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Als Nina Poljakowa ihre Wohnung im Herzen Moskaus betrat, wollte sie nur noch unter die Dusche und sich den Geruch von Sex, Schweiß und Zigarettenrauch vom Körper spülen.
Natürlich erst, nachdem sie Papa Lenin gefüttert hatte.
Nina lächelte bei dem Gedanken an ihren Mitbewohner. Er wartete sicherlich schon sehnsüchtig auf sie, ungeduldig von einer Pfote auf die andere tretend, während sein Schwanz in freudiger Erwartung zuckte und zitterte.
Behutsam drückte die Prostituierte die Wohnungstür auf - und stutzte.
Keine Spur von Papa Lenin. Dafür wehte ihr der typische Geruch von gebratenem Fleisch entgegen ...
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Seitenzahl: 156
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Die Unheilsbringer
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Die Unheilsbringer
von Ian Rolf Hill
Als Nina Poljakowa ihre Wohnung im Herzen Moskaus betrat, hatte sie noch immer das heisere Stöhnen und Keuchen von Valentin Gussew im Ohr. Heute war er besonders aggressiv und fordernd gewesen. Aber sie wollte sich nicht beschweren, das wäre bei einem Mann wie Gussew auch nicht ratsam gewesen.
Außerdem hatte er ihr für den Abend zweihunderttausend Rubel gezahlt. Kein schlechter Schnitt. Dafür verzieh sie dem Oligarchen, der sie regelmäßig buchte, gerne den einen oder anderen Ausrutscher. Doch jetzt wollte sie nur noch unter die Dusche und sich den Geruch von Sex, Schweiß und Zigarettenrauch vom Körper spülen.
Natürlich erst, nachdem sie Papa Lenin gefüttert hatte.
Nina lächelte bei dem Gedanken an ihren Mitbewohner. Er wartete sicherlich schon sehnsüchtig auf sie, ungeduldig von einer Pfote auf die andere tretend, während sein Schwanz in freudiger Erwartung zuckte und zitterte.
Behutsam drückte die Prostituierte die Wohnungstür auf – und stutzte.
Keine Spur von Papa Lenin. Dafür wehte ihr der typische Geruch von gebratenem Fleisch entgegen ...
Nina blieb auf der Schwelle stehen, unschlüssig, was sie tun sollte.
Vernünftig wäre es gewesen, auf dem Absatz kehrtzumachen und dem Sicherheitsdienst Bescheid zu geben. Oder der Polizei.
Doch was hätte sie denen sagen sollen? Dass es in ihrer Wohnung nach Gebratenem roch?
Die Männer hätten sie schallend ausgelacht, und sie hätte es ihnen nicht mal verdenken können. Welcher Einbrecher setzte sich denn bitteschön in die Küche seines Opfers und schmiss sich erst einmal ein Steak in die Pfanne?
Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.
Nikolai!
Es gab für Nina keine andere Möglichkeit. Es konnte einfach nur ihr nichtsnutziger Bruder sein. Vermutlich war er wieder pleite und brauchte Geld. Beziehungsweise Startkapital für irgendeine obskure Geschäftsidee. Oder er steckte in Schwierigkeiten!
Auch das hätte die Edelprostituierte nicht gewundert.
Doch was es auch war, sie würden es gemeinsam durchstehen. So wie immer.
Ihr verkrampfter Magen entspannte sich ein wenig. Zumindest wusste sie jetzt, warum Papa Lenin nicht hinter der Tür auf sie gewartet hatte. Der Kater war bereits von Nikolai versorgt worden. Das eigenwillige Tier ließ sich zwar nicht von jedem streicheln, aber wer ihm das Futter in den Napf füllte, war ihm herzlich egal.
Seufzend schloss Nina die Tür hinter sich, legte die strassverzierte Handtasche auf die Kommode und streifte sich die hochhackigen Pumps von den Füßen. Danach marschierte sie schnurstracks in die Küche. Mit jedem Schritt wurde der Geruch intensiver.
»Was ist nun schon wieder pass...«
Der Rest des Satzes blieb Nina Poljakowa im Halse stecken.
Vor ihr am Küchentisch saß nicht ihr Bruder Nikolai, sondern eine Frau mit kurzen schwarzen Haaren und scharf geschnittenen Zügen. Sie wäre sicherlich bildhübsch gewesen, wären da nicht der grausame Zug um ihre Mundwinkel und der kalte Blick ihrer dunklen Augen gewesen.
Mit beiden Händen hielt sie einen Braten, den sie anscheinend gerade erst aus dem Ofen genommen hatte. Die Klappe stand sogar noch offen, wie Nina feststellte. Im Waschbecken daneben lag eine dunkle Masse.
Feucht glänzend, dazwischen ein blutverschmierter grauer Pelz, wie ihn auch Papa Lenin hatte.
In den Duft von Gebratenem mischte sich nun der Gestank nach rohem Fleisch und Innereien. Nina kannte ihn nur zu gut. Sie hatte ihn oft genug gerochen. Damals als Kind, bevor sie nach Moskau gekommen war, um das große Geld zu machen.
Ihre Eltern waren einfache sibirische Bauern, die von der Hand in den Mund lebten und selbst schlachteten. Genauso roch es jetzt hier in ihrer Küche.
Und der Braten, den die Fremde festhielt, sah aus wie ... Nina würgte und schlug sich die Hand vor den Mund.
Trübe Augen über zurückgezogenen Lefzen, die das winzige Raubtiergebiss freilegten. Der Körper, der sich so gerne an sie geschmiegt hatte, war von einer dunklen Kruste umgeben, die aufplatzte, als die Unbekannte ihn mit bloßen Händen auseinanderriss.
Zum Vorschein kam dampfendes, blutiges Fleisch, in das die Fremde ihre Zähne schlug. Die Schwarzhaarige schmatzte beim Kauen. Eine rote Flüssigkeit quoll zwischen den Lippen hervor und rann in dicken Bahnen über das Kinn.
Genießerisch schloss die Fremde die Augen.
»Oh, das schmeckt ja so gut«, nuschelte sie. »Willst du mal probieren?«
Fassungslos starrte Nina auf ihr Gegenüber, unfähig etwas zu sagen. Aus ihrem Mund drangen nur abgehackte, schluchzende Laute, kaum mehr als ein Winseln. Doch die Worte der Schwarzhaarigen waren ja auch nicht an sie gerichtet.
»Vielen Dank«, erklang in diesem Augenblick eine vertraute Stimme in ihrem Rücken. »Aber mein Essen ist gerade zur Tür hereingekommen!«
Schreiend fuhr Nina herum und starrte in das Gesicht ihres Bruders.
»Nikita«, ächzte sie verwirrt. »Was ...?«
Seine Lippen zogen sich in die Breite und entblößten zwei Reihen spitzer Fänge.
Nina Poljakowa wankte rückwärts und stieß mit dem Gesäß gegen die Tischkante. Nikolai folgte ihr. Erst jetzt registrierte sie, dass er vollkommen nackt war.
Und sein Körper begann sich zu verändern.
Der Oberkörper zuckte und pulsierte, formte zwei Brüste, deren Warzen größer und dunkler wurden. Borstiges Haar spross um die Höfe herum aus der Haut, ebenso wie an den Armen und Beinen. Der Haaransatz wich zurück, die Stirn wölbte sich nach vorne, bildete einen knöchernen Kamm über den ölig glänzenden Augen, die tief in die Höhlen zurückwichen.
Das Haar wuchs zu einer Mähne, die sich bis auf den Rücken hinunterzog. Die Nasenlöcher blähten sich zu Nüstern. An Fingern und Zehen wuchsen lange, gekrümmte Krallen.
Nina wähnte sich in einem Albtraum. Hatte Gussew ihr Drogen in den Champagner getan? Oder war das nur ein blöder Scherz ihres Bruders? So etwas konnte es doch nicht geben. Menschen verwandelten sich nicht in Ungeheuer.
Der Arm des Monsters schoss vor, die Klauen gruben sich in Ninas hochgesteckte Frisur. Ein stechender Schmerz fuhr ihr durch die Schädeldecke. Reflexartig griff sie nach dem Unterarm der Kreatur, spürte das borstige Haar unter den Fingern, die stählernen Muskeln.
Nein, das war keine Verkleidung. Das Ding war echt.
Dann erfolgte der Ruck, der Nina nach vorne riss. Die Prostituierte schrie vor Angst und Qual. Sie verlor den Halt und stürzte auf die Knie. Das Stechen in der Kopfhaut wurde zu gleißender Pein. Ihr wurde schwarz vor Augen. Eine warme, klebrige Flüssigkeit rann ihr über das Gesicht.
Nina wurde herumgeschleudert und über den Boden geschleift. Raus aus der Küche und hinein ins Bad. Sie jammerte und greinte, schlug mit den Armen um sich, versuchte, sich irgendwo festzuhalten. Doch gegen die Kraft dieses Dings hatte sie keine Chance. Hilflos glitten die nackten Füße der Prostituierten über das glatte Parkett und die Fliesen.
Unvermittelt wurde Nina an den Haaren in die Höhe gezerrt. Sie hätte nicht gedacht, dass sich die Qualen noch steigern konnten, doch sie hatte sich geirrt. Mit einem Ruck, der von einem schmatzenden Reißen begleitet wurde, löste sich der Druck auf ihre Kopfhaut.
Ninas Körper wurde von Schlägen durchgeschüttelt, als das Monster sie in die Badewanne schleuderte, wo sie verkrümmt liegen blieb. Blut und Rotz liefen ihr aus der Nase. Wimmernd zog sie die Beine an die Brust.
»B...bitte ... lassen Sie ...«
Die hilflos vor sich hin gestammelten Worte, endeten in einem schrillen Brüllen, als sich eine Klaue um ihr linkes Fußgelenk legte und es herumdrehte. Nina wurde auf den Rücken geworfen. Mit aufgerissenen Augen starrte sie geradewegs in die Fratze mit dem gefletschten Raubtiergebiss.
»Neeein!«
Sie versuchte, das Bein anzuwinkeln, um nach der Abscheulichkeit zu treten, vergebens. Das Monster war stärker. Die zweite Klaue erschien in ihrem Blickfeld. Die gekrümmten Krallen wurden größer.
Grelle Lichter zerplatzten vor ihren Augen, durch die sich glühende Schmerzen wühlten. Immer tiefer, bis nie endende Finsternis das Licht verzehrte.
✰
Chandra beendete ihr Mahl in aller Seelenruhe, während sie dem Schmatzen und Stöhnen lauschte, das aus dem Bad drang. Hoffentlich hatte keiner die Schreie gehört. Nina Poljakowa wohnte schließlich nicht allein in diesem Haus. Doch offenbar kümmerte sich hier niemand um den anderen. Vielleicht waren die Nachbarn auch an derlei Geräusche aus der Wohnung der Nutte gewöhnt.
Nicht, dass es irgendwen gab, den Chandra und ihre Verbündete zu fürchten brauchten.
Die Frau mit der kugelfesten Haut blickte auf die Überreste der Katze. Ein Konglomerat aus Knochen, an denen vereinzelt Fleischfetzen hingen. Sie stand auf und warf die Reste in den Mülleimer, in den sie anschließend auch das Fell sowie die übrigen Innereien entsorgte.
Herz und Leber hatte Chandra bereits beim Ausweiden verspeist.
Das Mahl erinnerte sie an ihre Zeit bei der alten Babuschka, bei der Chandra aufgewachsen war. Damals war sie oft tagelang durch die Wildnis gestreift, hatte unter freiem Himmel geschlafen und sich vom Fleisch der Tiere ernährt. Selbst mit Wölfen hatte sie es aufgenommen, deren Fänge ihre Haut genauso wenig durchdringen konnten wie Projektile.
Versonnen betrachtete Chandra ihre Hände und Unterarme. Sie waren makellos. Kein einziger Kratzer zeigte sich auf der blassen Haut, obwohl sich die Katze tapfer gewehrt hatte.
Gesättigt verließ Chandra die Küche. Satt aber unzufrieden. Im Mund spürte sie den metallischen Geschmack des Blutes. Genießerisch fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen und stieß einen Laut aus, der selbst an das Schnurren einer Katze erinnerte.
Vor der offenen Schlafzimmertür blieb sie stehen.
Das Bett war zerwühlt, das Laken in Fetzen gerissen. Hier hatte sie mit Nikolai die Zeit totgeschlagen, während der Kater im Ofen vor sich hin geschmort hatte.
Oder besser gesagt mit Carnegra!
Die gestaltwandlerischen Fähigkeiten der Kannibalin hatten sich für Chandra in jeglicher Hinsicht als Segen erwiesen. Sie lächelte bei dem Gedanken an Nikolais sehnigen Körper.
Das Schmatzen, Reißen und Stöhnen aus dem Bad war mittlerweile verstummt, dafür erklang jetzt das Rauschen der Dusche.
Das Bad lag dem Schlafzimmer gegenüber. Die Tür war geschlossen, aber nicht verriegelt. Chandra öffnete sie und trat ein. Der nackte Körper einer Frau zeichnete sich schemenhaft hinter der Milchglasscheibe der Nasszelle ab. Blutige Fußabdrücke hoben sich deutlich von den hellen Fliesen ab. Auch auf dem Wannenrand und den darüber liegenden Kacheln klebte Blut.
Die Überreste von Nina Poljakowa lagen noch in der Badewanne. Der Körper zeigte sich beinahe unversehrt. In erster Linie hatte sich Carnegra jedoch auf den Schädel, speziell das Gehirn, konzentriert.
Chandra schenkte der Leiche kaum Beachtung, während sie sich auszog und die Kleidung sorgfältig zusammengelegt auf den Toilettendeckel drapierte. Sie hörte, wie die Duschtür zur Seite geschoben wurde, und wandte sich um.
Vor ihr stand – Nina Poljakowa.
Zumindest was den Körper betraf, auf den die Strahlen der Dusche prasselten und das restliche Blut abspülten.
»Gefalle ich dir?«, fragte Carnegra.
»Darauf kannst du Gift nehmen.« Chandra betrat die Kabine.
»Du wirst zufrieden sein«, gurrte die Dämonin. »Ich konnte von unserer Freundin noch einiges lernen.«
Sobald Carnegra das Gehirn ihres Opfers verspeiste, ging dessen gesamtes Wissen auf die Kannibalin über, inklusive aller Fähigkeiten und Erinnerungen.
»Ich bin gespannt. Aber deshalb sind wir nicht gekommen. Was hast du sonst noch erfahren?«
Carnegra grinste diabolisch. »Ich würde sagen: Jackpot!«
Chandra erwiderte das Grinsen und legte ihrer Gefährtin die Arme auf die Schultern. »Dann steht unserem Plan also nichts mehr im Wege.«
»Sofern uns Sinclair und Grischin nicht in die Suppe spucken.«
Die Frau mit der kugelfesten Haut lachte. »Keine Bange, die beiden werden bald ihre ganz eigenen Probleme haben. Und jetzt ...«, Chandra presste ihren Körper gegen den der Prostituierten, »möchte ich, dass du mir zeigst, was du alles gelernt hast.«
»Mit dem größten Vergnügen«, erwiderte Carnegra und versiegelte Chandras Lippen mit einem innigen Kuss.
✰
Bei Karina Grischin schrillten sämtliche Alarmglocken.
Der Grund dafür war nicht allein die Finsternis, die einfach nicht weichen wollte, egal wie oft sie den Lichtschalter betätigte. Es lag vor allem an der frostigen Kälte, die Karinas Atem vor den Lippen kondensieren ließ. Und mit dieser Kälte kam der Hauch des Bösen.
Karinas Hand wanderte zum Griff der Pistole. Sie war mit Silberkugeln geladen. Auch wenn ihr die nicht viel nutzen würden. Nicht bei der Person, die die Agentin im Verdacht hatte, sich gegen ihren Willen Zugang zu ihrer Wohnung verschafft zu haben.
»Lass die Spielchen und zeig dich, Matthias!«
Ein leises Lachen erklang in der Dunkelheit, die viel zu dicht war, als dass sie natürlichen Ursprungs sein konnte. Selbst wenn es sich um einen stadtweiten Stromausfall gehandelt hätte, hätten der Mond und die Sterne durch die Fenster scheinen müssen.
Eine Gänsehaut bildete sich auf Karinas Armen, die Haut über der Wirbelsäule zog sich zusammen, und die feinen Härchen im Nacken richteten sich auf.
Das war nicht das Lachen von Luzifers erstem Diener, mit dem Karina einen Pakt eingegangen war, um Rasputin zu vernichten. Das Gelächter stammte von einer Frau!
Sofort dachte Karina an Chandra, die Kugelfeste, die ihren Partner Wladimir in den Rollstuhl gebracht hatte. Allerdings kannte sie deren Lachen zur Genüge, und obwohl es nur schwach zu hören war, war sich die Agentin sicher, dass es sich nicht um Chandra handelte, die vor ihr in der Dunkelheit lauerte.
Wer blieb noch übrig? Carnegra? Oder ihre Mutter Pandora?
Keine der Alternativen ließ Karina aufatmen. Beide Geschöpfe gehörten zweifelsohne zu den schwarzmagischen Schwergewichten, gegen die sie mit ihren Silberkugeln und dem winzigen Kreuz, das an der Kette um den Hals hing, nicht ausreichend gewappnet war.
»Wer sind Sie?«
Um ihre Position nicht zu verraten, trat Karina einen schnellen Schritt zur Seite, hielt den Atem an und wartete auf Antwort.
»Unwichtig.«
Nein, das war definitiv nicht Chandra. Was Pandora oder Carnegra betraf, war sich die Agentin allerdings nicht so sicher. Spekulationen würden sie jedoch nicht weiterbringen. Die Unbekannte schien nicht gewillt, ihre Identität preiszugeben.
»Was wollen Sie?«
»Mich mit Ihnen unterhalten.«
»Prima, und worüber?«, fragte Karina und bewegte sich langsam auf die Stimme zu. Sie kam aus dem Wohnraum, der gleichzeitig als Arbeitszimmer diente.
Die Wohnung war nicht groß, knapp vierzig Quadratmeter. Für Karinas Zwecke jedoch völlig ausreichend. Zudem war Wohnraum in Moskau Mangelware und entsprechend teuer, selbst für Mitarbeiter des Geheimdienstes.
»Sagt Ihnen der Name Nina Poljakowa etwas?«
»Nein, sollte er?«
»Ich hatte es gehofft. Nina Poljakowa ist eines der bestbezahlten Callgirls der Stadt.«
»Schön für sie. Aber was habe ich mit ihr zu tun?«
»Sie wird hauptsächlich von Oligarchen und kriminellen Autoritäten gebucht. Eine Nacht kostet locker zweihunderttausend Rubel.«
»Ich frage noch einmal: Was habe ich damit zu tun?«
»Nichts. Oder sollte ich besser sagen: Noch nichts?«
Karina hatte längst herausgefunden, wo ihre unbekannte Gesprächspartnerin saß: auf dem Sofa vor dem Fernseher, direkt neben dem Fenster. Hinter ihr ballte sich undurchdringliche Schwärze. Karinas Augen hätten sich längst an die Dunkelheit gewöhnen müssen, dass sie es nicht taten, war nur ein weiterer Beweis dafür, dass hier Magie am Werk war.
»Hören Sie zu«, sagte die Agentin, um Zeit zu gewinnen. »Ich habe keine Lust auf Spielchen. Wer hat sie geschickt? Matthias? Oder Pandora?«
Wieder lachte die Unbekannte. Diesmal lauter. Abermals erschauerte Karina bei dem Geräusch, das sich seltsam hohl und scheppernd anhörte. Plötzlich verstummte das Gelächter wie abgeschnitten. Dafür erklang erneut die Stimme der Fremden: »Sie sollten sich wirklich mit Nina Poljakowa beschäftigen, Gosposcha Grischin. Sie ist nämlich nicht das, was sie zu sein scheint.«
»Aha, und was genau ist sie?«
»Genau das sollen Sie ja herausfinden. Aber besser Sie beeilen sich. Es sein denn, Sie wollen, dass Moskau im Chaos versinkt. Mehr als es das sowieso schon tut. Denken Sie nur an die Bandenkriege nach der Perestroika.«
»Was zum ...?« Karina nahm die Hand von der Waffe und tastete nach dem Handy, das sich auch als Taschenlampe benutzen ließ. Gleichzeitig spannte sie sämtliche Muskeln, bereit, sich auf den Eindringling zu stürzen.
»Dasvidaniya!« Für einen Herzschlag leuchteten die Augen der Unbekannten in einem intensiven Blauton. Eine Welle der Bosheit rollte über Karina hinweg, jede Bewegung im Keim erstickend.
Von einem Augenblick auf den anderen verschwand die Kälte und mit ihr die Dunkelheit.
Plötzlich flammte überall in der Wohnung die künstliche Beleuchtung auf. Und nicht nur das: Jenseits der Fenster erstrahlten die Lichter der Stadt. Fernseher und Radio begannen zu plärren.
Der Platz auf dem Sofa jedoch war leer.
Keine Spur mehr von der unbekannten Besucherin.
Nachdenklich schritt Karina zum Radio und schaltete es ab. Auch den Fernseher stellte sie aus. Wohltuende Stille senkte sich über die Wohnung der Agentin, die fieberhaft darüber nachgrübelte, wer ihr da gerade die Aufwartung gemacht hatte.
Sie dachte an die blau leuchtenden Augen. Also doch Pandora?
Karina schluckte. Insgeheim hatte sie gehofft, dass diese Person mit Rasputins Vernichtung aufgegeben hatte und sich anderen Bereichen widmete.* Dem war offenbar nicht so, und sollte sie tatsächlich mit Chandra gemeinsame Sache machen, standen Karina schwere Zeiten bevor.
Und nicht nur ihr.
Kurz überlegte sie, John Sinclair anzurufen, verwarf diesen Gedanken jedoch in derselben Sekunde. Sie hatte noch nicht genug Anhaltspunkte, um den Geisterjäger zu involvieren. Auf keinen Fall wollte sie die Pferde scheu machen.
Aber sie würde auch nicht tatenlos in der Wohnung sitzen und so tun, als ob nichts geschehen wäre. Die Adresse von Nina Poljakowa herauszufinden, stellte für Karina Grischin kein Problem dar.
Fünfzehn Minuten später saß sie in einem Taxi, auf dem Weg zu einem der am besten bezahlten Callgirls der Stadt.
✰
Das Haus, in dem Nina Poljakowa wohnte, lag am nördlichen Ufer der Moskwa.
Nicht weit von der Duran Bar entfernt, einem der angesagtesten Clubs von Moskau, in dem sich die Reichen und Schönen die Klinke in die Hand gaben.
Auch Nina Poljakowa war dort ein und aus gegangen.
Es hatte Karina nicht gewundert, dass beim FSB eine Akte über sie existierte. Ebenso wie über ihren Bruder Nikolai. Doch während er sein Dasein als Randnotiz fristete und gerade mal als Kleinganove bezeichnet werden konnte, sah das bei Nina ein wenig anders aus.
Die Edelprostituierte verkehrte ausschließlich in gehobenen Kreisen. Ihre Kunden waren Oligarchen und kriminelle Autoritäten.
Sie selbst stammte aus einer winzigen Oblast in Sibirien und war mit achtzehn Jahren nach Moskau gegangen, wo sie eine der zahlreichen Luder-Akademien besucht hatte. Dort lernten junge Frauen, wie man sich einen reichen Mann angelt.
Nur dass Nina offenkundig kein Interesse daran gehabt hatte, sich nur von einem einzigen Mann abhängig zu machen. Und sie hatte es überaus geschickt angestellt. Anscheinend hatte sie außerordentliche Qualitäten und Fähigkeiten, denn die Kunden zahlten für ein paar Stunden mit Nina wahre Unsummen.
Und da die Oligarchen nicht gerne teilten, griffen sie tief in die Tasche, damit Nina jederzeit und für sie verfügbar war. So war unter den Mächtigen der Stadt ein regelrechter Preiskampf entbrannt, der Ninas Wert schlagartig in die Höhe getrieben hatte.
Zuletzt hatte Valentin Gussew das Rennen gemacht, einer der ganz Großen der Moskauer Unterwelt. Aalglatt und mit allen Wassern gewaschen. Er machte nicht nur in Immobilien, er stand auch im Verdacht, mit Waffen und Menschen zu handeln.
Außerdem besaß er seine eigene Sicherheitsfirma und stellte das Dach für mehrere Bars und Nachtclubs, was nichts anderes bedeutete, als dass die Besitzer der Etablissements Schutzgeld an ihn abdrückten. Was wiederum hieß, dass die Lokale im Prinzip ihm gehörten.