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Der Blick der tief in den Höhlen liegenden Augen war stechend und grausam. Keiner der zahllosen Menschen, die an den roten Rostrasäulen der Strelka vorbeiflanierten, vermochte ihm standzuhalten. Wer ihn sah, wich unwillkürlich zurück und schlug einen weiten Bogen um ihn.
Die Lippen des hochgewachsenen Mannes verzogen sich geringschätzig. Die Leute ahnten nicht einmal, wer sich mitten unter ihnen befand. Dabei kannte jeder seinen Namen, denn einst war er eng mit der Stadt an der Newa verknüpft gewesen. Bevor er verraten worden war, und Lenin und seine Bolschewiken das Land ins Chaos gestürzt hatten. Nun, Lenin war längst gestorben, er aber hatte den Tod besiegt. Und er war zurückgekehrt, um Russland in eine glorreiche Zukunft zu führen.
Denn er war Rasputin ...
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Seitenzahl: 143
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Blutige Nächte in Sankt Petersburg
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Timo Wuerz
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9676-8
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
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Blutige Nächte in Sankt Petersburg
(Teil 1 von 2)
von Ian Rolf Hill
»Schlage zuerst, bevor die anderen dich schlagen.«
Grigori Jefimowitsch Rasputin
Der Blick der tief in den Höhlen liegenden Augen war stechend und grausam. Keiner der zahllosen Menschen, die an den roten Rostrasäulen der Strelka vorbeiflanierten, vermochte ihm standzuhalten. Wer ihn sah, wich unwillkürlich zurück und schlug einen weiten Bogen um den hochgewachsenen Mann.
Seine Lippen verzogen sich geringschätzig. Sie ahnten nicht einmal, wer sich mitten unter ihnen befand. Dabei kannte jeder seinen Namen, denn einst war er eng mit der Stadt an der Newa verknüpft gewesen. Bevor er verraten worden war und Lenin das Land ins Chaos gestürzt hatte. Nun, Lenin war längst gestorben, er aber hatte den Tod besiegt. Und er war zurückgekehrt, um Russland in eine glorreiche Zukunft zu führen.
Denn er war Rasputin …
Sah er nach rechts, erblickte Rasputin den Winterpalast, von dessen blassgrüner, barocker Fassade sich die vergoldeten Kabinette abhoben und im Licht der tief stehenden Sonne funkelten und gleißten wie Diamanten. Früher war es die Hauptresidenz der Zaren gewesen, heute war es eines der bedeutendsten und größten Kunstmuseen der Welt. Ein Touristenmagnet, der täglich Tausende von Besuchern anzog.
Rasputin erinnerte sich noch an die Zeiten, als dies anders gewesen war. Er selbst war dort ein- und ausgegangen, eingeladen von Zar Nikolaus II. und seiner naiven Gattin Alexandra. Anfangs hatte er ihn nur durch den Hintereingang betreten, um unnötiges Aufsehen zu erregen. Erst als Gerüchte die Runde gemacht hatten, hatte er den Vordereingang benutzen dürfen.
Sekundenlang verlor sich Rasputin in den Erinnerungen an diese wunderbare Zeit. Er knirschte vor Wut mit den Zähnen, wenn er daran dachte, was er alles hätte erreichen können, wäre er nicht verraten und hinterrücks ermordet worden.
Er stand an der Brüstung der Strelka, an der östlichen Spitze der Wassili-Insel, an der sich die Fluten der Newa gabelten und hinter dem Eiland in die Ostsee mündeten. Es war, als wäre es gestern gewesen, dass seine Henker seinen sterbenden Körper in die Newa geworfen hatten, die zu seinem eisigen Grab hatte werden sollen.
Es war anders gekommen, und allein der Gedanke, dass Jussupows Komplott buchstäblich ein Schlag ins Wasser gewesen war, besänftigte Rasputins Zorn ein wenig.
»Dürfen wir ein Foto mit Ihnen machen?«
Rasputin drehte sich um und starrte in das blasse Gesicht eines hageren, jungen Mannes mit gescheiteltem braunem Haar, der ein flaches Mobiltelefon in der Hand hielt. Die blassblauen Augen guckten nicht minder verunsichert als die seiner attraktiven Begleiterin. Ihr schwarzes Haar fiel in dunklen Locken auf die schmalen Schultern, ihre Lippen waren rot geschminkt.
Ihr Blick verlor sich in dem des Magiers, der hinter dem dichten Bartgeflecht grausam lächelte. Offenbar hielten sie ihn für einen Schauspieler oder Künstler, der sich an prominenten Orten herumtrieb, um sich für ein paar Rubel mit Touristen ablichten zu lassen.
Rasputin sah auf den ersten Blick, dass es nicht die Idee des Jungen gewesen war, der seinen Entschluss anscheinend längst bereute. Seine Freundin fühlte sich dagegen zwischen Furcht und Faszination hin- und hergerissen. Es war allein der hypnotische Blick der changierenden Augen, deren Farbe er durch pure Willenskraft verändern konnte, der das Mädchen in seinen Bann schlug.
Aber Rasputin stand momentan weder der Sinn nach Zerstreuung, noch suchte er nach neuen Probanden für seine Experimente.
»Geht!«, sagte er und murmelte einige beschwörende Worte in seinen Bart. Er kannte sie seit über hundert Jahren, seit er als Wanderprediger durch Sibirien gepilgert war und von den Schamanen der Burjaten, Jakuten und Kirgisen die Geheimnisse der Magie gelernt hatte.
Unvermittelt schrie der junge Mann auf. Er ließ das Mobiltelefon fallen, als hätte es sich in eine Ratte verwandelt. Dabei war es nur glühend heiß geworden. Kleine Rauchfäden kräuselten sich aus dem Gehäuse, das Display zersprang.
Das Mädchen kiekste verängstigt, während ihr Freund die verbrannte Hand schlenkerte und erschreckt auf sein zerstörte Handy blickte. Obwohl der Vorfall von zahlreichen Menschen beobachtet worden war, kümmerte sich niemand darum. Vermutlich glaubten sie an einen technischen Defekt, an eine Überhitzung der Batterie oder Ähnliches.
Nur das Pärchen ahnte möglicherweise, dass es heute einem schrecklichen Schicksal knapp entgangen war. Nur so konnte sich Rasputin erklären, dass sie beinahe fluchtartig die Strelka verließen, ohne dass qualmende Handy aufzuheben.
Rasputin drehte sich um und erblickte eine schlanke, durchtrainierte Frau mit kurz geschnittenen Haaren, die zielstrebig auf ihn zukam. Sie war komplett in schwarz gekleidet. Unter dem Saum des Mantels glänzten lederne Stiefel, deren Absätze auf dem steinernen Boden harte Echos verursachten. Die Hände hatte sie in den Taschen vergraben.
Sie war wohl die Einzige, die seinem stechenden Blick mühelos standhielt. Kein Wunder, denn er las in ihren Augen dieselbe Kälte und Grausamkeit, die auch den seinen innewohnte.
Es war Chandra; seine Stellvertreterin, Vertraute, Leibwächterin und Geliebte in Personalunion. Und noch weitaus mehr …
»Wolltest du nicht jedes Aufsehen vermeiden?«, fragte sie herausfordernd.
Rasputin machte eine wegwerfende Handbewegung. »Sieh dich um, Chandra. Keiner kümmert sich darum. Jeder denkt, dass die Batterie heiß geworden ist.«
»Deshalb ergreift niemand die Flucht. Was, wenn die Beiden zur Polizei rennen? Oder zum FSB?«
»Um ihnen was zu erzählen? Dass ein verkleideter Mann, der aussieht wie Rasputin, ihr Handy kaputtgemacht hat, indem er es nur scharf anschaute? Niemand wir ihnen glauben!«
»Sei dir da mal nicht so sicher.«
»Heißt das, sie sind endlich da?«
Chandra nickte und warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Sie dürften innerhalb der nächsten Stunde das Bolshoy Dom erreichen.«
»Gut, behaltet sie im Auge. Und denkt dran: Sinclair darf nichts geschehen.«
Er sah seiner Vertrauten an, wie sehr ihr dieser Befehl missfiel. Doch sie würde gehorchen, und das allein zählte.
☆
Weiße Nächte in Sankt Petersburg.
Obwohl ich nicht zum ersten Mal in der Stadt an der Newa weilte, hatte ich dieses Naturschauspiel noch nie persönlich sehen und erleben dürfen. Das lag daran, dass ich sie nie zur rechten Zeit besucht hatte. Sankt Petersburg liegt zwischen dem neunundfünfzigsten und sechzigsten Breitengrad, sodass es in den Nächten um die Sommersonnenwende herum nie vollständig dunkel wird.
Die Türme und Kuppeln der Kathedralen hoben sich golden vor dem leicht bedeckten Himmel ab, der in einem dunklen Orange leuchtete.
Mit dem Wetter hatten wir ebenfalls Glück, denn es blieb trocken. Bei einer Stadt mit annähernd dreihundert Regentagen pro Jahr keine Selbstverständlichkeit. Durch das maritime Klima konnte sich das jedoch schnell ändern. Dann würden sich Straßen und Gehwege binnen weniger Minuten in reißende Bäche verwandeln.
Momentan interessierte mich das Wetter aber genauso wenig wie die Weißen Nächte. Von denen bekam ich auf dem Rücksitz der Mercedes-Limousine ohnehin nicht viel zu sehen, denn die Scheiben waren getönt.
Neben mir saß mein Freund und Kollege Suko, eingehüllt in dumpfes Schweigen. Keiner von uns verspürte den Wunsch zu reden. Was gesagt werden musste, hatten wir auf dem Flug besprochen, und solange wir nicht genau wussten, worum es ging, zogen wir es vor, den Mund zu halten.
Der Fahrer des Wagens, der uns vom russischen Geheimdienst, dem FSB, geschickt worden war, um uns vom Flughafen abzuholen, machte einen unbeteiligten Eindruck. Doch ich war lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass dies nur Tarnung war. Wahrscheinlich sprach er nicht nur fließend Englisch, sondern auch Deutsch und würde jedes Wort mitbekommen.
Davon abgesehen wäre alles, was wir hätten sagen können, nicht mehr als bloße Spekulation gewesen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, jemals mit so wenig Informationen nach Russland gereist zu sein. Früher waren wir meistens von Wladimir Golenkow angefordert und entsprechend gebrieft worden, später hatte das seine ehemalige Partnerin Karina Grischin getan.
Und hier lag der Hase im Pfeffer, denn es war nicht Karina gewesen, die uns eingeladen hatte, sondern der FSB. Allein dieser Umstand sorgte bei mir für erhebliche Bauchschmerzen. Es war keineswegs übertrieben, wenn ich behauptete, dass Karina Grischin, was unseren engeren Freundeskreis betraf, momentan unser größtes Sorgenkind war.
Wir hatten uns die letzten Jahre nicht allzu oft gesehen und wenn, dann unter äußerst unangenehmen Umständen. Zuletzt waren wir gemeinsam losgezogen, um Rasputin und Chandra in der sibirischen Totenstadt zu stellen1) . Letztendlich waren wir nur mit knapper Not entkommen, und der einzige Sieg, den wir auf unsere Fahnen heften konnten, war der Tod des ehemaligen russischen Obersts Leonid Jaschin, der ebenfalls zu Rasputins Gefolgsleuten gehört hatte.
Natürlich hatten wir im Vorfeld versucht, Karina zu kontaktieren, um von ihr weitere Informationen zu bekommen. Leider erfolglos. Mit Grauen erinnerte ich mich an einen Fall, der gut zwei Jahre zurücklag. Damals waren wir ebenfalls auf Geheiß des FSB nach Russland geflogen, allerdings in der Annahme, dass Karina in die Hand des Feindes gefallen war2)
So schrecklich das auch gewesen sein mochte, wir hatten wenigstens einen Anhaltspunkt gehabt. Etwas, worauf wir uns einstellen konnten.
Das war dieses Mal anders.
Allein, dass uns Sir James Powell und dessen Chefin Christina Dick ohne Weiteres zu zweit hatten fliegen lassen, ließ tief blicken.
Unser Fahrer steuerte den Wagen sicher durch den dichten Verkehr, der den Vergleich mit den verstopften Straßen von London, Paris oder Rom nicht zu scheuen brauchte. Über eine sechsspurige Autobahn stießen wir in das Zentrum von Sankt Petersburg vor und fuhren geradewegs zum südlichen Ufer der Newa.
Zu meiner Linken erblickte ich kurz die charakteristischen bunten Zwiebeltürme der Bluts- oder Erlöserkirche, dann kam unser Ziel auch schon in Sicht. Es war ein achtstöckiger graubrauner Kasten, gegenüber der Militärakademie.
Hier residierte einst der KGB, aus dem nach der Perestroika der FSB hervorgegangen war. Der Klotz bildete einen unansehnlichen Kontrast zu den pompösen, historischen Bauwerken, für die die Skyline von Sankt Petersburg weltberühmt war. Das Bolshoy Dom lag am Ufer der Newa, in unmittelbarer Nähe der Liteiny-Brücke, die sich an den gleichnamigen Prospekt anschloss, über den wir momentan noch fuhren.
Allerdings nicht mehr lange, denn kaum ragte der Sitz des FSB vor uns auf, da lenkte der Fahrer den Wagen nach rechts in eine Seitengasse, wo wir vor einem Rolltor stoppten. Dahinter verbarg sich die Einfahrt in die Tiefgarage, die durch eine zusätzliche Schleuse gesichert war.
Durch einen Seiteneingang erschienen mehrere uniformierte Sicherheitskräfte mit Kevlarwesten und Maschinenpistolen. Mit knappen Gesten gab man uns zu verstehen, dass wir aussteigen und den Kofferraum öffnen sollten, in dem sich das Gepäck befand. Da wir offiziell angefordert worden waren, hatten wir unsere Waffen als Diplomatengepäck aufgeben dürfen.
Wir wurden in einen Nebenraum gebracht, wo die einzelnen Gepäckstücke noch einmal durchleuchtet wurden. Anschließend kamen wir an die Reihe, und ich musste mich sehr zusammenreißen, um nicht die Augen zu verdrehen.
Suko bemerkte es und gönnte sich ein schmallippiges Lächeln. Er teilte meine Aversion gegen Nachrichtendienste und ihre Heimlichtuerei, da spielte die Nationalität keine Rolle. Unsere eigenen Geheimdienste waren dahingehend um keinen Deut besser.
Einer der Beamten fuhr mit einem Metalldetektor an meinem Körper entlang und fand natürlich Handy und Kreuz. Letzteres übergab ich Suko, das Mobiltelefon wurde einkassiert. Als ich fertig war, gab mir Suko den Talisman zurück. Danach war er an der Reihe. Anschließend wurden wir noch mittels eines Magnetresonanz-Tomographen auf Fremdkörper überprüft, ehe wir von den Sicherheitskräften in einen kahlen, fensterlosen Raum gebracht wurden. Ohne unser Gepäck.
»Moment mal«, protestierte ich. »Wo bringen Sie die Sachen hin?«
Keiner der Männer gab uns eine Antwort und langsam wurde ich sauer. Es war schließlich nicht unsere Idee gewesen, hierherzukommen.
»Lass gut sein, John«, sagte Suko und nahm auf einem der vier Stühle Platz, die sich um einen Tisch gruppierten. »Wahrscheinlich dürfen sie uns nichts sagen!«
»Dann hätten sie jemanden schicken sollen, der dazu befugt ist. Wie mit uns umgegangen wird, ist respektlos. So etwas hätten Waldimir oder Karina niemals zugelassen.«
Keiner der Männer reagierte auf meine Provokation, stattdessen wandten sie sich um und verließen den Raum. Die Tür fiel krachend ins Schloss, und wir waren allein. Ich setzte mich neben Suko und versuchte gar nicht erst, aus meiner Frustration einen Hehl zu machen.
Der Raum, in dem wir saßen, erinnerte mich an ein Verhörzimmer. Vielleicht war es sogar derselbe, in den man mich gebracht hatte, nachdem es mir gelungen war, Karina aus den Fängen von Chandra und Rasputin zu befreien. Genau genommen war es das Zombie-Mädchen Galina gewesen, der die Agentin ihr Leben zu verdanken hatte. Umso mehr litt sie darunter, dass sie das Zombie-Kind mit meinem Kreuz hatte erlösen müssen.3)
Das Gefühl, dass es um unsere russische Freundin ging, ließ sich nicht abschütteln.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich die Tür und zwei Männer traten ein. Sie sahen fast wie Zwillinge aus, was aber auch an den dunklen Anzügen und dem gleichen Haarschnitt liegen mochte.
Ich erkannte die Knaben auf Anhieb wieder. Es waren tatsächlich dieselben Männer, die mich nach unserer Rückkehr aus den Wäldern, jenseits des Urals, vernommen hatten.
»Iwan und Boris«, begrüßte ich die Beiden und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Sie nickten lediglich, und da sie die Tür hinter sich offen gelassen hatten, schöpfte ich neue Hoffnung, dass die Scharade endlich ein Ende fand.
»Bitte folgen Sie uns!«, schnarrte einer der zwei Männer. Keine Ahnung, ob es Iwan oder Boris war, deren Namen vermutlich ohnehin Pseudonyme waren.
Wir erhoben uns und folgten ihnen durch einen kahlen Gang zu einer Reihe Aufzüge, für deren Nutzung eine Chipkarte erforderlich war. Zusätzlich musste ein vierstelliger Code eingegeben werden. Dann schoss die Kabine nach oben. Ich zählte stumm die Sekunden mit und kam zu dem Ergebnis, dass wir uns im sechsten Stock befanden.
Als die Lifttüren sich öffneten, bekam ich den Eindruck, mich in einem völlig anderen Gebäude zu befinden. Es sah aus wie in einem gewöhnlichen Bürohochhaus, das genauso gut in London hätte stehen können. Unsere Begleiter führten uns an offenen Türen vorbei, aus denen das Klappern von Computertastaturen, das Summen von Faxgeräten und Druckern sowie leises Stimmengemurmel drangen.
Schließlich betraten wir ein Büro, das kaum größer war als unseres daheim im Yard-Building. Mit dem einzigen Unterschied, dass der schlanke Mann, der sich hinter dem Schreibtisch erhob und das Jackett seines maßgeschneiderten Anzugs glattstrich, hier allein residierte.
Sein kurz geschnittenes dunkelblondes Haar war akkurat frisiert, die Lider halb geschlossen. Ein spöttisches Lächeln lag um seine Mundwinkel. Er machte einen freundlichen, jovialen Eindruck, von dem ich mich aber nicht täuschen ließ. Der Kerl hatte es faustdick hinter den Ohren.
»Mister Sinclair, Mister Suko«, begrüßte er uns in lupenreinem Englisch. »Willkommen in Sankt Petersburg. Mein Name ist Semjonow, Karel Semjonow. Nehmen Sie Platz, meine Herren und entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten.«
Er reichte uns nacheinander die Hand und deutete auf zwei Besucherstühle. Sein Händedruck war kräftig, aber nicht unangenehm. Auf der Schreibtischplatte lagen unsere Mobiltelefone. Wahrscheinlich hatte Semjonow sie überprüfen oder gar auslesen lassen.
»Möchten Sie etwas trinken? Kaffee, Tee, Wasser?«
»Reiner Wein würde zu Beginn schon reichen«, konnte ich mir nicht verkneifen zu sagen. Semjonow lächelte und nickte Boris und Iwan zu, die an der Tür stehen geblieben waren. »Sie können gehen!«
»Jawohl, Herr Vorsitzender«, sagte einer der beiden Männer. Kurz darauf schloss sich die Tür hinter uns. Suko warf mir einen knappen Blick zu. Erst als Semjonow wieder zurück zu seinem Platz ging und sich dort niederließ, setzten auch wir uns. Die Handys steckten wir ein, während der FSB-Mann einige Papiere zur Seite räumte. Er beugte sich vor und legte die gefalteten Hände vor sich auf die Tischplatte.
Mir fiel auf, dass keine persönlichen Gegenstände auf dem Schreibtisch standen. Keinerlei Fotos der Familie oder irgendwelcher Kinder. Anscheinend gehörte Semjonow zur alten Schule, die Beruf- und Privatleben, sofern er überhaupt eines hatte, strikt trennten.
»Meine Herren, ich möchte mich bei Ihnen für Ihr schnelles Kommen bedanken.«
»Geschenkt!«, sagte ich und spreizte Zeige- und Mittelfinger. »Ich habe nur zwei Fragen: »Worum geht es? Und wo steckt Karina Grischin?«
Semjonow senkte den Kopf und lächelte. »Ohne Umschweife direkt zur Sache. Das gefällt mir. Daher möchte ich Sie auch nicht länger auf die Folter spannen. Sie werden sich sicherlich über unsere Sicherheitsmaßnahmen gewundert haben.«
»Das ist leicht untertrieben«, erwiderte Suko. »Immerhin waren Sie es, die uns angefordert haben.«
»Und das aus gutem Grund. Sie werden es gleich verstehen.« Semjonow richtete den Blick seiner blassen Augen auf mich. »Sie haben zwei Fragen gestellt, auf die ich Ihnen gerne eine Antwort geben werde. Es geht um Karina Grischin. Wo sie allerdings steckt, wissen wir nicht.«
Plötzlich bedauerte ich es, nichts zu trinken genommen zu haben, denn meine Kehle fühlte sich mit einem Mal rau und trocken an. Ich musste mich räuspern, ehe ich ein Wort herausbekam.
»Soll das bedeuten, sie wurde erneut entführt?«
Semjonow wiegte den Kopf. »Auch das können wir nicht mit Gewissheit sagen, gehen aber vorerst nicht davon aus. Im Gegenteil. Genosse Karina scheint untergetaucht zu sein.«
Suko und ich wechselten einen schnellen Blick.
»Untergetaucht?«, echote mein Partner. »Wie sollen wir das verstehen? Können Sie nicht konkreter werden?«