John Sinclair 2176 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2176 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Der Orkan fegte mit vernichtender Wucht über das Land und zerrte an den Ästen und Zweigen des gewaltigen Baumes. Nicht wenige brachen ab, wurden aus der Krone gerissen und wirbelten davon. Der Stamm mit den turmartigen Ausmaßen knarrte unter den wütenden Böen.
Noch hielt er dem Ansturm stand und trotzte den Naturgewalten. Zahllose Geschöpfe suchten den Schutz der Weltenesche, duckten sich hinter den gewaltigen Wurzelsträngen oder verkrochen sich tief in den Zweigen, Rissen und Wülsten.
Sie alle wussten, dass der Orkan eine Botschaft war. Eine Folge des Unaussprechlichen, das fernab ihrer Heimat geschehen war.
Die Ordnung der Dinge war zerstört, die Welt drohte aus den Fugen zu geraten ...

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Seitenzahl: 161

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Inhalt

Cover

Impressum

Einen Gott zu töten

Briefe aus der Gruft

Vorschau

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller

Verantwortlich für den Inhalt

Titelbild: Elena Schweitzer; KGBobo; Refluo/shutterstock

Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln

ISBN 978-3-7325-9293-7

„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.

www.john-sinclair.de

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

www.bastei.de

Einen Gott zu töten

(Teil 3 von 3)

von Ian Rolf Hill

Der Orkan fegte mit vernichtender Wucht über das Land und zerrte an den Ästen und Zweigen des gewaltigen Baumes. Nicht wenige brachen ab, wurden aus der Krone gerissen und wirbelten davon. Der Stamm mit den turmartigen Ausmaßen knarrte unter den wütenden Böen.

Noch hielt er dem Ansturm stand und trotzte den Naturgewalten. Zahllose Geschöpfe suchten den Schutz der Weltenesche, duckten sich hinter den gewaltigen Wurzelsträngen oder verkrochen sich tief in den Zweigen, Rissen und Wülsten.

Sie alle wussten, dass der Orkan eine Botschaft war. Eine Folge des Unaussprechlichen, das fernab ihrer Heimat geschehen war.

Die Ordnung der Dinge war zerstört, die Welt drohte aus den Fugen zu geraten.

Fenris, der Götterwolf, existierte nicht mehr!

Margory Curtis krümmte sich vor Schmerzen.

Keuchend hob sie den Kopf, starrte ihre Tochter aus hervorquellenden Augen an, und brach in die Knie. Denise wusste natürlich, dass es nicht ihre wirkliche Mutter war. Die hatte sie im Blutrausch getötet.

Mehr noch, die Gestalt, die sich zu ihren Füßen vor Qualen wand, war nicht mal ein richtiger Mensch. Sie war eine der drei Schicksalsweberinnen, eine Norne. Ihr Name lautete Urd, das Gewordene, und symbolisierte die Vergangenheit.

Eben noch hatte sie ausgesehen wie Lykaon, Denises Vater, um die Teenagerin daran zu erinnern, was er bereit gewesen war zu tun, um seine Ziele zu verwirklichen. Als ob sie das nicht gewusst hätte.

Denise hörte sich schreien und fuhr zu ihrem Ebenbild herum, das nun ebenfalls zu Boden sank. Werdandi, das Werdende, hielt beide Hände gegen ihren Unterleib gepresst. Sie repräsentierte in der Dreiheit der Schicksalsschwestern die Gegenwart.

Blieb noch die Zukunft!

Auch Skuld, die als vorlautes, ungefähr siebenjähriges Mädchen in Erscheinung trat, wälzte sich am Boden. Sie wimmerte und rollte sich zusammen wie ein Fötus im Mutterleib.

Denise zuckte, als die Schreie ihrer Doppelgängerin sich zu einem schaurigen Heulen steigerten. Die Teenagerin erschauerte, als sie sah, wie sich Werdandis Kopf in den eines Wolfs verformte. Der Anblick versetzte Denise einen Stich, denn sie selbst konnte sich nicht mehr in die vor Kraft strotzende Bestie verwandeln.

Selten, eigentlich noch nie, hatte sich Denise Curtis verletzlicher gefühlt!

Sie war sich sicher, dass es mit dem Ort zusammenhing, an dem sie sich aufhielt. Zurzeit war dies eine Höhle, tief in der Erde, unterhalb eines riesigen Baumes, bei dem es sich um die sagenumwobene Weltenesche Yggdrasil handelte.

Denise kannte sich in der nordischen Mythologie nicht besonders gut aus, auch wenn ihr Lykaon und die alte Krähe Podargo stets eingebläut hatten, wie wichtig es war, dass sie über ihre Feinde Bescheid wusste. Nur dass sich noch keiner dieser sogenannten Feinde ihr gegenüber feindlich verhalten hatte. Mal abgesehen davon, dass sie dem kleinen Hosenscheißer, der vor ihr in einer aus Stroh und Lehm gefertigten Krippe lag, die Windeln wechseln musste.

Rebecca hieß das Baby, das die drei verrückten Schicksalsschwestern hier unten versteckten. Angeblich handelte es sich um die Wiedergeburt von Morgana Layton, dem Alphaweibchen des Götterwolfs Fenris, dem Erzfeind ihres Vaters.

Sie war keinem der beiden jemals begegnet, und sie begriff auch nicht, was für ein Problem ihr Dad mit diesem Fenris hatte. Nicht so richtig jedenfalls. Aber offenbar war es Lykaon gelungen, seinen Feind zu töten. Warum sonst sollten sich die Schicksalsweberinnen in Qualen auf dem Boden winden?

Was hatte Skuld gesagt?

»Daddy kommt!«

Eine Gänsehaut rieselte über Denises Wirbelsäule. Nein, Daddy kam nicht, er war längst da! Und sie wusste, dass er alle daransetzen würde, dieses Kind zu töten. Was sollte sie jetzt tun?

Ihm das Baby überlassen? Oder es gar selbst umbringen?

Sie war schließlich Lykaons Tochter!

Es zu leugnen war zwecklos. Warum auch? Bis auf ihn und Phorkys hatte sie niemanden mehr. Selbst ihre beste Freundin Carnegra hatte sie im Stich gelassen!

Doch ein wehrloses Baby umbringen?

Nein, das ging selbst für Denise entschieden zu weit. Sie hatte schon weiß Gott einiges auf dem Kerbholz. Sie brauchte ja nur Urd anzusehen, die Denise permanent daran erinnerte, welche Schuld sie auf sich geladen hatte. Bis vor Kurzem hätte sie ohne zu zögern alles getan, um ihren Vater stolz zu machen und ihm zu zeigen, dass sie mehr drauf hatte, als hübsch auszusehen und Sprüche zu klopfen.

Bis zu dem Tag, an dem er sie zur Jagd freigegeben hatte.

Seine Söhne, ihre Halbbrüder, hatten sie töten sollen, um ihren Platz an seiner Seite einzunehmen. Gemeinsam mit Carnegra hatte Denise den Spieß umgedreht. Darüber war Daddy allerdings nur wenig begeistert gewesen.

Er hatte sie eingesperrt und von ihr verlangt, mit ihm Nachkommen zu zeugen. Dass es nicht dazu gekommen war, hatte sie einzig und allein Phorkys, dem Vater der Ungeheuer, zu verdanken.

Wenn sie das Kind jetzt tötete, würde Lykaon ihr womöglich alles verzeihen.

Sie brauchte doch nicht mehr zu tun, als dem Baby Mund und Nase zuzuhalten, bis es einschlief. Es war so einfach und gleichzeitig so entsetzlich schwer. Obwohl es niemanden gab, der sie davon hätte abhalten können. Im Gegenteil, kurz nachdem sie in die Höhle gerutscht war, hatten die Nornen sie sogar in dem Vorhaben bestärkt. Trotzdem hatte sich Denise geweigert.

Selbst jetzt wollte sie sich nicht an dem Kind vergehen!

Aber vielleicht musste sie das ja auch gar nicht. Vielleicht konnte sie Dad davon überzeugen, dass das Mädchen lebendig mehr wert war, als tot.

»Passt auf Rebecca auf!«, rief Denise den Nornen zu und schlüpfte durch die Öffnung, hinter der sich ein schmaler Tunnel auftat. Er führte zu dem Schacht, durch den sie hierhergelangt war. Er stieg steil an und hatte lehmige Wände, die feucht schimmerten und extrem glitschig waren.

Denise legte den Kopf in den Nacken und seufzte. Als Werwölfin wäre es ihr leicht gefallen, nach oben zu klettern. Ihre Krallen hätte sie wie Steigeisen benutzen können.

Jetzt war sie allein auf ihre Geschicklichkeit und Sportlichkeit angewiesen.

Wenigstens habe ich nicht meine guten Sachen an, dachte sie grimmig und griff nach einer aus der Wand ragenden Wurzel, um sich daran in die Höhe zu ziehen.

»Es ist zu früh!«, keuchte Werdandi. »Sie ist noch nicht so weit!«

»Kann sein«, erwiderte Urd und zog sich am Rand der Krippe empor. »Aber wir haben keine Zeit mehr. Lykaon ist hier. Wer könnte ihn aufhalten, außer ihr?«

»Ich … habe Angst!«, wimmerte Skuld und schlang die Arme um ihre Schultern, als würde sie frieren.

»Ausgerechnet du?«, entgegnete Werdandi. »Predigst du nicht immer, dass wir die Hoffnung nicht aufgeben sollen?«

»Wenn Yggdrasil fällt, gibt es keine Hoffnung mehr. Dann sterbe ich!«

»Das wird nicht geschehen!«, rief Urd und richtete sich ruckartig auf. »Wir müssen ihr vertrauen!«

»Woher nimmst du deine Zuversicht?«, fragte Werdandi.

Urd griff in die Krippe und nahm das Kind vorsichtig heraus, legte es sanft an ihre Schulter. »Weil ich daran glaube! Wenn Denise scheitert, sterben wir alle!«

Lykaon triumphierte!

Die Kraft des Götterwolfs durchströmte seinen dämonischen Leib und heilte die Wunden, die ihm sein Feind im Kampf zugefügt hatte. Er fühlte sich mächtiger denn je, als könne er die Welt aus den Angeln heben. Und genauso war es ja auch!

Fenris’ Magie hatte ihm den Weg gewiesen und war gleichzeitig der Schlüssel, um das Ziel zu erreichen. Lykaons Euphorie kannte keine Grenzen.

Er stand inmitten einer – gemessen an menschlichen Maßstäben – traumhaft schönen Landschaft. Sanfte grasbewachsene Hügel erstreckten sich bis zum Horizont. Aus dem satten Grün ragten Blüten in den unterschiedlichsten Farben und Formen. Das silbrig schimmernde Band eines Flusses schlängelte sich zwischen den Hügeln hindurch und verschwand plätschernd im Schatten eines gigantischen Baumes, der Weltenesche Yggdrasil!

Lykaon hatte es geschafft.

Mit glühenden Augen beobachtete er wie die Äste der Krone durch die Sturmböen auf und nieder schwangen. Sie bogen sich unter den Naturgewalten, brachen ab und flogen davon. Blätter wirbelten hoch hinauf in den Himmel, der sich schlagartig verdunkelte. Schwarze Wolkenberge türmten sich auf und verschlangen das Licht der Sonne.

Schatten bedeckten das Land.

Auf der Kuppe eines Hügels, einen Speerwurf weit von der Weltenesche entfernt, blieb Lykaon stehen. Er spreizte die gewaltigen Schwingen, als Zeichen der Überlegenheit. Fenris hatte ihm einen der Flügel im Kampf ausgerissen, doch dank seiner Lebenskraft, die Lykaon absorbiert hatte, war er längst wieder nachgewachsen.

Die Flughäute knatterten im Wind, blähten sich und wollten Lykaon mit sich reißen. Der Götterdämon stemmte sich erfolgreich dagegen und richtete sich auf.

»SEHT HER!«, brüllte er voller Hass und hob den linken Arm.

Die Krallen seiner Pranke hatten sich in die pelzige Schwarte des abgetrennten Schädels gebohrt, aus dessen Halsstumpf dunkles Blut tropfte, das im spärlich Licht silbrig glänzte.

»DAS IST ALLES, WAS VON EUREM FENRISWOLF ÜBRIG GEBLIEBEN IST!« Lykaon schwang den Arm zurück und holte weit aus. Dann schleuderte er den Schädel in Richtung Weltenesche. Im hohen Bogen flog er durch die Luft und klatschte gegen die rissige Borke, bevor er auf die Erde schlug und auseinanderbrach. Aufgeschreckt stoben vier Hirsche in alle Himmelsrichtungen davon. Aus dem Geäst stieg ein Adler auf, der zum Spielball des Windes wurde, durch die Lüfte trudelte und in den Wolken verschwand.

Selbst aus dieser Entfernung konnte Lykaon sehen, wie sich der Schädel verflüssigte. Fingerlange weiße Maden krochen aus dem letzten Überbleibsel des Götterwolfs, dessen Reste im Boden versickerten.

»UND JETZT FÄLLT YGGDRASIL!«

Lykaon bewegte die Schwingen, ließ sich bereitwillig vom Sturm in die Höhe reißen und segelte, wie an einer unsichtbaren Seilbahn hängend, auf die Weltenesche zu. Noch im Flug öffnete er sein Maul. Ein meterlanger Feuerstrahl schoss hervor und bohrte sich in das Geäst. Lykaon hatte sich absichtlich die Stelle mit den braungelb verfärbten Herbstblättern ausgesucht.

Das Laub brannte wie Zunder, und wenig später regneten die verkohlten Kadaver von Vögeln und kleinen Säugetieren zu Erde nieder. Dennoch gelang es dem Feuer nicht, auf die gesamte Baumkrone überzugreifen. Die Weltenesche wehrte den Angriff ab, indem sie die brennenden Äste abschüttelte. Aus den Bruchstellen wuchsen in Sekundenschnelle neue Triebe, bildeten schwarze Knospen, die aufsprangen und frische Blätter entließen, die im Zeitraffer größer wurden, sich verdunkelten und schließlich eine goldgelbe Färbung annahmen.

Lykaon lachte.

Für ihn war dieser Angriff nicht mehr als ein Ablenkungsmanöver gewesen. Vor dem zyklopischen Stamm des Weltenbaumes sank er zu Boden. Noch im Landeanflug holte er mit der silbernen Axt, deren Stiel aus Yggdrasils Holz gefertigt war, aus. Kaum berührte er den Untergrund, da schlug er auch schon zu, trieb die glänzende Schneide tief in das Fleisch des Baumes.

Rotes Blut spritzte hervor – und die Welt erzitterte!

Denise Curtis fluchte wie ein Bierkutscher.

Würde es einen Preis dafür geben, sie hätte ihn längst gewonnen. Sie war eine zornige Teenagerin, und nicht gerade in der besten Gesellschaft aufgewachsen. Sie kannte eine Menge Flüche und machte eifrig Gebrauch von ihrem Wissen.

Zum gefühlt tausendsten Mal riss eine der Wurzeln ab, sodass sie drohte, abermals in die Tiefe zu rutschen. Denise schlug wild um sich, bekam einen der anderen Wurzelstränge zu fassen und hielt sich krampfhaft daran fest. Die Haut an den Handflächen war längst aufgerissen. Die Wunden brannten, als hätte sie sie mit Säure behandelt. Kleidung und Haare waren schlammverschmiert.

Warum tue ich mir das eigentlich an?

Die Antwort erhielt sie in derselben Sekunde in Form von Babygeschrei. Denise keuchte und tastete mit den Füßen nach den kräftigeren Wurzeln. Endlich fand sie eine, deren Umfang groß genug war, um darauf stehen zu können.

Für einen Moment verharrte Denise und gönnte ihren brennenden Muskeln eine Pause. Schnaufend rang sie nach Atem. Hätte ihr die Kleidung nicht ohnehin schon klatschnass am Körper geklebt, spätestens der aus allen Poren quellende Schweiß hätte dafür gesorgt.

Denise legte den Kopf in den Nacken und spähte hinauf zum Ende des Tunnels. Die helle Öffnung schien noch meilenweit entfernt zu sein und war aus ihrer Perspektive kaum größer als ein Bierdeckel. Da der Verlauf des Schachtes schräg war, blickte Denise nicht in das Astwerk der Baumkrone, sondern in den bleigrauen Himmel.

Seltsam, wie schnell es sich zugezogen hat, dachte sie. Vorhin war noch keine Wolke zu sehen gewesen. Kein gutes Omen. Am besten du gehst wieder nach unten und wartest einfach, bis Dad erscheint. Früher oder später wird er dich finden. Warum also sich die Mühe machen und unnötig verausgaben?

Ein Beben erschütterte den Tunnel, als hätten allein Denises Gedanken die Weltenesche erzürnt. Die Teenagerin schrie vor Überraschung und rutschte von der Wurzel, auf der sie stand. Zum Glück hielt sie die andere immer noch in der Hand. Denises Körper schlug auf die schräg abfallende Schachtwand. Wenn die Wurzel jetzt riss, würde sie abwärts rauschen wie auf einer Bobbahn.

Na und?, meldete sich abermals die böse Stimme aus ihrem Unterbewusstsein. Was macht es für einen Unterschied? Lass los!

Nichts hätte Denise lieber getan. Doch etwas hielt sie davon ab.

Wieder lief ein Zittern durch den Boden. Als würde Yggdrasil sich schütteln wie ein großer Hund, der ungebetene Gäste loswerden wollte, die sich in seinem Pelz verkrochen hatten. Denise hätte es keineswegs gewundert, wenn die Weltenesche ihre Wurzeln aus der Erde gezogen hätte und auf ihnen davongelaufen wäre.

Doch irgendetwas sagte ihr, dass nicht Yggdrasil für das Beben verantwortlich war. Jedenfalls nicht unmittelbar.

Weiter!, feuerte sie sich in Gedanken an. Einfach weitermachen!

Sie ärgerte sich über ihre Trägheit, und dass sie so gut wie keinen Sport mehr getrieben hatte, seit sie erfahren hatte, dass sie ein Werwolf war. Wozu auch? Wenn man sich jederzeit in eine superstarke Bestie verwandeln konnte und dabei massenhaft Kalorien verbrannte, wer brauchte da noch ins Fitnessstudio oder Joggen zu gehen?

Die Quittung bekam sie jetzt. Obwohl es vermutlich schon gereicht hätte, wenn sie vernünftig gegessen hätte. Doch in den letzten Tagen und Wochen hatte sie massiv an Gewicht verloren. Ihre Muskeln waren verkümmert, Arme und Beine so dünn wie die Wurzeln, an denen sie sich aufwärts hangelte.

Wieder griff sie nach einer von ihnen und schrie vor Entsetzen, als sie sich zwischen den Fingern in eine schwammige, feuchte Masse verwandelte. Denise hatte das Gefühl, in vermodertes Fleisch gegriffen zu haben. Sie brauchte gar nicht erst nachzuschauen, sie konnte das Blut auch so riechen.

Yggdrasils Lebenssaft!

Welcher Baum blutete denn bitte schön?, fragte sich Denise beinahe empört. Bis ihr bewusst wurde, was das zu bedeuten hatte. Die Weltenesche starb!

Doch wenn Yggdrasil starb, was wurde dann aus Rebecca und ihr? Im Geiste sah die Teenagerin, wie sich die Höhle unter ihr mit dem Blut der Weltenesche füllte und alles Leben darin ersäufte.

Mit einem Mal begriff Denise, was sie an dem Beben schon die ganze Zeit über gestört hatte: Es erfolgte mit der Gleichmäßigkeit eines Metronoms, als handelte es sich um die Auswirkungen von Donnerschlägen!

Denise verdoppelte ihre Anstrengungen. Sie wusste nicht, woher sie die Kraft nahm, weiterzumachen. Auch jetzt rutschte sie immer wieder ab, oder es löste sich ein Wurzelstrang in blutiges Gewebe auf. Nur mit dem Unterschied, dass Denise diesen Umständen keine Beachtung mehr schenkte.

Und was sie nicht zu hoffen gewagt hatte, trat ein: Die Öffnung über ihr wurde größer. Aus dem Donnergrollen wurden helle, satte Schläge, in die sich ein feuchtes Schmatzen mischte.

Denise fühlte sich an alte Filme erinnert, in denen Männer mit nicht mehr als einer Axt in den Fäusten riesige Bäume fällten.

»Dad!«, keuchte sie. Viel zu leise, als dass er sie hätte hören können. Wenn er es überhaupt war. Doch für Denise gab es keine andere Möglichkeit. Er musste es einfach sein. Wer sonst wäre so wahnsinnig, die Weltenesche zu fällen?

Für einen Moment hielt Denise in ihren Bemühungen inne. Irritiert, dass ihr das Schicksal des Baumes so sehr am Herzen lag. Nein, vielmehr das Schicksal des Kindes, das tief unter ihr in der Erde auf ihren Schutz vertraute.

Denise glaubte, den süßlichen Duft von Rebeccas Haut zu atmen, und biss die Zähne zusammen. Mit einem Schrei der Wut auf den Lippen schleuderte sie ihre rechte Hand nach oben, ergriff den nächsten Wurzelstrang und zog sich in die Höhe. Bis sie endlich den Rand der Öffnung erreichte.

Mit beiden Fäusten klammerte sich Lykaons Tochter daran fest. Wenige Sekunden blieb sie bäuchlings liegen, wollte sich nur eine kurze Pause gönnen. Schwer atmend drückte sie die scheißnasse Stirn auf den schlammigen Grund.

Der nächste Schlag, die nächste Erschütterung.

Denise hob ruckartig den Kopf, stierte mit geweiteten Augen durch die Öffnung nach draußen. Erst jetzt bemerkte sie den kokeligen Geruch. Es stank nach verbranntem Holz und verschmortem Fleisch. Ihr Magen begann zu knurren.

Mit einem Klimmzug zog sich Denise aus der Öffnung. Die Muskeln in ihren Oberarmen verkrampften sich. Ein ziehender Schmerz zuckte hindurch, als würden sie jeden Moment zerreißen wie dünne Bindfäden.

Dann hatte sie es geschafft!

Wie ein Neugeborenes glitt Denise Curtis aus der Öffnung zwischen den Wurzelsträngen unterhalb des gewaltigen Stammes. Sie hustete und würgte, zog die Beine an und krümmte den Rücken. Die Anspannung fiel schlagartig von ihr ab. Schüttelfrost und Krämpfe peinigten das kaum sechzehnjährige Mädchen.

Doch aufgeben kam nicht infrage, so gern sie jetzt einfach liegen geblieben wäre. Denise versuchte aufzustehen, obwohl ihre Arme und Beine unter ihr nachgaben. So musste es einem Rehkitz ergehen, das die ersten Schritte wagte.

Auf allen vieren kroch sie vorwärts, krabbelte über Wurzelstränge, bis die schwarz bepelzte Gestalt mit den gewaltigen Fledermausschwingen in Sicht kam. Sie schwang eine Axt mit silberner Klinge und hieb stoisch auf eine der baumstammdicken Wurzeln ein. Eine tiefe Wunde klaffte im Fleisch des Baumes, aus dem tatsächlich rotes Blut spritze, das das Fell der Bestie tränkte.

Lykaon!

Seine Lefzen waren gefletscht, die Augen glühten in düsterem Rot, wie sie es immer taten, wenn er erregt war. Er war so in seine Tätigkeit vertieft, dass er Denise nicht mal bemerkte.

Vielleicht lag es daran, dass sich wiederholt kleinere Wurzeln aus der Erde wanden und nach seinen Beinen tasteten, während sich die Äste hinunter bogen, um sich um den Hals des Dämons zu winden. Als wären es Riesenschlangen!

Denise stockte. Einer dieser Äste sah nicht nur aus wie eine riesige Schlange. Es war tatsächlich eine! Ihr Leib war bestimmt so dick wie einer ihrer Oberschenkel, die schuppige Haut glänzte schwarzgrün. Auch zu Füßen ihres Vaters erkannte die Teenagerin jetzt ein solches Tier.

Ihre Reaktion erfolgte automatisch, ohne dass sie groß drüber nachdachte.

»Dad, pass auf!«

Fenris, der Götterwolf, war tot!

Für Daglind, die stammesälteste Berserkerin, gab es keine andere Möglichkeit. Warum sonst hätten sich sämtliche Werwölfe auf einen Schlag in Menschen zurückverwandeln sollen?

Von Krämpfen geschüttelt waren sie in den eiskalten Schnee gesunken. Auch Mary Murdock und Susanna hatte dieses Schicksal ereilt. Just in dem Augenblick, als sie sich selbst hatten verwandeln wollen, um ihrem Gott zu Hilfe zu eilen.

Glücklicherweise hatten sie das Lager der Berserker fast erreicht. Mit Hilfe der menschlichen Kolonisten, die ihre Angehörigen und Freunde auf die Schlitten hievten und mit Decken und Pelzen vor der mörderischen Kälte schützten, gelang es ihnen, die ehemaligen Werwölfe zu retten.

Sie wurden auf die wenigen Jurten verteilt, um sich aufzuwärmen und anzuziehen. Kleidung hatten sie ausreichend mitgenommen.