John Sinclair 2220 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2220 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

"Vergib mir, Große Mutter, denn ich habe versagt. Ich bin deiner Gunst nicht würdig, doch ich flehe dich an: Erhöre mich und gib mir eine zweite Chance! Lilith, Große Mutter, Geliebte des Luzifer, die du uns von der Erbsünde befreit und das Joch der Patriarchen von uns genommen hast, vergib deiner ergebenen Dienerin!"
Die Frau in der eintönigen Anstaltskluft kniete unterhalb des vergitterten Fensters auf dem kalten Linoleum der kargen Gefängniszelle und blickte hinauf zum Vollmond, der hinter den dunklen Regenwolken hervorlugte, wie ein pupillenloses weißes Auge.
Seit Monaten sprach Christine Grey jede Nacht dieselben Worte, gefolgt von einem leise gemurmelten Gebet. Erhört worden war sie bislang nicht. Doch das würde sich ändern.
Schon bald ...


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Seitenzahl: 160

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Im Namen der Großen Mutter

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Im Namender Großen Mutter

von Ian Rolf Hill

»Ein jeder fürchte seine Mutter ...«

3. Buch Mose 19,3

»Vergib mir, Große Mutter, denn ich habe versagt. Ich bin deiner Gunst nicht würdig, doch ich flehe dich an: Erhöre mich, und gib mir eine zweite Chance! Lilith, Große Mutter, Geliebte des Luzifer, die du uns von der Erbsünde befreit und das Joch der Patriarchen von uns genommen hast, vergib deiner ergebenen Dienerin!«

Die Frau in der eintönigen Anstaltskluft kniete unterhalb des vergitterten Fensters auf dem kalten Linoleum der kargen Gefängniszelle und blickte hinauf zum Vollmond, der hinter den dunklen Regenwolken hervorlugte wie ein pupillenloses weißes Auge.

Seit Monaten sprach Christine Grey jede Nacht dieselben Worte, gefolgt von einem leise gemurmelten Gebet. Erhört worden war sie bislang nicht. Doch das würde sich ändern.

Schon bald ...

Teil 1: Flucht

Es begann mit einem Schrei!

Nicht sehr laut, aber eindringlich. Er war nicht in der Zelle aufgeklungen oder überhaupt im Inneren des Gefängnisses von Edinburgh, in das Christine Grey während der Untersuchungshaft verlegt worden war.

Der Schrei war von draußen gekommen. Hoch und spitz. Nicht der Schrei eines Menschen, sondern der Ruf eines Vogels. Einer Eule, um genau zu sein.

Christine Grey hob den Blick und starrte hinauf zum Mond.

Der Wind hatte aufgefrischt und die Wolken, die den ganzen Tag wie eine Decke über Edinburgh gelegen und kübelweise Regen ausgeschüttet hatten, zur Seite geschaufelt, sodass die Sicht ungehindert auf das bleiche Rund frei war. Ein schwarzer Schatten zeichnete sich davor ab.

Zunächst war er nur ein unförmiger Fleck, der jedoch rasch größer wurde und zu einem kompakten Körper anschwoll, der von zwei gewaltigen Schwingen getragen wurde.

Der Gefängnis-Insassin stockte der Atem.

Es war eine Eule!

Eine Eule mit blau leuchtenden Augen, die Christine anstrahlten wie Scheinwerfer. Als wäre der Raubvogel mit Mondlicht gefüllt, das durch die Augen hindurchflutete.

Lautlos schwebte er näher, direkt auf das vergitterte Fenster von Christines Zelle zu. Wie ein Stück Eisen, das von einem Magneten angezogen wurde. Das Herz der Gefangenen schlug schneller. Sie begriff, dass nur sie dieser Magnet sein konnte, und sie erinnerte sich, dass Lilith, die Nächtliche, in verschiedenen Gestalten auftrat.

Unter anderem als Eule ...

Mit angehaltenem Atem beobachtete Christine den näher kommenden Vogel, dessen ausgebreitete Schwingen sich wie in Zeitlupe bewegten. Längst war der blasse Mond hinter dem nachtschwarzen Leib verschwunden, der von einer Sekunde auf die andere das gesamte Fenster vereinnahmte.

Die Augen der Eule schlossen sich, und Finsternis stülpte sich wie ein Sack über die Zelle und deren Insassin, die den angehaltenen Atem mit einem wollüstigen Stöhnen aus den Lungen presste.

Christine hatte das Gefühl, als würden die Spitzen der Federn zärtlich über ihre Haut streicheln. Sie erschauerte. Eisige Kälte erfüllte den Raum, und trotz der Dunkelheit konnte die Mörderin ihren eigenen Atem erkennen, der als blau fluoreszierender Nebel vor den Lippen kondensierte.

Der Nebel verflüchtigte sich jedoch nicht. Vielmehr sammelte er sich und bildete eine Säule aus durcheinanderwirbelnden Schwaden, die sich verdichteten und die Gestalt einer Frau formten. Einer Frau mit glatter, blau schimmernder Haut, ausladendem Becken und üppigen Schenkeln. Das Gesicht wurde von einem Schleier dichten schwarzen Haares bedeckt, dessen Spitzen bis auf die schweren Brüste reichten.

Langsam hob sie den Kopf. Der Schleier lichtete sich und entblößte ein bleiches Antlitz mit starren Augen, in denen die strahlend blauen Iriden auffielen. Ihr Blick bohrte sich wie Eiszapfen in das Herz der Mörderin.

Ihre Lippen zitterten vor Kälte und Ehrfurcht gleichermaßen.

»Lilith!«, hauchte Christine.

Obwohl es das erste Mal war, dass sie der Großen Mutter begegnete, wusste sie instinktiv, dass nur sie es sein konnte, die sie besuchte. Lautlos trat sie auf ihre Dienerin zu, streckte die Arme aus und nahm Christines Gesicht in beide Hände.

Diese zuckte zusammen, als die Kälte durch ihre Haut in das Innere des Körpers sickerte. Die langen Fingernägel, pechschwarz und leicht gekrümmt, legten sich wie Klammern um ihren Schädel.

»Deine Zeit ist gekommen«, wisperte Lilith und beugte sich zu ihrer Dienerin herunter.

Eine dunkelblaue, fast schwarze Zunge schob sich zwischen den Zähnen hervor und glitt über Christines Lippen, die bereitwillig den Mund öffnete.

Dann gab Lilith ihrer Dienerin einen Kuss.

Christine Grey schloss die Augen und genoss den Druck der eiskalten Lippen auf den ihren, während die glitschige Zunge wie ein Aal in ihrer Mundhöhle zuckte und tanzte.

Ein süßlich-metallischer Geschmack breitete sich gemeinsam mit der Kälte aus, die durch Christines Hals hinab in ihre Eingeweide floss.

Urplötzlich bekam sie keine Luft mehr!

Die Zunge der Großen Mutter schwoll an, bahnte sich brutal einen Weg durch die Kehle ihrer Dienerin, als wollte sie der Kälte folgen. Christine versuchte, zurückzuweichen, doch der Griff der krallenartigen Finger war stärker.

Ein kurzer, kaum wahrnehmbarer Ruck folgte, und die Zunge, beziehungsweise das, was Christine dafür gehalten hatte, löste sich aus dem Mund der Großen Mutter, glitt die Speiseröhre hinab und ringelte sich im Magen zusammen. Eine wohltuende Wärme breitete sich aus, steigerte sich zu glühender Hitze.

Nach der lähmenden Kälte glaubte Christine nun, von innen heraus zu verbrennen. Die Hitze schoss ihre Nervenbahnen entlang, die in lodernden Flammen zu stehen schienen.

Ohne dass Lilith etwas zu sagen brauchte, wusste die Mörderin, dass ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen war: Sie erhielt eine zweite Chance.

Und sie wusste genau, was sie zu tun hatte!

Lilith löste die Lippen von denen ihrer Dienerin, die Hände gaben den Kopf frei.

Christine Grey wimmerte, als die Hitze ebenso verschwand wie die Kälte. Lautlos ging die Große Mutter rückwärts auf die Finsternis hinter dem fluoreszierenden Nebel, der um ihren üppigen Leib waberte, zu.

»Nein«, keuchte Christine. »Lass mich nicht allein. Bleib bei mir.« Ihre Finger zitterten, als sie nach den Knöpfen der Anstaltsjacke tastete, um sie zu öffnen. Schließlich zerrte sie die Jacke vor der Brust auseinander, sodass die Knöpfe absprangen und wie Geschosse durch die Zelle prasselten.

»Nimm mich«, keuchte sie, und riss sich das T-Shirt vom Oberkörper. »Nimm mich!«

Lilith wich weiter zurück, bis ihr Leib mit der Dunkelheit verschmolz.

»NIMM MICH!«

Christine sprang auf die Beine und nestelte an ihrer Hose, doch die Große Mutter war bereits verschwunden. Schluchzend brach die Mörderin zusammen, umschlang ihren nackten Oberkörper und schaukelte greinend vor und zurück.

Lange dauerte die Enttäuschung jedoch nicht an.

Die Herrin hatte sie, die unwürdige Elevin, besucht und ihr ein Geschenk gemacht. Jetzt war es an ihr, sich dieser Gabe als würdig zu erweisen. Und Christine schwor sich, die Große Mutter nie wieder zu enttäuschen.

Der Leib der Mörderin bebte unter den abgehackten Schluchzern. So jedenfalls musste es für die Frauen und Männer, die Nachtdienst in der Überwachungszentrale schoben und das Innere der Untersuchungszelle über eine Kamera beobachteten, aussehen. Sofern sie überhaupt zusahen.

Doch Christine Grey schluchzte nicht.

Sie lachte.

Vier Wochen später

»Aufstehen, mit dem Gesicht zur Wand!«

Christine Grey hätte Clara O'Donnells Stimme jederzeit unter Tausend anderen erkannt.

Sie war für das Organ einer Frau viel zu tief, was nicht nur Claras kräftiger Statur geschuldet war, sondern auch den zahllosen Zigaretten, die die Wärterin tagtäglich konsumierte.

Das wäre noch kein Alleinstellungsmerkmal gewesen, doch gleichzeitig hatte diese Stimme einen schrillen Unterton, der umso deutlicher zutage trat, je nervöser Clara O'Donnell wurde.

Dann dröhnte, rasselte, klirrte und schepperte ihre Stimme wie ein Reibeisen, über das eine abgebrochene Flasche gerieben wurde.

In den Monaten, die Christine nun schon in Untersuchungshaft saß, war Clara O'Donnell fast so etwas wie ihre persönliche Betreuerin geworden. Eine Betreuerin, die keine Gelegenheit ausgelassen hatte, Christine ihre Verachtung spüren zu lassen.

So wie heute.

Doch damit hatte die Insassin insgeheim gerechnet. Sie wäre enttäuscht, wäre es anders gewesen. Christine wusste genau, weshalb Clara O'Donnell mit ihren Kollegen gekommen war.

Schon bohrte sich das Ende des Schlagstocks zwischen ihre Schulterblätter und trieb Christine auf die Wand zu. Sie musste sich mit den Händen abstützen, damit ihr Gesicht keine Bekanntschaft mit der Mauer machte.

»Beine auseinander!«, schnarrte Clara, und auch dieses Mal gehorchte Christine.

Ketten klirrten, und kurz darauf schlossen sich die Lederschlaufen des Geschirrs um ihre Fußgelenke. Die dünnen Glieder aus reißfestem Chromstahl, die sie miteinander verbanden, glänzten im Schein der Neonbeleuchtung. Es folgte der Bauchgurt, den der schmalbrüstige Simmons ihr um die Taille legte.

Auch er war mit den Fußfesseln über eine Kette verbunden. Sie mündete in Handschellen, die Christine zuletzt angelegt wurden, nachdem sie sich umdrehen durfte.

Durch die Kette konnte sie die Hände gerade mal auf Höhe des Bauchnabels heben. Nicht hoch genug, um einen der Strafvollzugsbeamten zu attackieren.

»Wenn es nach mir ginge, würdest du den Rest deines jämmerlichen Lebens in diesen Ketten verbringen. Eingesperrt im dunkelsten Loch, das man finden kann.«

Christine starrte Clara O'Donnell geradewegs in die hellblauen Augen, in denen die Pupillen wie winzige Ölflecken glänzten. Das brünette Haar trug die Wärterin zusammengeknotet. Ihre Hände steckten in Silikonhandschuhen. Provozierend ließ sie den Schlagstock in die Handfläche klatschen.

»Aber Wakefield ist schon mal ein Anfang.« Clara O'Donnell grinste.

Nicht ohne Grund, denn Wakefield gehörte zu einem von neun Hochsicherheitsgefängnissen der Kategorie A in Großbritannien. Hier hockten die schwersten Jungs (und Mädels), die man sich nur vorstellen konnte. Und die Schlimmsten von ihnen saßen in Wakefield ein, das nicht umsonst den Beinamen »Monster Mansion« trug.

Eigentlich war Wakefield ein Männergefängnis, doch im Falle von Christine Grey und ihrer Mittäterin Emily List hatte der Richter veranlasst, eine Ausnahme zu machen. Aus dem einfachen Grund, da es in Großbritannien kein einziges Frauengefängnis gab, das den hohen Sicherheitsansprüchen, die die Unterbringung der beiden Mörderinnen nach Ansicht der Gutachter erforderten, genügte.

Da die Täterinnen zu dreimal lebenslanger Einzelhaft verurteilt worden waren, würde es keinerlei Berührungspunkte mit den männlichen Insassen geben. Eine Stunde Hofgang pro Tag, mehr Sonnenlicht würden sie nicht zu sehen bekommen. Zumindest nicht, wenn es nach dem Haftrichter ging. Für Clara O'Donnell war selbst diese eine Stunde zu viel.

»Glauben Sie nicht, dass Sie das bedauern werden? Sie vermissen mich doch jetzt schon.« Christine Grey zog ihre Lippen lasziv mit der Zunge nach. Bevor sie den Mund schloss, ließ sie die Spitze vibrieren wie die Flügel eines Kolibris.

O'Donnell trat dicht an die Gefangene heran und rammte ihr den Griff des Schlagstocks unter den Kiefer, damit die Mörderin nicht zubeißen konnte. »Das Einzige, was ich bedaure, Miststück, ist, dass ich dir diesen Stock nicht ganz tief in den Arsch rammen kann.«

Christine verzog die Lippen zu einem breiten Grinsen. Zu mehr war sie nicht fähig, doch sie war sich sicher, dass die Botschaft bei Clara O'Donnell auch so ankam. Da bin ich mir sicher.

»Aber vielleicht ergibt sich ja noch eine Möglichkeit, denn ich werde dich und deine Freundin auf eurer letzten Fahrt begleiten.«

Die Vollzugsbeamtin trat zurück, schob den Schlagstock wieder in den Gürtel und gab ihren Kollegen einen herrischen Wink, dass sie die Gefangene abführen konnten. Sie selbst schritt selbstbewusst voran, während Simmons und sein Kollege Christine in die Mitte nahmen. Ein weiterer Beamte bildete mit schussbereiter Flinte die Nachhut.

Der Weg führte hinaus aus dem Zellentrakt in den Hof, wo der Gefangenentransporter der Polizei bereits wartete. Die beiden Polizisten, die sie begleiten würden, standen neben der offenen Heckklappe des weißen Multivans mit den gelben Leuchtstreifen an den Seiten.

Der Fond des Transporters bot Platz für je zwei Gefangene und zwei Wärter, die mit dem Rücken zur Fahrerkabine saßen und von den Häftlingen durch ein stählernes Gitter getrennt waren.

Während die Beamten auf gepolsterten Sitzen Platz nahmen, mussten die Gefangenen mit Sitzflächen aus Metall vorliebnehmen.

Christine war nicht überrascht, als sie ihre Komplizin Emily bereits im Fond sitzen sah.

Es war erst das zweite Mal, seit ihrer Verhaftung, dass sie sie überhaupt zu Gesicht bekam. Zuletzt hatten sie sich vor Gericht gesehen, doch da hatte es keine Gelegenheit gegeben, miteinander zu sprechen.

Emily hielt den Kopf gesenkt, das Kinn auf die Brust gelegt. Die kurzen rotbraunen Haare standen wirr nach allen Seiten ab. Ihr Gesicht war hager, die Wangen eingefallen.

Die Untersuchungshaft schien Emily nicht bekommen zu sein. Aber sie war ja schon immer die Schwächere von ihnen gewesen. Christine war sich sicher, dass ihr Lilith nicht erschienen war.

Clara O'Donnell nickte den beiden Polizisten zu.

»Das wurde auch Zeit«, sagte der Größere mürrisch und schnippte die Kippe zu Boden, wo er sie mit dem Absatz austrat. »Die Fahrt bis nach Wakefield dauert vier Stunden, und ich würde zum Abendessen gerne zu Hause sein.«

»Keine Bange«, knurrte Clara. »Sie machen schon keine Überstunden. Aber Sicherheit geht vor. Unterschätzen Sie die Damen nicht.«

Der Fahrer, ein Schlaks mit Halbglatze und Schnurrbart, schnaubte belustigt. »Haben Sie Angst, sie könnten mir das Herz stehlen?«

»Sofern Sie eines haben, Sergeant ...«

»Trevor Malloy. Aber sie dürfen mich Trevor nennen.«

»Danke, Sergeant Malloy. Sie dürfen mich Officer O'Donnell nennen.«

Die Vollzugsbeamtin bugsierte Christine auf die linke Sitzfläche, gegenüber von Emily. Sie gönnte der Gefangenen einen letzten geringschätzigen Blick, ehe sie die Hecklappe zuknallte und verriegelte. An der Innenseite fehlte der Griff natürlich.

O'Donnell stieg durch die Seitentür ein, direkt hinter dem zweiten Polizisten, der mit seinem glatt rasierten Gesicht und den flachsblonden Haaren genauso jung und unerfahren aussah wie Simmons, der vorne auf dem Beifahrersitz Platz nahm.

Ruckartig zog Clara O'Donnell die Schiebetür zu und klopfte hinter sich an die Wand, die den Fond von der Fahrerkabine trennte. Das Zeichen zur Abfahrt.

Als sich der Van in Bewegung setzte und durch das Tor der Gefängnisanstalt Edinburgh rollte, hob Emily den Blick und starrte ihre Freundin aus tief in den Höhlen liegenden Augen an. Darunter malten sich dunkle Halbmonde ab. Ihr Antlitz ähnelte einem Totenschädel.

»Das war es, Christine. Es ist vorbei!«

Die Angesprochene verzog die Lippen zu einem faunischen Grinsen. »Irrtum, meine Liebe. Jetzt geht's erst richtig los.«

Clara O'Donnell hätte es gegenüber diesem Milchgesicht, das neben ihr saß, niemals zugegeben, aber sie war nervös.

Sie versah nun schon seit mehr als zwanzig Jahren ihren Dienst im HMP Edinburgh, doch Insassen wie die beiden Herzräuberinnen waren ihr noch nicht untergekommen. Den Namen hatten sie von der Presse bekommen. Im Gefängnis selbst kursierten noch ganz andere.

Diebinnen der Herzen, Herzdamen oder Herzensbrecherinnen.

Sie alle deuteten auf einen bestimmten Modus Operandi hin, der sämtlichen Taten des mörderischen Duos zugrunde lag, und der so grauenhaft war, dass die Tatsache, dass ihre Opfer ausschließlich Männer gewesen waren, von den Medien völlig ignoriert worden war.

Christine Grey und Emily List hatten zusammen fünf Menschen umgebracht, darunter ihre jeweiligen Partner sowie einen Polizisten, der ihnen auf die Spur gekommen war. Bis auf den Ermittler waren sämtliche Opfer auf grausamste Weise zu Tode gefoltert worden, ehe man ihnen die Herzen aus den Leibern geschnitten hatte.

Während Christine ihrem Mann die Gliedmaßen amputiert hatte, war Emilys Freund von seinen eigenen Hunden zerrissen worden.

Am grauenvollsten für Clara O'Donnell war jedoch nicht die beispiellose Grausamkeit, mit der die Männer getötet worden waren, sondern die Tatsache, dass Christine Grey drauf und dran gewesen war, ihre eigenen Kinder zu töten.*

Angeblich hatte sie sie dem Teufel opfern wollen, beziehungsweise einer alttestamentarischen Götzin. Das machte die Grey in Claras Augen noch verabscheuungswürdiger als Emily List, auch wenn diese das Vertrauen der Kinder ebenfalls missbraucht hatte.

Doch Christine war ihre Mutter gewesen!

Clara O'Donnell hatte keine eigenen Kinder, war aber Patentante der beiden Söhne ihres Bruders Jeff, daher reagierte sie auf solche Verbrechen sehr empfindlich. Schlimmer war für sie höchstens noch der sexuelle Missbrauch von Kindern. Doch zumindest dieses Schicksal schien den Zwillingen, die jetzt bei den Großeltern väterlicherseits lebten, erspart geblieben zu sein.

Der Multivan hatte mittlerweile die M1 erreicht und raste nun mit 80 Meilen pro Stunde über den Motorway. Clara O'Donnell beobachtete die zwei Frauen aus zusammengekniffenen Augen.

Obwohl sie sich nur einmal kurz während des Prozesses gesehen hatten, hatten sie sich offenbar nicht viel zu sagen. Nach dem Start hatten sie ein paar belanglose Sätze miteinander gesprochen, danach waren sie in dumpfes Schweigen verfallen.

Das wunderte Clara O'Donnell, doch sie dachte sich nichts dabei. Allerdings hatte die Stille zur Folge, dass ihr die Lider schwer wurden. An eine Unterhaltung mit dem Milchgesicht war Clara nicht interessiert, und es traf seinerseits zum Glück auch keine Anstalten, daran etwas zu ändern.

Das monotone Dröhnen des Motors und das Rauschen der Reifen auf dem Asphalt trugen ihr Übriges dazu bei, dass Clara einnickte. Ihr Kopf kippte nach vorne, nur um gleich wieder hochzuschrecken. Ein kalter Hauch strich über ihr Gesicht und ließ sie frösteln.

Unvermittelt drangen mehrere Geräusche an ihre Ohren: Ein ersticktes Würgen, das panische Geschrei von Emily List sowie die aufgeregten Rufe des Milchgesichts, das sich halb auf dem Sitz umgedreht hatte und mit der flachen Hand an die Fahrerkabine schlug.

Claras Augen weiteren sich, als sie Christines hochrotes Gesicht sah. Die Adern an Schläfen und Hals traten dick hervor. Wässeriger Mageninhalt klatschte zwischen ihren Füßen auf den Wagenboden, gefolgt von einem zähen, schleimigen Blutfaden.

»Verdammt, tun sie was!«, rief die List. »Christine krepiert.«

Von mir aus, hätte Clara am liebsten gerufen, wusste jedoch, dass sie das nicht tun durfte. Sie trug die Verantwortung für die Insassinnen, und abgesehen davon war sie nun einmal nicht allein.

Das Milchgesicht hatte Erfolg gehabt, denn die Luke zur Fahrerkabine wurde aufgezogen und Simmons' bleiches Antlitz erschien in der Öffnung.

Er wollte etwas sagen, doch der Fahrer mit dem Schnauzbart kam ihm zuvor. »Wenn eine der Damen pinkeln will, muss sie sich noch ein Weilchen gedulden, die nächste Raststätte kommt erst ...«

»Oh scheiße«, rief Simmons dazwischen.

»Was ist?«, erkundigte sich der Fahrer.

»Halt an!«

»Warum? Wir ...«

»HALT AN!«, brüllte Simmons mit sich überschlagender Stimme, und Clara konnte es ihm nicht verdenken.

Er hatte längst erkannt, dass mit den Gefangenen etwas nicht stimmte. Beziehungsweise mit einer von ihnen. Emily List hatte in der Zwischenzeit die Beine angezogen und kauerte parallel zur Kabinenwand auf der Metallpritsche.

Was Simmons endgültig aus der Fassung brachte, war Christine Grey, die noch immer vornübergebeugt auf der Sitzbank hockte. Die Hände gegen den Bauch gepresst, den Mund weit geöffnet. Ein rötlich schwarzes, glänzendes Etwas schob sich daraus hervor, so dick wie zwei nebeneinander gelegte Finger.

Clara wurde übel. Das Ding sah aus wie eine Darmschlinge. Als würde sich ihr Inneres nach außen stülpen.

Schlagartig wichen die letzten Reste der bleiernen Müdigkeit aus Claras Gliedern, während der Fahrer endlich reagierte und die Ausfahrt nahm, die laut einem Schild Richtung Alnwick Garden & Castle führte.

So weit fuhren sie aber nicht, denn kaum hatten sie die Ausfahrt hinter sich gelassen, da steuerte der Fahrer den Van in einen Stichweg, der von der Hauptverkehrsader abzweigte und in einem winzigen Hain mündete.

Aus Christines Kehle drang mittlerweile nur mehr ein ersticktes Würgen. Emily List war nicht ansprechbar. Clara O'Donnell ergriff den Taser, während der Polizeibeamte nach dem Schlüssel tastete, um die Gittertür zu öffnen.

»Lassen Sie das!«, fuhr Clara ihn an und erntete einen verdutzten Blick. »Wir müssen sie hinten herausholen. Simmons«, schrie sie nach vorne. »Nehmen Sie die verdammte Pumpgun, und kommen sie zum Heck. »Und Sie«, rief sagte sie mit klirrender Stimme zu dem Milchgesicht, »Sie rufen den Notarzt. Verstanden?«

»W...was hat Sie denn? Ich meine, hat sie Rasierklingen geschluckt? Oder Scherben?«

»Keine Ahnung. Rufen Sie einfach den Notarzt, und berichten Sie, was Sie beobachtet haben.«

Mehr sagte Clara nicht, entriss dem jungen Polizisten den Schlüssel und zog die Seitentür des Vans auf. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie die Beifahrertür aufgestoßen wurde und Simmons heraussprang. Ohne Pumpgun.

»Was ...?«