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Zar Nikolaus II. war beunruhigt.
General Djedjulin war lange genug Palastkommandant, um das zu erkennen. Und er konnte sich auch denken, weshalb das so war. Es hatte nichts mit den üblichen, anspruchsvollen Aufgaben eines Kaisers zu tun. Es ging weder um innerpolitische Querelen noch um die zunehmend angespannte außenpolitische Situation in Europa.
Die Sorgen, die den Zaren plagten, waren mehr privater Natur. Und sie hatten einen gemeinsamen Nenner.
Und der hieß: Rasputin!
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Seitenzahl: 149
Veröffentlichungsjahr: 2020
Cover
Impressum
Rasputin muss sterben
Briefe aus der Gruft
Vorschau
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe der beim Bastei Verlag erschienenen Romanheftausgabe
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
© 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Programmleiterin Romanhefte: Ute Müller
Verantwortlich für den Inhalt
Titelbild: Tithi Luadthong/shutterstock
Datenkonvertierung eBook: César Satz & Grafik GmbH, Köln
ISBN 978-3-7325-9973-8
„Geisterjäger“, „John Sinclair“ und „Geisterjäger John Sinclair“ sind eingetragene Marken der Bastei Lübbe AG. Die dazugehörigen Logos unterliegen urheberrechtlichem Schutz. Die Figur John Sinclair ist eine Schöpfung von Jason Dark.
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Rasputin muss sterben
(Teil 2 von 2)
von Ian Rolf Hill
»Wir können unser Heil nur durch Reue erlangen.«
Grigori Jefimowitsch Rasputin
Sankt Petersburg, 1908
Zar Nikolaus II. war beunruhigt.
General Djedjulin war lange genug Palastkommandant, um das zu erkennen. Und er konnte sich auch denken, weshalb das so war. Es hatte nichts mit den üblichen, anspruchsvollen Aufgaben eines Kaisers zu tun. Es ging weder um innerpolitische Querelen noch um die zunehmend angespannte, außenpolitische Situation in Europa.
Die Sorgen, die den Zaren plagten, waren mehr privater Natur. Und sie hatten einen gemeinsamen Nenner.
Und der hieß: Rasputin!
Nikolaus empfing seinen Palastkommandanten und dessen Adjutanten Oberst Drenteln in seinen privaten Gemächern. Er war allein. Seine Frau und die Kinder flanierten in den Straßen des Zarendorfes Zarskoje Selo. Entgegen den Erwartungen des Hofes hatte Zar Nikolaus beschlossen, nicht im Winterpalast zu wohnen, sondern seinen Hauptwohnsitz in den Alexanderpalast verlegt.
Auch Rasputin war schon zu Besuch gewesen. Unter anderem, um Alexej, den Zarewitsch, von einem schlimmen Fieber zu heilen. Aber auch, um mit der Zarin zu beten, ihre Hand zu halten, und mit ihren Kindern zu schäkern.
Kein Wunder, dass die Gerüchteküche überschäumte …
»General«, begrüßte Nikolaus II. den Kommandanten, und allein aus diesem einen Wort sprach die Erleichterung, die er empfand. Dem Adjutanten gönnte er ein knappes Nicken. »Herr Drenteln!«
Der Kaiser war genauso wenig wie seine Gattin für allzu vertrauliche Gesten bekannt. Seine Miene war stets ernst, die Augen hatten einen leicht melancholischen Ausdruck. Als spiegelten sie die Bürde wider, die das Kaiseramt mit sich brachte und schwer auf seinen Schultern lastete.
Nikolaus II. trug eine maßgeschneiderte, akkurat sitzende Uniform. Sein Bart war gepflegt, die Spitzen des Schnäuzers frisch gezwirbelt.
Er bedeutete seinen Gästen, an einem Tisch Platz zu nehmen, der trotz seiner Unscheinbarkeit wahrscheinlich ein Vermögen wert war. Allein die feine Marmorierung der Platte verriet dem Kommandanten, dass er es mit einem erlesenen Material zu tun hatte, vermutlich Vogelaugen-Ahorn.
Djedjulin, ein kräftiger Mann mit Bauchansatz, dessen ehemals schwarze Haarpracht im Dienst ergraut war, bedankte sich höflich. Drenteln, sein Adjutant, war schlank und hochgewachsen. Seine Haut hatte eine fast schon vornehme Blässe, das Gesicht war glatt rasiert.
Schweigend saßen sich die Männer gegenüber, und je länger Nikolaus schwieg, desto nervöser wurde Drenteln. Stocksteif saß er auf dem hochlehnigen Stuhl, die schmalen weißen Hände auf die Platte gelegt. Djedjulin konnte es ihm nicht verdenken, die Zurückhaltung des Zaren verunsicherte ihn gleichfalls. Die Frage, wie er ihm dienlich sein konnte, brannte ihm förmlich auf der Zunge, doch er wagte sie nicht zu stellen.
Es oblag dem Kaiser, das Gespräch zu beginnen, keinem Untergebenen. Als er es endlich tat, war es für Djedjulin und seinen Adjutanten beinahe wie eine Erlösung.
»Meine Herren! Wie Sie wahrscheinlich wissen, empfangen wir seit geraumer Zeit einen Mann von einfacher Herkunft und niedrigem Stand.« Er machte eine kurze Pause, die Drenteln nutzte, um seiner wachsenden Anspannung Luft zu verschaffen.
»Rasputin!«, platzte es aus ihm heraus, und prompt fing er sich einen finsteren Blick seines Kommandanten ein.
Doch Zar Nikolaus II. störte sich nicht an dem Fauxpas des jungen Offiziers. Er nickte bloß.
»So ist es. Ich teile die mystische Begeisterung meiner Frau nicht, aber ich glaube an Gott, den barmherzigen Vater. Und ich bin fest davon überzeugt, dass Rasputin seine Predigten und Prophezeiungen von Gott erhält. Spätestens seit der unerwarteten Genesung des Zarewitsch zweifele ich nicht mehr an den außergewöhnlichen Fähigkeiten dieses Mannes. Er ist wahrhaft ein Auserwählter Gottes, ein Starez.«
Wieder schwieg der Kaiser, als hätte ihn diese kurze Ansprache bereits erschöpft. Zu Djedjulins Erleichterung riss sich Drenteln dieses Mal zusammen. Der Kommandant fühlte eine gewisse Befriedigung. Er hatte also recht gehabt mit seiner Ahnung, dass das Anliegen des Kaisers privater Natur war. Und er konnte sich auch denken, worin das Problem des Zaren bestand, denn nicht bei allen am Hofe war der Bauer aus Pokrowskoje gut gelitten.
»Es kursieren Gerüchte«, fuhr der Zar endlich fort. »Gerüchte, die, sollten sie wahr sein, eines Mannes Gottes nicht würdig sind. Und über die ich als Kaiser Gewissheit benötige. Sie, meine Herren, sollen mir diese Gewissheit verschaffen. Mit all der nötigen Diskretion versteht sich.«
Der Kommandant nickte knapp. »Selbstverständlich, Eure kaiserliche Majestät!«
»Und ohne ihn öffentlich zu brüskieren«, schärfte der Zar seinen Untergebenen ein. »Das Einzige, was ich wünsche, sind Informationen!«
»Ihr könnt Euch auf uns verlassen«, versicherte Djedjulin.
Zar Nikolaus II. neigte das Haupt. »Das wäre alles!«
Der Kommandant und sein Offizier standen auf, hoben die Hand zum militärischen Gruß und schlugen die Hacken zusammen. Dann verließen sie eilig die kaiserlichen Gemächer, um den Befehl des Zaren zu befolgen.
Die Schritte ihrer Stiefel erzeugten hallende Echos in den hohen Gängen des Alexanderpalasts. Djedjulin spürte, dass Drenteln wenigstens ein Dutzend Fragen auf der Seele brannten, doch er war klug genug, den Mund zu halten. Nirgendwo sonst hatte das alte Sprichwort, die Wände hätten Ohren, mehr Gültigkeit als in den Herrscherpalästen Europas.
»Nun, Oberst Drenteln?«, fragte Djedjulin, als sie in seinem Büro zusammensaßen. »Was halten Sie von dem Befehl des Kaisers?«
»Er ist längst überfällig! Das Volk ist unzufrieden. Die Stimmung brodelt. Der Blutsonntag ist noch lange nicht vergessen. Die meisten Zugeständnisse, die der Zar nach der Revolution vor drei Jahren versprochen hat, sind mittlerweile wieder hinfällig. Selbst bei Hofe erhalten die Kritiker mehr und mehr Gehör. Ein Skandal ist das Letzte, was sich der Zar in dieser Situation leisten kann.«
Djedjulin machte eine ungeduldige Geste. »Ich habe Sie nicht um eine Einschätzung der aktuellen innerpolitischen Lage gebeten, sondern Sie nach Ihrer Meinung gefragt. Was halten Sie von Rasputin?«
Oberst Drenteln richtete sich auf seinem Stuhl sitzend auf. Ein harter Zug lag um seine Mundwinkel. »Er ist ein durchtriebener und falscher Muschik! Ein Scharlatan und Betrüger, der sich das Vertrauen der Zarin erschlichen hat!«
Der Kommandant nickte. Er war zufrieden mit der Antwort.
»Gut, dann beauftragen Sie bitte den Chef der Ochrana, dass er unseren Freund beschatten lässt!«
Die Augen des Adjutanten weiteten sich. »Herr General, sollten wir nicht den Zaren …«
»Auf keinen Fall«, unterbrach der Kommandant seinen Untergebenen barsch. »Das bleibt unter uns, haben Sie das verstanden?«
Oberst Drenteln nickte. »Natürlich, Herr General!«
☆
Schon nach wenigen Tagen lagen die ersten Berichte der Geheimpolizei vor.
Und sie bestätigten sämtliche Gerüchte. Grigori Rasputin war ein Schwindler, ein Pseudoprophet, der in seinem kleinen Dorf in Sibirien mit jungen Mädchen und verheirateten Frauen Unzucht trieb, indem er ihre Leichtgläubigkeit ausnutzte.
Auch in Sankt Petersburg hatte er seine Begierden nicht unter Kontrolle. Mehrfach hatte man ihn bereits mit leichten Mädchen in öffentlichen Bädern gesehen. Ja, selbst Ehemänner, die bei Hof Karriere machen wollten, buhlten um seine Gunst und boten ihm ihre Frauen an. Rasputin wurde sogar im Grand Hotel Europe in Gesellschaft von Bankiers und zweier attraktiver junger Damen gesehen.
Das Abendessen dauerte bis zwei Uhr nachts, nach Hause gegangen war er aber erst um sieben Uhr morgens.
Mehr als genug Beweise, um Rasputin als das zu entlarven, was er in Wirklichkeit war: ein machtbesessener Wüstling der schlimmsten Sorte.
»Wir müssen den Zaren davon umgehend in Kenntnis setzen!«, sagte Drenteln, als der Bericht der Ochrana endlich vorlag.
Kommandant Djedjulin schüttelte den Kopf. »Nein, davon lassen wir hübsch die Finger, Oberst. Das kann der Ministerpräsident übernehmen. Der wird dafür bezahlt, dass er dem Zaren schlechte Nachrichten überbringt. Aber eines dürfte feststehen. Nach diesem Bericht …«, er deutete auf die Akte der Ochrana, »… wird der Kaiser gar nicht anders können, als Rasputin vom Hofe zu verbannen und zurück nach Sibirien zu schicken!«
Doch da irrte sich der Palastkommandant.
Zar Nikolaus II. weigerte sich, den Bericht zu lesen oder sich die Liste der Missetaten, die Grigori unterstellt wurden, auch bloß anzuhören.
»Sollten die Zarin und ich nicht das Recht haben, unsere eigenen Beziehungen zu pflegen und zu verkehren, mit wem wir es für gut befinden?«
So nahm das Unheil seinen Lauf.
☆
Gegenwart
Vor mir stand eine Gestalt von solcher Anmut und Schönheit, wie ich sie nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Ihre Figur, die sich deutlich unter dem halb durchsichtigen, nachtblauen Gewand abzeichnete, war von göttlicher Perfektion.
Das war nicht verwunderlich, schließlich war diese Person auf Geheiß des Göttervaters Zeus von dessen Sohn Hephaistos aus einem Klumpen Lehm erschaffen worden. So erzählte es der Dichter Hesiod. Zeus hatte der Frau daraufhin eine Büchse gegeben, mit der Anweisung, sie unter keinen Umständen zu öffnen, denn sie enthielte neben der Hoffnung auch sämtliches Übel der Welt.
Trotz dieses Wissens erlag die Frau der Versuchung und öffnete die Büchse. Und so kam das Böse über die Erde und vergiftete die Menschheit.
Die Legende kannte jedes Kind, doch kaum einer wusste, dass es das Füllhorn und die Frau tatsächlich gab. Auch ich war ihr schon begegnet, obwohl unser letztes Treffen eine Ewigkeit zurücklag. Trotzdem hatte ich dieses Geschöpf nicht vergessen, bei dem es sich um niemand Geringeres als die sagenumwobene Pandora handelte.
Damals hatte sie das Grauen in Form einer schrecklichen Seuche über das schottische Dorf Billings gebracht. Aus Menschen waren Dämonen geworden. Der Fall war mir deshalb so gut im Gedächtnis haften geblieben, weil ich durch Pandoras Magie in die Vergangenheit geschleudert worden war und miterlebt hatte, wie einer meiner größten Feinde, Xorron, entstanden war.1)
Pandora hatte ihn sich Untertan gemacht und es sogar geschafft, den Dämon mit der unzerstörbaren Haut auf seine damalige Herrin Lady X zu hetzen, damit er ihr den Würfel des Unheils beschaffte. Letztendlich war es ihm nicht gelungen, doch Xorron war Pandora hörig geblieben. Bis ich es geschafft hatte, ihn in der Kristallwelt mit Shimadas Schwert zu töten.
Daraufhin hatte sich Pandora weitestgehend zurückgezogen und war anschließend nur noch in Erscheinung getreten, um ihren neuen Schützling, Shimada, vor der Vernichtung zu bewahren. Warum und wie genau die griechische und japanische Mythologie zusammenhingen, war mir bis heute nicht ganz klar geworden. Offenbar gab es weit mehr Überschneidungen der verschiedenen Mythologien, als ich bisher angenommen hatte.
Das bewies schon der Krieg der Götter, in den ich ebenfalls mit hineingezogen worden war. Ob Pandoras Erscheinen möglicherweise damit zusammenhing?
Vielleicht war es tatsächlich nur ein Zufall, dass sie mir ausgerechnet heute, in dieser winzigen Zelle eines russischen Polizeireviers mitten in Sankt Petersburg erschien. Dagegen sprach, dass sie von Rasputin und dem Angebot, das er mir gemacht hatte, wusste. Die Frage, was sie von mir wollte, blieb trotzdem. Bevor ich jedoch dazu kam, sie zu stellen, sprach mich Pandora erneut an.
»Überrascht, John Sinclair?«
»Das kann man wohl sagen!«, erwiderte ich und versuchte, meiner Stimme einen lockeren Klang zu verleihen. Das fiel mir nicht gerade leicht, denn ich wusste ja, wie mächtig diese Person war. Außerdem war ich unbewaffnet. Selbst das Kreuz hatte man mir abgenommen.
Pandora lachte, trat in die Zelle und sah sich neugierig um. »Du hast es wirklich weit gebracht. Ich gratuliere dir. Eingesperrt wie ein gewöhnlicher Verbrecher, hilflos deinen Feinden ausgeliefert.«
»Bist du deshalb gekommen, Pandora? Um mit mir abzurechnen? Das hättest du schon früher haben können!«
Sie lächelte mich verführerisch an. »Das stimmt. Aber vergiss bitte nicht, mit wem du hier sprichst. Ich bin keine gewöhnliche Frau. Zeit spielt für mich keine Rolle.«
»Komm zur Sache, Pandora«, knirschte ich zornig. »Was willst du von mir? Und was hast du mit Rasputin zu schaffen?«
»Eine ganze Menge, würde ich sagen. Oder was glaubst du, wem Rasputin seinen Aufstieg seinerzeit zu verdanken hatte?«
Das überraschte mich nun doch. »Du?«
Pandora lachte. »Guck nicht so irritiert, Geisterjäger. Ich habe meine Hände überall, und mein Einfluss reicht weit. Denk nur mal daran, wer einst zu meinen Dienern gehörte, nachdem er aus dem Land der aufgehenden Sonne verstoßen wurde.«
»Sprichst du von Xorron?«
»Natürlich.«
Mehr sagte sie nicht, doch das brauchte sie auch gar nicht. Meine Gedanken überschlugen sich, bis sie plötzlich ineinandergriffen wie ein gut geöltes Räderwerk. Xorron, die Totenstadt und Rasputin, der, ebenso wie Chandra, bei unserem letzten Aufeinandertreffen von einem blauen Licht gerettet worden war.
Verdammt, ich hätte mir in den Hintern beißen können, dass ich nicht eher darauf gekommen war. Als wir das erste Mal in die Totenstadt vorgedrungen waren, hatte uns Oberst Leonid Jaschin den Zombieschleim vorgeführt, der angeblich ein Erbe Xorrons gewesen war. Jaschin aber hatte sich später ebenfalls als ein Erbe Rasputins geoutet. Mehr noch, laut Karina Grischin hatte er sogar zu den Gründungsmitgliedern gehört. Ebenso wie Ruffo.
Steckte etwa hinter alldem Pandora?
Mir wurde schwindelig, als mir langsam die Tragweite dessen bewusst wurde, was ich hier erfuhr.
»Ich sehe, du ahnst etwas!«, sagte Pandora und lächelte maliziös.
»Du hast die Erben Rasputins ins Leben gerufen?«
»Ins Leben rufen lassen trifft es eher.«
»Aber warum?«
»Weißt du das wirklich nicht?« Pandora schritt auf mich zu, und ich konnte ihren Körper jetzt aus der Nähe betrachten.
Der hauchdünne Stoff legte sich wie eine zweite Haut über den Bauch und die Brüste, die sich deutlich darunter abzeichneten. Die Unheilsbringerin war nicht mit den Hungerhaken vergleichbar, die heutzutage über die Laufstege stöckelten. Sie war eine klassische griechische Schönheit mit ausgeprägten weiblichen Formen.
»Die Welt ist ein Pulverfass!«, raunte Pandora. »Und Rasputin ist das Zündholz, mit dem ich es zur Explosion bringen werde. So wie vor über einhundert Jahren.«
»Du sprichst vom Ersten Weltkrieg? Tut mir leid, Pandora, aber ich fürchte, da muss ich dir Nachhilfe geben. Rasputin war kein Kriegstreiber. Er mag politischen Einfluss gehabt haben, aber er hat nicht den Krieg ausgelöst.«
»Nun, das habe ich auch nicht behauptet. Wer sagt denn, dass er mein einziges Eisen im Feuer war? Aber genug von der Vergangenheit. Die Gegenwart ist momentan viel interessanter, findest du nicht?«
»Du hast meine erste Frage noch nicht beantwortet: Was willst du von mir?«
»Ich dachte, das wäre offensichtlich«, raunte sie und beugte sich zu mir vor, sodass der Ausschnitt des Kleides aufklaffte und ich einen Blick auf ihre Brüste erhaschen konnte.
Ich muss gestehen, bei dem Anblick wurde mir die Kehle eng. Trotzdem fiel es mir nicht schwer, einen klaren Kopf zu behalten. Allein das Wissen um Pandoras Grausamkeit genügte, um mir sämtliche amourösen Flausen auszutreiben. Abgesehen von der wenig einladenden Umgebung. Für solche Rollenspiele war ich nun überhaupt nicht zu haben.
»Ich soll einen Pakt mit Rasputin eingehen?« Ich schnaubte. »Vergiss es!«
»Nicht so vorschnell, Geisterjäger. Du kannst es dir wohl kaum leisten, meine Hilfe auszuschlagen.«
Da hatte sie durchaus recht. Die russische Polizei hatte mich unter dem Verdacht des Mordes festgenommen, und die Beweislage war erdrückend. Als Ausländer, der mit falschem Pass eingereist war, hatte ich nicht viel Gnade zu erwarten. Und plötzlich wurde mir klar, wer dahintersteckte.
»Das habt ihr euch ja schön ausgedacht! Allerdings wundert es mich, dass ausgerechnet du auf mich angewiesen bist. Für dich sollte jemand wie Matthias kein Problem darstellen. Oder fürchtest du dich so sehr vor Luzifer, dass du meine Hilfe benötigst? «
Pandoras Gesicht verzerrte sich vor blankem Hass. Ihre Augen sprühten Feuer, als sie auffuhr.
»Bastard!«
Von einer Sekunde auf die andere legte sich eine unsichtbare Klaue um meinen Hals und schnürte mir die Luft ab. Eine ungeheure Kraft riss mich in die Höhe. Ich verlor den Boden unter den Füßen und rutschte an der Wand entlang nach oben, während ich verzweifelt versuchte, den Griff um meine Kehle zu lockern. Doch da war nichts!
Meine Hände fuhren ins Leere. Pandora hatte mich buchstäblich am Wickel, und ich fürchtete bereits, den Bogen überspannt zu haben, als ihr Wutausbruch abrupt endete. Ich stürzte zurück auf die Pritsche. Die Knie gaben nach, und ich wäre gestürzt, hätte mich Pandora nicht mit einem blitzschnellen Hieb zur Seite geschleudert.
Mit dem Rücken prallte ich auf die harte Unterlage und saugte die abgestandene Luft in die Lungen. Heftige Stiche zuckten durch meinen Hals.
Ehe ich mich versah, saß Pandora rittlings auf meinem Schoß und bewegte lasziv ihre Hüften. Ihr Gesicht und ihr Körper wurden von dem blauen Licht, das weiterhin aus der Wand drang, gespenstisch beleuchtet. Nur war es nicht mehr das Antlitz der Unheilsbringerin. Stattdessen blickte ich in das Konterfei von …
»Karina«, ächzte ich.
Pandora lachte. »Überleg es dir, Geisterjäger! Nur wenn du Rasputin hilfst, hast du eine Chance, deine Freundin zu retten. Oder du bleibst hier und verrottest irgendwann in einem sibirischen Gulag. Deine Entscheidung!«
Es kostete mich Überwindung, aber letztendlich blieb mir überhaupt keine andere Wahl. Daher nickte ich. »Also schön, Pandora. Du hast gewonnen!«
☆
Das hohe Sirren, mit dem sich das Blatt der Knochensäge in Ruffos Schädel fraß, brachte Chandra beinahe um den Verstand.
Sie war nicht zart besaitet, das auf keinen Fall, doch trotz ihrer Eigenschaften war sie ein Mensch geblieben. Mit allem, was dazugehörte. Ihre empathischen Fähigkeiten mochten zu wünschen übrig lassen, trotzdem konnte sie nicht verhindern, dass bei dem Anblick, der sich ihren Augen bot, ein Gefühl in ihr aufkam, das sie lange nicht mehr empfunden hatte: Angst!
Die Angst vor einem Schicksal, das grauenhafter war als der Tod.
Zumal es nicht irgendjemand war, der dort in aller Seelenruhe die Schädeldecke mitsamt der Löwenmähne vom Kopf der Leiche zog.
Es war Karina Grischin!
Die Agentin, die geschworen hatte, die Erben Rasputins und ihre Galionsfigur ein für alle Mal zu vernichten. Und seit Rasputin ihr auch noch den Partner genommen hatte, war aus einer beruflichen Sache eine persönliche Angelegenheit geworden.
Wie weit Karina jedoch wirklich bereit war zu gehen, erfuhr Chandra erst jetzt. Und das auf erbarmungslose Art und Weise.
Einzelne Haare, die von dem rotierenden Sägeblatt durchtrennt worden waren, rieselten auf den gekachelten Boden der Kühlkammer, in der Chandra an einen Stuhl gefesselt ihrem Schicksal wehrlos ausgeliefert war.