John Sinclair 2120 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2120 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Abrechnung im Reich der Mitte

Shao hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.
Die Partnerin meines besten Freundes Suko zeigte nicht oft Gefühl, doch wenn Sie es tat, war es umso ergreifender. Und es bewies mir, dass die Lage ernst war. Die Müdigkeit wich schlagartig aus meinen Gliedern.
"Himmel, Shao, was ist passiert?" Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die vierte Morgenstunde noch nicht angebrochen war. Es musste also etwas geschehen sein. Etwas Schreckliches. Und da fiel mir vor allem eine Person ein. "Geht es um Suko?"
Sie nickte und fing an zu weinen. "Ja, er schwebt in großer Gefahr! Sie ist zurückgekehrt, um sich zu rächen! Und sie ist mächtiger als je zuvor."
"Wer? Von wem sprichst du?"
"Von Amara!"

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Seitenzahl: 157

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Inhalt

Cover

Impressum

Abrechnung im Reich der Mitte

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: beakermaximus/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-7662-3

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Abrechnung im Reich der Mitte

von Ian Rolf Hill

Shao hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten.

Die Partnerin meines besten Freundes Suko zeigte nicht oft Gefühl, doch wenn sie es tat, war es umso ergreifender. Und es bewies mir, dass die Lage ernst war. Die Müdigkeit wich schlagartig aus meinen Gliedern.

»Himmel, Shao, was ist passiert?« Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass die vierte Morgenstunde noch nicht angebrochen war. Es musste also etwas geschehen sein. Etwas Schreckliches. Und da fiel mir vor allem eine Person ein. »Geht es um Suko?«

Sie nickte und fing an zu weinen. »Ja, er schwebt in großer Gefahr! Sie ist zurückgekehrt, um sich zu rächen! Und sie ist mächtiger als je zuvor.«

»Wer? Von wem sprichst du?«

»Von Amara!«

Die Hand des Greises zitterte, als er den Telefonhörer zurück auf den Tisch legte.

Der Chinese war uralt, er musste über hundert Jahre zählen. Der Rücken krümmte sich unter der Last der Jahrzehnte. Die Gicht hatte, trotz traditioneller Medizin, schmerzhafte Knoten in den Fingern hinterlassen. Vielleicht war es ihm aber auch nur deshalb vergönnt gewesen, ein derart stolzes Alter zu erreichen.

Doch jedes Leben geht einmal zu Ende, und der greise Chinese spürte, dass seine Stunde gekommen war. Er fürchtete den Tod nicht. Er hatte ein langes und erfülltes Dasein gehabt, und selbst jetzt zählte er noch zu den einflussreichsten und mächtigsten Männern von Hongkong.

Aber auch Macht hat ihre Grenzen, und die seinen waren ihm auf brutale Weise aufgezeigt worden.

»Ich habe ihn angerufen! Er wird kommen. So wie du es verlangt hast.« Die Stimme des alten Mannes klang brüchig wie Pergament. Tränen schimmerten in den dunklen Augen. Das Gesicht bestand nur aus Runzeln und Falten, sah aus wie gegerbtes Leder. Das schlohweiße Haar wucherte wie Spinnweben auf der von Altersflecken übersäten Kopfhaut.

»Lässt du meine Töchter jetzt gehen?«, flehte der Greis und erntete höhnisches Gelächter.

»Oh nein, Li-Shen«, erwiderte Amara. »So einfach mache ich es dir nicht. Erst wenn Suko hier ist, werde ich mein Versprechen einlösen. Bis dahin wirst du für all das büßen, was du mir angetan hast.«

Ergeben schloss der alte Mann die Augen. Tränen rannen unter den Lidern hervor. Tränen der Enttäuschung und der Angst. Er wusste, zu was diese Frau imstande war. Jetzt noch mehr als früher.

»Dann bring es zu Ende«, bat er. »Erspare meinen Kindern das Leid. Halte dich an mich. Von mir aus foltere mich. Ich werde sämtlich Qualen erdulden.«

Hass verzerrte die Züge der Halbchinesin, machte aus dem wunderschönen Antlitz eine Fratze der Bosheit und Heimtücke. »Wie kannst du es wagen, mich um das Wohlergehen deiner Töchter anzubetteln? Ich bin sicher, dass du die Folter erdulden wirst, Li-Shen. Also was bringt es mir, deine alten Knochen zu brechen und dein schlaffes Fleisch zu schneiden?« Amaras Lippen formten sich zu einem sardonischen Grinsen. »Ich werde dich quälen, verlass dich drauf. Und zwar indem du mit ansiehst, wie deine geliebten Töchter die Torturen der achtzehn Höllen durchleiden.«

Auf ein geheimes Signal hin wurde die zweiflügelige Tür zum Domizil des greisen Geschäftsmannes aufgestoßen. Zwei widerwärtige Kreaturen betraten das Büro. Auf den ersten Blick hatten sie nichts Menschliches, trotzdem wusste Li-Shen, dass es sich einst um seine beiden Leibwächter gehandelt hatte.

Jetzt waren es Untote mit aufgeblähten Leibern, deren bläulich schimmernde Haut von dicken Borsten bewachsen war. Die grotesk verlängerten Arme endeten in sichelförmigen Krallen. Aus den breiten Mäulern ragten abnorm vergrößerte Zähne, wie die Hauer von Wildschweinen. Grunzend schoben sie sich auf den alten Mann zu und bliesen ihm ihren stinkenden Atem ins Gesicht.

»Schafft ihn weg!«

Li-Shen versuchte sich zu wehren, doch gegen die Kraft der untoten Bestien hatte er keine Chance. »Nein, Amara, bitte nicht. Das darfst du nicht. Ich flehe dich an.«

»Dafür ist es jetzt zu spät, Vater!«

»Woher weißt du, dass Amara hinter Sukos Verschwinden steckt?«, fragte ich wenig später, als Shao neben mir auf dem Sofa saß. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt und das Glas Wasser nicht angerührt. Ich hatte mir nicht die Zeit genommen, mich anzuziehen, und trug weiterhin Boxer-Shorts und T-Shirt.

»Weil sie es mir gesagt hat!«

»Amara?«, fragte ich entgeistert und kramte in meinem Gedächtnis, was ich über diesen Namen wusste. Sie war einst Sukos Geliebte gewesen, lange bevor er nach London gekommen war, um für einen Mann namens Li Tse Feng zu arbeiten.1) Amara hatte sich als manipulative und grausame Person erwiesen, die gerne mit Menschen spielte. Das hatten Suko und Shao am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Sie hatte ihren alten Platz an Sukos Seite wieder einnehmen wollen und Shao entführen lassen. Auf einer Dschunke war es schließlich zum Showdown gekommen. Amaras Helfer, einen Gangsterboss, hatte ich erschossen, sie selbst war entkommen.2)

Ich hatte diese Episode längst vergessen, beziehungsweise verdrängt gehabt. Andere Dinge hatten meine Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. An erster Stelle, der Tod von Sheila Conolly und das Verschwinden ihres Sohnes. Hinzu kamen der Täufer und seine Dunklen Eminenzen, die Beeinflussung des Kreuzes und die Zerstörung des Klosters St. Patrick.

Ja, es war viel geschehen in den letzten Jahren. Kein Wunder, dass wir nicht alles auf dem Schirm haben konnten. Zudem war Amara wie vom Erdboden verschluckt gewesen. Es hatte überhaupt keinen Sinn gehabt, sie zu suchen.

»Nein«, antwortete Shao auf meine Frage und zog die Nase hoch. »Nicht Amara. Es war Amaterasu!«

Sukos Freundin deutete auf ihre Brust, und ich benötigte ein paar Sekunden, um zu begreifen, was sie meinte. Es mochte daran liegen, dass ich gewaltsam aus dem Tiefschlaf gerissen worden war, dass ich derart auf dem Schlauch stand. Erst als Shao an der ledernen Schnur an ihrem Hals zupfte, fiel bei mir der Groschen.

Das Auge der Amaterasu.

Ein grünlich schimmernder Kristall, den Shao als letzte Nachfahrin der japanischen Sonnengöttin geerbt hatte und der magische Kräfte in sich barg.

»Was hat sie gesagt?«

»Nicht viel. Nur dass Suko in Gefahr schwebt und Amara ihn dort opfern will, wo seine Wurzeln liegen.«

»Also in Hongkong!«

»Oder in dem Kloster, in dem er aufgewachsen ist.«

»Das gibt es nicht mehr. Die Mönche sind tot und die Gebäude nicht mehr als Ruinen. Glaub mir, Shao. Ich bin dort gewesen.«

Sie nickte. »Ich weiß, damals als Suko die Botschaft seines Vaters erhalten hat, den du schließlich endgültig getötet hast.«

»Es gab keine andere Möglichkeit. Aber wieso hat Amaterasu davon gesprochen, dass Amara Suko opfern will? Wem – und vor allem warum?«

»Spielt das eine Rolle?«, rief Shao aufgebracht. »Wir müssen ihn finden und heute noch nach Hongkong fliegen!«

Ich winkte mit beiden Händen ab. »Nun mal langsam, Shao. Ich bin Beamter bei Scotland Yard, so wie Suko im Übrigen auch. Wir können nicht einfach durch die Weltgeschichte jetten, wie es uns gefällt.«

Sie funkelte mich zornig an. »Soll das heißen, du willst ihn im Stich lassen?«, rief sie fassungslos. »Den Mann, der dir hunderte Male das Leben gerettet hat?«

Ich schüttelte ärgerlich den Kopf. »Davon kann keine Rede sein, Shao. Aber du darfst nicht vergessen, dass wir ein wichtige Funktion erfüllen.«

»Soviel ich weiß, arbeitet ihr konkret an keinem neuen Fall.«

»Das stimmt. Aber das kann sich schnell ändern. Hongkong ist keinen Katzensprung entfernt.«

»Dann fliege ich eben allein«, rief sie und sprang auf. Die schmalen Hände zu Fäusten geballt. Ich bitte dich nur, mir die Ninja-Krone aus dem Yard-Tresor zu besorgen. Am besten auch das Schwert Kusanagi-no-tsurugi.«

»Dir ist es wirklich ernst damit.«

»Natürlich«, rief sie. »Wie kannst du auch nur einen Augenblick daran zweifeln?«

»Ich zweifele weniger an deiner Ernsthaftigkeit, sondern mehr an den Fakten. Wann hast du Suko das letzte Mal gesehen?«

Shao schloss die Augen und strich sich fahrig über die Stirn. »Gestern Abend. Er … er sagte, er wolle noch einmal nach Chinatown, um einen Informanten zu treffen.«

»Okay, das ist jetzt nicht so außergewöhnlich.«

»Nur dass er nicht zurückgekommen und offenbar gar nicht in Chinatown gewesen ist.«

»Ich nehme an, dass du versucht hast, ihn anzurufen?«

»Natürlich. Der Anruf ist auch durchgegangen! Es hat auf dem Nachttisch geklingelt.«

»Du meinst, er hat sein Handy gar nicht mitgenommen?« Ich konnte es nicht glauben. Andererseits wusste ich aus jahrelanger Erfahrung, wie mein Partner tickte. Wenn es um etwas Persönliches ging, war er verschlossener als eine Auster. Und persönlicher als Amara ging kaum noch. Höchstens, wenn es sich um Shao gehandelt hätte. Dass er sie nicht eingeweiht hatte, sprach dafür, dass er sie dieses Mal aus der Angelegenheit heraushalten wollte.

»Hast du deine Kontakte nach Chinatown angezapft?«

Sie schüttelte wütend den Kopf. »Nein, dazu war bislang noch keine Zeit. Aber das brauche ich auch nicht. Immerhin hat mir Amaterasu bereits gesagt, was Sache ist.«

Ich erhob mich, legte Shao die Hände auf die Schultern und drückte sie sanft auf das Sofa zurück. »Alles klar, wir machen jetzt Nägel mit Köpfen.«

»Was soll das bedeuten?«

»Das bedeutet, dass ich jetzt alle Flughafen Londons anrufen werde und mir die Passagierlisten sämtlicher Flüge nach Hongkong schicken lasse. Währenddessen kannst du schon mal Frühstück machen. Anschließend werde ich mit Sir James sprechen. Wenn wir fündig werden, sitzen wir spätestens gegen Mittag in der nächsten Maschine nach Hongkong. Ist das in deinem Sinne?«

Shao erhob sich, nickte mir zu und ging in Richtung Küche.

»Danke, John«, erwiderte sie steif.

Man musste Shao gut kennen, um die Erleichterung in ihrer Stimme herauszuhören.

Das Taxi mit der rot lackierten Karosserie und dem weißen Dach stoppte vor dem mehrstöckigen Gebäude, dessen Fassade einem Tempel aus der Ming-Dynastie nachempfunden war.

Der Fahrgast beglich den fälligen Betrag und legte ein angemessenes Trinkgeld dazu. Nicht zu wenig, aber auch nicht zu großzügig. Der Fahrer sollte sich weder an den knauserigen Geizhals, noch an den spendablen Menschenfreund erinnern.

Tatsächlich war der Passagier lediglich durch seine Schweigsamkeit aufgefallen. Aber worüber hätte sich Suko mit dem Taxifahrer auch unterhalten sollen? Der Inspektor neigte schon unter normalen Umständen nicht zu Geschwätzigkeit. Nach den Ereignissen der jüngsten Vergangenheit hatte sich diese Eigenschaft noch vervielfältigt. Seit er beschlossen hatte, London zu verlassen, war er in Trübsinn und Grübelei verfallen.

Er wusste, dass er nicht nur seine Partnerin Shao und seinen Freund John Sinclair mit seinem Verhalten vor den Kopf stieß, sondern auch all seine anderen Freunde, inklusive seinen Vorgesetzten.

Sir James würde toben und Christina Dick … nun, sie suchte ja schon länger nach einem Vorwand, ihn aufs Abstellgleis zu schieben. Doch was seine Entscheidungen auch für Konsequenzen nach sich ziehen würden, es war ihm egal!

Nicht egal war ihm das Wohlergehen von Shao oder seine Vergangenheit. Letztere war schlagartig über ihn hereingebrochen wie eine Gerölllawine. Ausgelöst durch einen simplen Anruf.

Ausgerechnet von Li-Shen! Seinem alten Lehrmeister, der ihn unter seine Fittiche genommen hatte, nachdem Suko das Kloster verlassen hatte. Später war er nach London gegangen, und danach hatte er seinen Mentor nur ein einziges Mal wiedergetroffen. Das war auf der Jagd nach dem Gelben Satan gewesen, als er Shao kennengelernt hatte.

Später hatte es keine Berührungspunkte mehr gegeben. Vielleicht auch wegen der alten Schuld, die Suko nicht imstande gewesen war, zu tilgen.

Bis ihn jener verhängnisvolle Anruf veranlasst hatte, im wahrsten Sinne des Wortes alles stehen und liegen zu lassen und blindlings nach Hongkong zu fliegen.

Das lag nicht einmal einen Tag zurück. Er war sofort in den nächsten Flieger gestiegen und nach einem zwölfstündigen Non-Stop-Flug auf dem Hong Kong International Airport gelandet.

Suko warf einen schnellen Blick auf die Armbanduhr, als das Taxi davonfuhr. Es war knapp achtzehn Uhr, in London also kurz vor Elf. Dort würde man vermutlich am Rad drehen. Er verdrängte das schlechte Gewissen und setzte sich in Bewegung, ging geradewegs auf das Speiselokal im Erdgeschoss der Pagode zu. Suko wusste, dass ihm nicht viel Zeit blieb. John und Shao würden alles in ihrer Macht stehende tun, um ihn zu finden. Es galt also, seinen Vorsprung zu nutzen und nach Möglichkeit auszubauen.

Gedämpftes Licht empfing Suko, zusammen mit lauter Musik und schwatzenden Stimmen. Auf einen Europäer, der westlich geprägte China-Restaurants gewohnt war, hätte dies vermutlich befremdlich gewirkt, doch Suko kannte die Mentalität seiner Landsleute, die nur wenig mit dem Klischee der asiatischen Zurückhaltung zu tun hatte. Gerade beim Essen zeigten sich die Chinesen deutlich ungehemmter, als es der Durchschnittseuropäer erwartete.

Viel hatte sich in dem Lokal nicht geändert. Seidentapeten glänzten an den Wänden, und die Gäste aßen in holzgetäfelten Nischen. Ein schmalhüftiger Kellner huschte auf Suko zu, zeigte ein breites Grinsen und erkundigte sich auf Kantonesisch, ob er allein speisen wolle oder noch Gesellschaft erwartete.

»Ich esse gemeinsam mit Li-Shen«, erwiderte der Inspektor in derselben Sprache. »Gib ihm Bescheid, dass sein Gast eingetroffen ist. Der Name lautet Suko!«

Einem Touristen wäre die Veränderung in der Miene des Empfangschefs nicht aufgefallen. Suko entging das kurze Zucken um die Mundwinkel keineswegs. Trotzdem lag das einstudierte Lächeln wie gemeißelt in den Zügen des Mannes, dessen Augen hinter den zahllosen Lachfalten nicht zu erkennen waren.

Er wandte sich abrupt ab und blaffte einen Kollegen an, Li-Shen telefonisch über Sukos Eintreffen zu informieren. Ja, gegenüber Fremden konnten die Chinesen sehr zuvorkommend sein. Untereinander herrschte dagegen oft ein rauer Ton.

Es dauerte nicht lange, bis der Knabe vom Empfang wieder erschien, sich verneigte und auf einen Vorhang deutete, hinter dem eine gewundene Treppe in die oberen Stockwerke führte.

»Danke, ich kenne den Weg«, fertigte Suko den Mann ab und ging auf den dunkelblauen Samtvorhang zu. Hier hatten ihn vor Jahren die Leibwächter Li-Shens erwartet, um ihn in einen harten Kampf zu verwickeln, den erst Li-Shen beendet hatte. Noch jetzt war Suko froh, dass er damals nicht gegen Kai Tak hatte kämpfen müssen.

Der Inspektor fühlte einen Stich des Bedauerns, als er an den Freund dachte, den er nur kurz gekannt hatte und der während der Auseinandersetzung mit dem Gelben Satan gestorben war.

Dieses Mal erwarteten Suko keine Leibwächter. Aber eben auch nicht Li-Shen oder eine seiner Töchter. Dafür stand ein schmalbrüstiger Japaner mit grau melierten Haaren und Goldrandbrille vor ihm.

Er legte die Hände aneinander und verbeugte sich vor dem Besucher.

»Seien Sie herzlich Willkommen, verehrter Suko. Sie werden sich kaum an mich erinnern, mein Name ist Kashiko, ich bin Li-Shens Privatsekretär. Er erwartet Sie bereits. «

Suko erwiderte die Begrüßungsgeste halbherzig. Kashiko hatte recht, er erinnerte sich nur vage an diesen Mann, der in dem damaligen Fall keine tragende Rolle gespielt hatte. Jetzt umso mehr, wie Suko argwöhnte, denn ihm waren keineswegs die zahlreichen Schweißperlen auf der Stirn seines Gegenübers und das leichte Zittern der Hände entgangen.

Kein Zweifel, Kashiko stand unter enormem Stress.

»Dann sollten wir Li-Shen nicht warten lassen«, entgegnete Suko und bedeutete Kashiko, voranzugehen, während er selbst nach seinen Waffen tastete. Die Beretta hatte er in London lassen müssen, da er bei der Einreise kein Aufsehen hatte erregen wollen.

Suko wunderte sich nicht darüber, als ihn Kashiko durch eine stählerne Tür in das dahinterliegende Büro führte. Dort hatte auch Li-Shen ihn damals empfangen, und Suko konnte sich noch gut an den Kontrast zwischen Tradition und Moderne erinnern, der das Allerheiligste seines Lehrmeisters ausgezeichnet hatte.

Dass das Büro verwaist war, war für Suko kein Alarmsignal. Er wusste, dass es einen versteckten Lift gab, und gönnte sich ein schmales Lächeln, als Kashiko den Geheimmechanismus an der getäfelten Wand betätigte. Zu zweit quetschten sie sich in die winzige Kabine und rauschten in die Tiefe. Vermutlich in den Keller, wo Li-Shen einst die Beschwörung des Gelben Satans vorgenommen hatte.

Während der kurzen Fahrt wagte Suko einen leisen Vorstoß. »Was ist passiert, Kashiko?«

Der Kopf des Japaners fuhr herum. »Wie bitte? Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Suko wandte nun ebenfalls den Blick und starrte eindringlich auf den kleineren Mann hinunter. »Sie sind ein schlechter Lügner, Kashiko. Sie wissen genauso gut wie ich, dass ich nicht ohne Grund hier bin. Li-Shen schwebt in Gefahr, und ich denke, ich weiß auch, von wem sie ausgeht.«

Er schüttelte den Kopf. »Nein, das glaube ich nicht. Sie machen sich keine Vorstellung …«

»Amara!«

»Nein, ich … ja, aber sie ist nicht allein.«

»Wer hilft ihr?«

Der Lift stoppte, und die Türen glitten auseinander. Suko erinnerte sich an das Kellergewölbe, das in rötliches Licht getaucht gewesen war. Das brannte auch jetzt wieder, und Suko wollte seine Frage bereits wiederholen, als ein Schatten auf Kashiko zu flatterte. Er stieß ein hohes Kreischen aus, während gekrümmte Krallen nach dem Gesicht des japanischen Privatsekretärs hieben.

Der riss reflexartig die Arme empor, sodass sich die Klauen im Stoff des Jacketts verhakten. Einen Atemzug später wurde Kashiko vorwärts gerissen. All dies geschah so schnell, dass Suko völlig überrumpelt wurde. Dabei hatte er doch mit einem Angriff rechnen müssen. Auch mit einem solchen, denn das Tier, das Kashiko attackierte, war Suko nicht unbekannt.

Es war ihr ständiger Begleiter.

Amaras Adler!

Ein Vieh von riesigen Ausmaßen, dessen Flügelspannweite doppelte Manneslänge betrug. Trotzdem konnte sich der Vogel frei bewegen. Und er hatte gigantische Kräfte. Kashiko wehrte sich verzweifelt, als er über den Boden gezerrt wurde und blindlings nach dem Angreifer schlug.

Suko stürmte vorwärts, und seine Hand glitt bereits unter das Jackett, wo der Stab des Buddha und die Dämonenpeitsche steckten, als er aus den Augenwinkeln die Bewegungen wahrnahm.

Eine Falle, dachte er, dann gruben sich die zentimeterlangen Klauen auch schon in die Aufschläge der Lederjacke und schleuderten ihn herum.

Hart krachte Suko mit dem Rücken gegen die steinerne Wand und verlor für Sekunden die Übersicht. Darauf nahmen seine Gegner keine Rücksicht, die zu zweit über dem Inspektor aufragten. Sie sahen wie groteske Mischungen aus Mensch, Gorilla und Schwein aus, und Suko zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich bei ihnen tatsächlich einmal um gewöhnliche Männer gehandelt hatte.

Kurzerhand ließ sich Suko fallen. Jetzt kam ihm der glatte, wie poliert wirkende Steinboden wie gerufen. Geschmeidig wie eine Schlange glitt er zwischen den zupackenden Pranken der Monster hindurch. Sein Vorteil war zudem, dass sie unbeholfen und langsam waren. Noch auf dem Boden liegend bewegte sich Suko wie ein Breakdancer, hakte die Füße zwischen die Beine des rechten Kolosses und brachte ihn zu Fall, als dieser sich umdrehte.

Er kippte nach vorne und kam seinem vorrückenden Artgenossen ins Gehege.

Neben sich sah Suko die hektisch flatternden Schwingen, deren flappende Laute mittlerweile die einzigen Geräusche waren, die das Gewölbe erfüllten. Kashikos Schreie waren längst verstummt, ebenso wie das Kreischen des Adlers.



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