Endstation Septemwri würde die Rhodopenbahn um viertel nach zehn eintreffen.

Dort musste sie mit Fidan die Sicherheitscheckliste durchgehen, würde mit ihm zusammen Mittagspause machen, damit sie sich um halb eins wieder auf den Rückweg begeben konnten.

Feierabend war um sechs Uhr abends, dann war sie in der Regel schon vierzehn Stunden auf den Beinen. Und bevor sie sich auf den Weg zur Arbeit machte, musste sie noch ihre Kinder für die Schule fertig machen.

Mira wohnte mit ihrer Familie in Dobrinischte, einem Wintersportort im Piringebirge, und fuhr die 125 Kilometer bis Septemwri sechs Mal in der Woche hin und zurück. Sie kannte die Strecke wie ihre Westentasche. Routine gab es trotzdem keine. Sie blieb stets konzentriert und war es gewohnt, auf Veränderungen instinktiv und reflexartig zu reagieren.

Das rettete an diesem kalten Wintermorgen nicht nur ihr das Leben, sondern auch den knapp einhundert Fahrgästen.

Ihre Hand lag längst auf dem Griff der Notbremse, noch bevor ihr bewusst wurde, dass das Hindernis am Ende der lang gezogenen Kurve kein Haufen Geröll war, das sich aus den hoch aufragenden Felswänden gelöst hatte.

Einen Herzschlag später kreischten die Bremsen, und die stählernen Räder der Lokomotive und der Waggons kamen funkensprühend zum Stehen.

Das Schnattern der vier alten Frauen steigerte sich zu einem erschrockenen Kreischen, das aber nur kurz anhielt. Bei der niedrigen Geschwindigkeit war die Gefahr, einer ernsthaften Verletzung selbst bei einem abrupten Stopp verhältnismäßig gering. Dass Mira das Herz dennoch bis zum Halse schlug, hatte einen ganz anderen Grund.

Ihre Finger zitterten, als sie nach dem Mobiltelefon griff, das neben ihrer Warnkelle auf dem schmalen Brett vor dem Fenster lag.

Mira achtete nicht auf die erstaunten Rufe der Fahrgäste, die sich an die Scheibe drängten und die Zugchefin auf ihrem Sitz fast erdrückten. Jeder wollte sehen, was die gemächliche Fahrt so jäh unterbrochen hatte.

Mira quetschte sich zwischen Zuleika und zwei Teenagern mit Zahnspangen hindurch, die längst ihre Smartphones gezückt hatten, um Aufnahmen von dem Hindernis zu machen, um vor ihren Freunden damit angeben zu können. Nur war das bereits wieder verschwunden. Die Schienen waren leer.

Trotzdem war das Hindernis ein Problem, das sie Fidan würde erklären müssen. Schließlich durfte sie den engen Zeitplan der Rhodopenbahn nicht aus Spaß durcheinanderbringen.

»Mira, was ist passiert?«, fragte der Lokomotivführer atemlos. Dem Klang seiner Stimme nach zu urteilen stand er längst vor der Diesellok, um herauszufinden, was den plötzlichen Stopp verursacht hatte.

Sie schluckte und musste sich räuspern, bevor sie ein Wort herausbekam. »D…das glaubst du mir nie!«

»Scheiße, Mira. Sag mir was los ist.«

»Da war was auf den Schienen.«

Sie konnte förmlich sehen, wie er die Augen verdrehte, hörte aber nur ein schnaubendes Grunzen. »Dass du die Notbremse nicht gezogen hast, weil du pissen gehen willst, hab ich mir schon gedacht«, schnauzte er sie an. »Also, was hast du gesehen?«

»Ich … ich weiß es nicht.« Sie strich sich fahrig über die Stirn, auf der kalter Schweiß klebte. Von wegen, meldete sich eine leise Stimme in ihren Gedanken. Du weißt sehr wohl, was du gesehen hast. Du willst es nur nicht akzeptieren.

»Bist du betrunken, oder was?«, schnappte Fidan ärgerlich. »Mira, wenn du mich hier verarscht, kann dich das deinen Job kosten.«

»Verdammt, das weiß ich selbst«, schrie sie und warf einen raschen Blick über die Schulter zu den Fahrgästen, von denen sie die meisten erwartungsvoll anglotzten. Jeder erwartete eine Erklärung von ihr, doch die Wahrheit konnte sie unmöglich vor all den anderen äußern.

Daher entschloss sie sich zu einer Notlüge.

»Ein Tier! Ein, äh, Bär stand auf den Schienen.«

»Ein Bär?«, echote Fidan. »Die halten doch Winterschlaf.«

»Vielleicht … vielleicht wurde er ja geweckt?«

»Du bist verrückt, du …«

»Warte, ich komme zu dir.« Sie wartete Fidans Antwort gar nicht erst ab, sondern beendete das Gespräch einfach. Sie ging auf den Ausstieg zu, die fragenden Blicke der Fahrgäste ignorierend. Bis sich ihr eine Gestalt in den Weg stellte. Wütend blickte Mira auf und sah einen blassen jungen Mann mit randloser Brille und Bartschatten auf den eingefallenen Wangen.

»Gehen Sie mir bitte aus dem Weg.«

Heftig schüttelte er den Kopf, und sein Blick flackerte unstet. Seine Hand zitterte, als er das Smartphone hob und ihr das Display zeigte, auf dem schemenhaft zu sehen war, was Mira nur allzu gerne als Produkt ihrer Fantasie abgetan hätte.

Jetzt hatte sie den Beweis, dass sie nicht verrückt war. Doch sie wusste nicht, ob sie sich darüber freuen sollte.

»Ich … ich hab nicht alles verstanden, was Sie da gerade gesagt haben«, meinte der Tourist auf Englisch. »Aber ich glaube, Sie haben von einem Bär gesprochen.«

Mira erwiderte nichts, wagte nicht einmal zu nicken.

Daher fuhr der junge Mann fort: »Das war kein Bär, und das wissen Sie. Es … es war ein Monster.«

Fidan fluchte wie ein alter Landsknecht, als Mira das Gespräch einfach abwürgte. Er überlegte, ob er sie zurückrufen sollte, entschied sich aber dagegen. Er würde ihr gleich persönlich den Kopf waschen. Erst mal musste er in der Zentrale Bescheid geben, dass die Ankunft sich verzögerte.

»Allzu lange wird es nicht dauern. Ein Bär scheint aus dem Winterschlaf geweckt worden zu sein und hat sich wohl verirrt.« Der Einfachheit halber schloss er sich Miras Notlüge an.

»Na, wenigstens war es kein Steinschlag, sonst hätten wir die Strecke für eine Woche stilllegen müssen«, antwortete der Kollege am anderen Ende der Leitung.

»Ja, was für ein Glück«, meinte Fidan lahm und fügte noch hinzu: »Ich melde mich, wenn wir weiterfahren. Bis dann.«

Er stand wenige Schritte vor der alten Diesellokomotive und ließ seinen Blick ein letztes Mal über die Schienen schweifen, ehe er sich umdrehte, um zu den Waggons zu gehen. Der Zug war mitten in der lang gestreckt Kurve stehen geblieben.

Zahlreiche Köpfe reckten sich aus den Fenstern und in den Ausstiegen erschienen ebenfalls die ersten Fahrgäste. Fidan winkte mit beiden Armen ab und brüllte, so laut er konnte: »Gehen Sie zurück. Wir fahren gleich weiter!«

Das fehlte ihm noch, dass einer der Deppen vor Neugier in die Schlucht stürzte. Linkerhand ging es steil in die Tiefe, während rechts schroffe Felsen aufragten. Wo sollte denn hier ein Bär herkommen?

Gut, da oben gab es zahllose Einschlüsse und Höhlen. Im Winter sickerten oft Regen und Schnee in Risse und Spalten, und sobald das Wasser gefror und sich ausdehnte, kam es nicht selten zum berüchtigten Steinschlag. Dass sich ein Bär allerdings ausgerechnet auf dem abfallenden Hang eine Höhle für seinen Winterschlaf aussuchte, hielt er für höchst unwahrscheinlich.

Aber er wusste ja ohnehin, dass Mira log. Dafür kannte er sie einfach schon zu lange. Der Klang ihrer Stimme war unmissverständlich gewesen. Sie hatte Angst, und das beunruhigte Fidan.

Mira war eine resolute und mutige Frau, mit der er schon einige heikle Situationen gemeistert hatte. Wenn es etwas gab, vor dem sie sich fürchtete, wollte er es eigentlich gar nicht wissen.

Zufrieden registrierte er, dass die Fahrgäste seinen Anweisungen Folge leisteten. Offenbar hatten sie begriffen, dass es nichts zu sehen gab.

Fidan hatte die rostrote Lok gerade erreicht, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er stutzte, hielt inne und traute sich nicht mehr, sich zu rühren.

Mein Gott, wenn es wirklich ein Bär war, würde der vermutlich nicht allzu gut drauf sein. Vor allem aber würde er Hunger haben.

Der Lokführer schluckte trocken. Die Kehle fühlte sich rau an, kalter Schweiß drang ihm aus den Poren. Im Zeitlupentempo drehte er sich um, warf einen Blick über die Schulter zurück.

Ein leises, bedrohlich klingendes Knurren, drang an seine Ohren.

Seine Augen weiteten sich, als er das Monster sah, das jetzt langsam das mehrreihige Gebiss bleckte.

Dann ging alles blitzschnell. Fidan kam nicht mal mehr dazu, zu schreien.

»Mit Juri stimmt was nicht!«

Wanja Markow lud die letzte Kiste Fisch in den Kombi und drehte sich zu der Sprecherin um, die mit verschränkten Armen in der offenen Tür zum Hauptbüro stand. Die beschwichtigende Floskel blieb dem Tierarzt zunächst im Halse stecken, als er die Sorge in Lubas dunklen Augen sah.

Das schwarze Haar trug sie straff zurückgebunden. Nur eine Strähne hatte sich gelöst und flatterte vorwitzig vor ihrem blassen Gesicht.

»Er hat vermutlich nur was Falsches gegessen«, versuchte es Wanja trotzdem. Er trat auf seine Frau und Mitarbeiterin in Personalunion zu und legte ihr die Hände auf die Oberarme. »Du weißt doch, wie empfindlich er ist. Gerade jetzt, wo es kalt wird.«

Sie schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht, Wanja. Er ist launisch und aggressiv.«

»Das war er früher auch schon.«

»Kosta hat gesehen …«

»Kosta soll sich von ihm fernhalten«, brauste Wanja auf. Er machte einen Schritt rückwärts und stemmte wütend die Fäuste in die Hüfte. »Juri mag ihn nicht, und damit muss er fertigwerden.«

Luba hob beschwörend die Arme. »Er sagte, Juri habe ihn angegriffen. Ich … ich habe mir das Überwachungsvideo angesehen. Es sah aus, als ob …« Sie verstummte und biss sich auf die Unterlippe.

»Wie sah es aus?« Wanja runzelte die Stirn. So fahrig kannte er seine Frau gar nicht. Sie hatte oft genug mit mürrischen Patienten zu tun und hatte noch nie ein Anzeichen von Furcht erkennen lassen.

»Es sah aus, als ob er sehen könnte!«

Sekundenlang starrte Wanja seiner Frau in die Augen. Dann fing er an zu lachen und bereute es im selben Atemzug. Aber er hatte einfach nicht anders gekonnt.

»Hör auf«, rief Luba, ergriff sein Handgelenk und zog ihn hinter sich her in das Büro. Dort standen zwei Flachbildschirme auf einem erhöhten Regal über dem Schreibtisch mit den Computerarbeitsplätzen. Die Monitore waren in jeweils sechs Felder unterteilt, die die Gehege rund um die Uhr aus unterschiedlichen Perspektiven filmten.

»Wieso habt ihr die angeschaltet?«, fragte Wanja und deutete auf den zweiten Bildschirm. »Gojko, Kasimir und Vera halten Winterschlaf. Was soll da schon passieren?«

Luba zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, aber irgendetwas ist passiert. Zumindest mit Juri.«

Sie deutete auf den linken Bildschirm und auf eins der oberen Felder.

Wanja stützte sich mit den Armen auf dem Schreibtisch ab und beugte sich vor. Er kniff leicht die Augen zusammen und strich sich eine Strähne grau melierten Haares zurück.

Juri schritt unruhig an der Umzäunung des Geheges, in dem er isoliert von den anderen Tanzbären seinen Lebensabend verbrachte, auf und ab. Gerne hätten ihm die Markows die Gesellschaft eines Artgenossen gegönnt. Durch seine schlechte Erfahrung mit Menschen war Juri allerdings nicht unbedingt verträglicher geworden.

Erschwerend kam hinzu, dass der ehemalige Tanzbär von seinem früheren Besitzer regelmäßig mit selbstgebranntem Alkohol abgefüllt worden war. Zum einen, um ihn ruhig zu stellen, zum anderen als Belustigung für die Zuschauer. Als Folge des Alkoholkonsums war Juri blind geworden.

Mittlerweile war das Halten und Zurschaustellen von Tanzbären verboten.

»Und was sagst du?«, fragte Luba.

Wanja richtete sich auf. »Nichts! Ich sagte ja schon, vermutlich hat er was Falsches gefressen.«

»Wie bitte? Hast du überhaupt richtig hingeguckt? Er schreitet die Umzäunung ab, als erkunde er sein Gehege.« Luba deutete mit beiden Armen auf den Monitor.

»Mach dich nicht lächerlich.«

»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«

Er hob die Hände und zeigte ihr die offenen Handflächen. »Was willst du von mir hören, Luba?«

Sie hielt ihm den ausgestreckten Zeigefinger entgegen. »Warte, wir haben was vorbereitet.«

»Wir? Was soll das heißen?« Missmutig beobachtete er, wie Luba nach dem Sprechfunkgerät an ihrem Gürtel griff.

»Okay, Kosta. Du kannst sie reinschicken.«

»Was soll denn das werden?«, erkundige sich Wanja und fühlte Ärger in sich aufsteigen. Seinem Empfinden nach verstanden Luba und sein Assistent sich eine Idee zu gut. Kosta hier, Kosta da. Er konnte es schon nicht mehr hören.

»Sieh auf den Bildschirm!«

Widerwillig folgte er der Aufforderung seiner Frau und verschränkte nun ebenfalls die Arme vor der Brust. Es dauerte nicht lange, bis Juri lauschend den Schädel hob. Er schien etwas zu hören oder zu wittern. Kurz darauf trottete er in die Mitte des Geheges, wo ein Felsblock mit flacher Oberfläche stand, auf dem sich der Bär gerne die Sonne auf den Pelz scheinen ließ.

Wanja presste die Kiefer aufeinander. Normalerweise hielten Bären um diese Zeit Winterschlaf, doch durch die anhaltenden Torturen, die sie hatten erleiden müssen, war ihr Biorhythmus völlig aus dem Takt geraten. Dabei hatte er gehofft, dass Juri endlich soweit war, sich dieses Jahr in der Höhle unter dem Felsen zu verkriechen. Genug Fett hatte er sich jedenfalls angefressen.

Unvermittelt richtete sich Juri auf die Hinterbeine auf. Da die Überwachungskameras nicht mit Mikrofonen ausgestattet waren, geschah dies alles in gespenstischer Lautlosigkeit. Hinzu kam die mäßige Bildqualität. Trotz der vielen Spendengelder mussten sie sparen und hatten das Equipment daher aus zweiter Hand erworben.

Ebenso wie die Drohne, die sich jetzt am oberen Bildschirmrand zeigte. Sie war die neueste Errungenschaft des Teams. Vor allem Kosta schwärmte von dem Ding, doch selbst Wanja musste zugeben, dass ihnen dieses Gerät durchaus gute Dienste leisten konnte.

Egal ob bei der Überwachung, Fütterung oder Verhaltensforschung.

Das Einzige, was ihn an dem Ding wirklich nervte, war das enervierende Sirren, mit dem es durch die Lüfte schwebte.

Auch Juri schien davon wenig angetan zu sein. Er drehte sich um die eigene Achse, folgte dem Verlauf der Drohne und schlug sogar nach dem Fluggerät, das jedoch von Kosta, der vor dem Gehege stehen musste, stets außer Reichweite des Bären gehalten wurde.

»Er orientiert sich offensichtlich an den Geräuschen, die das Ding von sich gibt.«

»Dann pass mal auf.« Sie hob das Sprechfunkgerät an die Lippen. »Geh näher an das Gatter heran, Kosta. Zeig dich!«