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Die Schreie waren so laut, dass sie Mengi aus dem Schlaf rissen.
Der junge Tuwiner war sofort hellwach. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, schlüpfte in die gefütterten Stiefel und rannte aus der Jurte. Draußen empfing ihn nicht nur der kalte Wind, der von den Bergen hinunter ins Tal wehte, sondern auch das aufgeregte, heisere Bellen von Khan, dem Hirtenhund, in das sich das schrille Gebrüll des Viehs mischte.
Mengis Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Er war mit Yaks aufgewachsen, hatte sein gesamtes Leben mit ihnen verbracht. Jeden einzelnen Tag. Doch solche Schreie hatte er noch nie vernommen.
Das Tier, das sie ausstieß, musste entsetzliche Qualen leiden ...
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2021
Cover
Im Auftrag des Bösen
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Im Auftrag des Bösen
von Ian Rolf Hill
Die Schreie waren so laut, dass sie Mengi aus dem Schlaf rissen.
Der junge Tuwiner war sofort hellwach. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett, schlüpfte in die gefütterten Stiefel und rannte aus der Jurte. Draußen empfing ihn nicht nur der kalte Wind, der von den Bergen hinunter ins Tal wehte, sondern auch das aufgeregte, heisere Bellen von Khan, dem Hirtenhund, in das sich das schrille Gebrüll des Viehs mischte.
Mengis Herz klopfte ihm bis zum Hals.
Er war mit Yaks aufgewachsen, hatte sein gesamtes Leben mit ihnen verbracht. Jeden einzelnen Tag. Doch solche Schreie hatte er noch nie vernommen.
Das Tier, das sie ausstieß, musste entsetzliche Qualen leiden ...
»Steh nicht rum. Hilf mir!«
Ein Lichtstrahl durchschnitt die Finsternis. Er stammte von einer Taschenlampe, die Sendin, Mengis Frau in der Hand hielt. Das weiße Nachthemd flatterte wie eine Fahne um ihren kräftigen Körper.
Auch in die anderen Jurten kam jetzt Leben.
Mengis Schwiegereltern stürzten ebenso ins Freie, wie sein Schwager mit seiner Frau Tura. Galsan hielt sogar die Flinte in der Hand. Er nahm wohl an, dass ein Bär oder Wolf die Herde angegriffen hätte.
Die aufgeregten Rufe von Mengis Sippe gingen im Lärm der tobenden Tiere unter.
Der junge Viehhirte hielt sich nicht lange mit Erklärungen auf, er eilte seiner Frau hinterher, die in der Zwischenzeit das winzige Gatter erreicht hatte. Sie hatten es erst am vergangenen Tag errichtet, um die trächtige Kuh vom Rest der Herde zu trennen.
Ein massiger Schatten fegte aus der Dunkelheit in den Strahl der Taschenlampe. Es war Khan, der grau bepelzte Hütehund, der aufgeregt zwischen den Menschen hin und her sprang. Er gebärdete sich wie toll, sodass Mengi und Sendin Mühe hatten, das Gatter zu öffnen.
»Ist es so weit?«, schrie Galsan über den Lärm hinweg.
Mengi starrte seinen Schwager entgeistert an. Woher sollte er das wissen? Außerdem hatte er sowieso keine Zeit zum Antworten. Er hatte alle Hände voll damit zu tun, Khan zur Räson zu bringen. Mit beiden Händen griff er in den dichten Pelz am Hals des Hundes und hielt ihn fest, sodass Sendin den Pferch öffnen konnte.
Galsan und Tura halfen Mengi derweil, Khan zu bändigen, damit er Sendin beistehen konnte. Sein Blick schweifte über das anliegende Gatter, in dem der Rest der Yak-Herde eingepfercht war. Er stutzte und hielt seine Frau am Arm fest.
»Wo sind die anderen Tiere?«, schrie er.
Sendin befreite sich mit einer unwilligen Geste und wollte sich wieder dem Pferch mit der trächtigen Kuh zuwenden, da bemerkte auch sie, dass etwas nicht stimmte. Sie hob den Arm mit der Taschenlampe und ließ den Strahl über das Gatter gleiten, das augenscheinlich verwaist war.
Wie war das möglich? Er selbst hatte ihn doppelt und dreifach überprüft, ehe er sich schlafen gelegt hatte. War Khan deshalb so aus dem Häuschen? Weil die Herde davongelaufen war?
Mengi seufzte und sah sich im Geiste bereits den ganzen Tag über Yaks einfangen, als der Lichtkegel die Tiere erfasste und aus der Finsternis schälte. Der Hirte wollte aufatmen, doch die Luft blieb ihm im Halse stecken.
Die Yaks drängten sich am anderen Ende des Gatters auf engstem Raum zusammen, so als fürchteten sie sich. Und noch etwas fiel Mengi auf. Die Tiere standen genau an der Stelle, die am weitesten vom Pferch der trächtigen Kuh entfernt war.
Die Gedanken des jungen Tuwiners überschlugen sich. Hätte ein Raubtier sie überfallen, hätten sie das längst mitbekommen. Außerdem hätte sich Khan dann nicht so seltsam aufgeführt, sondern wäre viel aggressiver gewesen.
Von einer Sekunde zur anderen verstummte das schrille Gebrüll der Kuh. Khans Bellen verkümmerte zu einem ängstlichen Winseln.
Mengi schüttelte die Benommenheit ab, schob Sendin zur Seite und zog das Tor des Pferchs auf. Seine Frau schwenkte den Arm mit der Taschenlampe, damit der Strahl an ihm vorbei auf das trächtige Yak fallen konnte.
Das Blut rauschte Mengi in den Ohren. Schlagartig wurde ihm speiübel.
Die Kuh lag auf der Seite, mit dem Hinterteil zum Tor des Gatters. Die abgespreizten Läufe zitterten, der Kopf des Tieres verschwand hinter dem aufgeblähten Leib. Mengi wurde bei dem Anblick des pulsierenden Bauches an einen überdimensionalen Blasebalg erinnert, der unablässig pumpte.
Der Hirte stürzte neben dem Yak auf die Knie und strich mit beiden Händen über den gewölbten Leib. »Schnell, es ...« Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken. Eine eiskalte Klaue schien nach seinem Herzen zu greifen. Ein Blick in die verdrehten, weiß hervorquellenden Augen des Yaks genügte, um zu erkennen, dass das Tier tot war.
Er spürte bereits, wie sich der Körper unter dem Fell abkühlte.
Dennoch presste er in einem letzten Akt der Verzweiflung neues Leben hervor!
Sendin kniete am Hinterteil der toten Kuh, ihr Gesicht war verzerrt, der Schweiß glänzte im Licht der Taschenlampe, die sie kurzerhand ihrer Mutter in die Hand gedrückt hatte. Tura half ihr.
Galsan und sein Vater mussten Khan festhalten, der unvermittelt von Neuem zu toben begann. Die Angst schlug in blanken Hass um. Der Geifer flog ihm von den Lefzen. Wie toll stemmte er sich gegen die Griffe der Menschen, schnappte sogar nach Vaters Hand, der dem Hund kurzentschlossen die Faust auf die Nase drosch. Khan schien es nicht mal zu registrieren.
Hätten die Männer ihn losgelassen, hätte sich der Hund in blinder Raserei auf die Frauen gestürzt. Nein, nicht auf die Frauen, begriff Mengi, sondern auf das Kalb, das sich aus dem Kadaver der Mutter schob und dabei schrille, quiekende Laute ausstieß, die dem Hirten das Blut in den Adern gefrieren ließen.
Eine dunkle Flüssigkeit spritzte aus dem geweiteten Spalt, aus dem sich das Neugeborene heraus quälte. Sie prasselte gegen die Frauen und verbreitete einen stechenden und zugleich fauligen Gestank.
Das Quieken wurde lauter, stach schmerzhaft in Mengis Ohren. Sendins Augen weiteten sich in fassungslosem Entsetzen. Wie weiße Murmeln leuchteten sie in dem über und über mit schwarzem, fauligem Blut bedeckten Antlitz.
Und dann fing seine Frau an zu kreischen, wie noch nie zuvor in ihrem Leben.
✰
Mongush, der Schamane, konnte nicht schlafen.
Seit drei Nächten war es ihm nun schon nicht vergönnt gewesen, die Augen zu schließen und Frieden zu finden. Das lag jedoch nicht allein an der inneren Unruhe, sondern auch an dem fahlgrünen Licht, das aus dem Stein drang, den er hütete wie seinen Augapfel. Und noch mehr.
Er war sich der Verantwortung, die er durch die Inbesitznahme des Artefakts übernommen hatte, sehr wohl bewusst. Es gab genügend Personen, die das Kometenfragment gerne in ihre Hände beziehungsweise Klauen bekommen hätten, und die wenigsten davon waren menschlicher Natur.
Doch die Macht, die in diesem Stein schlummerte, war enorm. Selbst Rasputin hatte sie nicht zur Gänze ausloten können. Sie durfte nicht in falsche Hände geraten, und deshalb hätte Mongush besagten Augapfel ohne Zögern geopfert, um den Kometen zu beschützen.
Der Schamane konnte die Kraft, die ihm innewohnte, körperlich spüren. Sie wurde in Wellen abgegeben, die Mongush trafen wie Sturmböen und ihn prompt von den Beinen riss, als er sich vom Bett erhob, das im Prinzip keines war. Der alte Mann schlief auf einer schlichten Matratze, die ohne Gestell in der Jurte lag. Dementsprechend gab es auch keinen Bettpfosten, an dem er sich hätte festhalten können. Mongush stürzte auf die durchgelegene Unterlage und starrte erschrocken auf das Kometenfragment, das in der Mitte seiner Behausung auf einem kleinen Altar ruhte.
So schlimm wie heute war es noch nie gewesen. Irgendetwas musste den Stein aktiviert haben.
Auf allen vieren kroch Mongush auf das Gestell zu. Auf dem Weg dorthin ergriff er die Rahmentrommel und stimmte den traditionellen Kehlkopfgesang der tuwinischen Schamanen an, um die Elementargeister zu besänftigen.
Mongush war sicher, dass sie es waren, die die Kraft in dem Kometen geweckt hatten. Von selbst war er mit Sicherheit nicht aktiv geworden.
Er hatte lange genug geforscht, um zu wissen, dass der Stein weder über eigene Magie noch ein Bewusstsein verfügte. Das Fragment fungierte lediglich als Katalysator, beziehungsweise Verstärker.
Für einen gewöhnlichen Menschen wäre dies nichts weiter als ein Stück Weltraumgestein. Möglicherweise interessant für Geologen oder Astronomen, doch kaum von materiellem Wert.
Wind kam auf und zerrte wütend an dem schlichten Leinengewand, das um Mongushs hageren Leib schlackerte. Die Wände der Jurte begannen so laut zu knattern, dass der Schamane befürchtete, das Rundzelt könnte jeden Moment davon wirbeln. Ein Rauschen und Heulen setzte ein.
Mongush verstärkte den Gesang, schlug die Rahmentrommel kräftiger, und dann – von einer Sekunde auf die andere – schlief der Wind ein.
Das Jammern und Heulen verstummte ebenso wie das Knattern und Rauschen. Nur der Kehlkopfgesang des Schamanen und das Schlagen der Trommel hallten noch für wenige Herzschläge nach. Erst nachdem Mongush die Augen aufschlug und sah, dass sich der grünlich pulsierende Lichtschein abgeschwächt hatte, verstummte er.
Erschöpft ließ er die Trommel sinken und neigte demütig das Haupt. Sein Atem ging schwer und schnell. Der Gesang hatte an seinen Kräften gezerrt. Hinzu kam der Mangel an Schlaf, doch Mongush, war sich im Klaren darüber, dass er auch diese Nacht kein Auge zu tun würde.
Es war noch nicht vorbei. Noch lange nicht.
Das Klagen der Geister war nicht mehr als eine Warnung gewesen. Mühsam quälte sich Mongush auf die Beine, lauschte dem Knacken der Gelenke und spürte das Reißen in den Gliedern. Auch an ihm waren die Jahre nicht spurlos vorübergegangen.
Mit hängenden Schultern trat der Schamane aus dem Zelt. Eiskalter Wind strich über sein erhitztes, schweißfeuchtes Gesicht, in das sich tiefe Falten gegraben hatten. Nur wenige Schritte entfernt wälzte sich der Jenissei in seinem Bett quer durch Sibirien Richtung Polarmeer.
Obwohl es Nacht war, war es hier im Aldyn-Bulak, dem ethnischen Zentrum von Tuwa, nicht dunkel. Zwischen den schneeweißen Jurten unterschiedlichster Größe, die scheinbar wahllos verstreut am Ufer des Jenissei standen, erstreckten sich zahlreiche von Laternen beleuchtete Wege, die einer bestimmten Geometrie folgten, die dem Verlauf der Gestirne am Himmelszelt entsprachen.
Die Jurten selbst dienten als Abbilder der Sonne und ihrer Planeten.
Zwischen Siedlung und Fluss erhob sich ein kleiner Gebirgskamm, der wie der Rücken eines urzeitlichen Ungeheuers in die Höhe ragte. Schnee, der hier unten im Tal längst geschmolzen war, lag auf den Gipfeln.
Ein schmaler, ebenfalls beleuchteter Pfad führte zu einer Einkerbung inmitten zweier Bergspitzen hinauf. Dort erhob sich ein Tor zu Ehren Buddhas, durch das man einen Blick über das weitläufige Tal mit seinen schier endlos erscheinenden Wäldern und Gebirgszügen schweifen lassen konnte.
Hier, in der Abgeschiedenheit der Taiga, fiel es schwer, daran zu glauben, wie sehr die Natur unter der wachsenden Weltbevölkerung und ihrem nimmersatten Hunger nach Luxus und Wohlstand zu leiden hatte. Kaum vorstellbar, dass ausgerechnet hier das Böse Einzug halten sollte.
Und doch konnte Mongush die Warnungen nicht ignorieren.
Mit einem Mal wurde ihm bewusst, weshalb ihn der Bruder Schlaf mied und ihm kein Frieden vergönnt war. Es war die Schuld, die schwer auf seinen mageren Schultern lastete.
Das Böse war auf dem Weg nach Aldyn-Bulak, weil er es eingeladen hatte!
Er hatte den Kometen hierhergebracht, in der irrigen Annahme, er wäre an diesem Ort vor dem Zugriff der Hölle und ihrer Diener sicher.
Die Jurte von Mongush stand am Rande des ethnischen Zentrums, nahe des Waldes, der selbst in der Nacht nicht zur Ruhe kam. Obwohl sich zwischen den dichtstehenden Stämmen der Fichten die Dunkelheit ballte, war der Wald stets von Leben erfüllt. Irgendwo knackte und raschelte stets irgendein nachtaktives Tier. Käuze schrien, und Wölfe heulten. Nur heute blieb es still.
Eine Gänsehaut rieselte Mongush über die Wirbelsäule. Aus dem Augenwinkel bemerkte er die anderen Schamanen, die sich zögernd aus ihren Jurten wagten. Auch sie hatten den Aufruhr der Geister gespürt, und ihre Besorgnis blieb Mongush nicht verborgen.
Es war Kenim Lobshan, der Älteste und Weiseste ihrer Gemeinschaft. Sein genaues Alter war nicht bekannt, doch es musste weit über neunzig Jahren liegen. Wurde Mongush danach gefragt, behauptete er stets, Kenim wäre schon alt gewesen, als er noch ein junger Mann gewesen war.
»Die Geister sind erregt!«, begrüßte Kenim den Schamanen. »Sie fürchten das Böse.«
»Ich habe sie bereits besänftigt«, erklärte Mongush.
Kenims Augen funkelten im Licht der Laternen wie winzige Ölflecken im schrundigen Tal seines faltigen Antlitzes. »Glaubst du wirklich?«
Mongush schwieg. Kenim Lobshan konnte er nichts vormachen, und mit einem Mal kam er sich töricht vor. Wie ein blutiger Anfänger. Oder schlimmer noch, wie einer jener Touristen, die scharenweise herbeigekarrt wurden, um einen Hauch von Exotik in ihre tristes, von selbst auferlegten Zwängen bestimmtes Leben zu bringen.
»Du hättest niemals hierher zurückkehren dürfen, Jagun. Du hast uns alle in Gefahr gebracht.«
»Ich hatte keine andere Wahl. Der Stein ist zu gefährlich. Wohin hätte ich ihn denn bringen sollen?«
»Du hättest ihn zerstören können.«
Mongush schüttelte den Kopf. »Du weißt, dass das nicht so einfach ist. Nichts auf dieser Welt verschwindet für immer, alles ist in den endlosen Kreislauf des Lebens eingebunden.« Er streckte den Arm aus und deutete zum Fluss hinüber, auf dessen Wellen das Licht des Mondes glitzernde Reflexe warf. »So wie das Wasser des Jenissei sich in das Meer ergießt, um irgendwann als Regen wieder auf die Erde hinab zu fallen, damit es erneut aus der Quelle in den Fluss strömen kann, so wird auch der Stein immer ein Teil der Schöpfung bleiben. Selbst wenn wir ihn einschmelzen oder zu Staub zermahlen, bleibt seine Kraft erhalten.«
»Doch es wird niemanden geben, der sie dann noch nutzen könnte.«
»Du unterschätzt das Böse.«
Kenim zwinkerte und mahlte mit den Kiefern. »Tue ich das? Oder suchst du lediglich nach Ausreden, um den Stein behalten zu können?«
»Du glaubst, dass ich ihn absichtlich behalte, weil ich seiner Macht erlegen bin?« Für die Dauer eines Wimpernschlags gab sich Mongush der Empörung hin. Bis er begriff, dass Kenim ihn mit der Bemerkung keineswegs hatte angreifen wollen. »Verzeih mir.«
Das weise Oberhaupt der Schamanen neigte den Kopf. »Du weißt, dass ich nie an dir gezweifelt habe, Jagun. Du warst ein gelehriger Schüler und dir deiner Verantwortung stets bewusst. Für dich war der Kampf gegen das Böse eine Berufung. Eine Bestimmung, der du dich nicht entziehen konntest. Sie hat dich sogar bis nach England geführt. Aber auch du musst einsehen, dass es Kräfte gibt, gegen die wir machtlos sind.«
Mongush spürte die Flamme des Zorns in sich auflodern und erschrak vor dieser Empfindung. Sie beschämte ihn, denn sie bestätigte Kenims Worte. Bevor er eine Antwort geben konnte, bemerkte er eine Bewegung am Rand des Waldes.
Eine Gestalt löste sich aus den Schatten zwischen den Bäumen, wankte auf die beiden Schamanen zu. Mongush hielt den Atem an. Ein Windstoß rauschte durch die Kronen der Bäume und fuhr in das Lager, wo die Laternen mit einem Schlag erloschen.
Dunkelheit senkte sich über das Tal!
Nur langsam gewöhnten sich die Augen an den schwachen Schein des Mondes, der das Gesicht des Neuankömmlings in fahles Licht tauchte.
Und da wusste Mongush, dass das Böse, das er zu vertreiben gesucht hatte, den Weg zu ihm gefunden hatte.
✰
Einen schrecklichen Moment lang glaubte Mongush, es wäre ein zum Leben erweckter Leichnam, der auf ihn und Kenim Lobshan zuwankte. Er hatte bereits Erfahrungen mit Untoten gesammelt und kannte ihre eckigen, abgehackten Bewegungen.
Vor Jahren hatten Zombies die Kanalisation von Moskau unsicher gemacht. Mongush hatte sie gesehen und das Schlimmste verhindern können, indem er Karina Grischin informierte, die wiederum den Geisterjäger John Sinclair mit ins Boot geholt hatte.
Auf die Hilfe von Karina und ihrer englischen Freunde musste Mongush dieses Mal verzichten, daher atmete er erleichtert auf, als er erkannte, um wen es sich bei dem nächtlichen Besucher handelte. Es war Mengi, der Viehhirte, der mit seiner Familie nur wenige Meilen entfernt lagerte.
Die weißen Schleier, die bei jedem Atemzug aus seinem Mund wölkten, verrieten Mongush, dass der junge Mann kein Wiedergänger war, sondern ein lebendiger Mensch. Allerdings einer, der unter enormem Stress stand.
Die Angst stand ihm förmlich ins Gesicht geschrieben, der Schweiß rann in Strömen über sein bleiches Antlitz. Ein Leinensack von beträchtlicher Größe lag über der Schulter.
Mongush schüttelte den Kopf. Ein schwerer Klumpen bildete sich in seinem Magen und wanderte die Speiseröhre hinauf, wo er sich in der Kehle festsetzte und ihn am Sprechen hinderte.
»Weshalb bist du gekommen?«, fragte Kenim Lobshan.
»W...weil ich mir keinen anderen Rat wusste«, stammelte Mengi. »Unsere Kuh hat heute Nacht gekalbt.«
»Falls du unseren Segen erbitten möchtest, hättest du bei Tageslicht kommen können.«
»Nein.« Mengi schüttelte den Kopf. Seine Stimme klang flehend. Fast wie die eines Kindes, das verzweifelt darüber ist, dass die Erwachsenen es nicht verstünden. »Ihr versteht nicht. Die Kuh ist noch vor der Niederkunft gestorben. Das Kalb kurz danach.«
»Das tut mir leid, aber ...«
»Warum bist du zu Fuß gekommen?«, unterbrach Mongush seinen Mentor.
Der furchtsame Blick des Viehhirten heftete sich auf den Schamanen. »Die Pferde haben gescheut. Sie haben ausgekeilt und nach mir getreten. Jedes Tier hätte mich abgeworfen.«
Mongush schwieg und sah an Mengi vorbei in den finsteren Wald, der noch immer in bedrückender Stille vor ihnen lag. Danach richtete er seine Aufmerksamkeit auf den Leinensack.
»Was ist da drin?«
»Der Grund für mein Kommen. Und gleichzeitig auch der Grund für die Panik der Pferde.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht«, erklärte Kenim.
»Das werden Sie gleich«, erwiderte Mengi und wuchtete sich den Sack von der Schulter. Die zusammengeknüllte Öffnung rutschte ihm aus den gefühllosen Fingern, sodass der Leinenbeutel aufklaffte. Die dünnen Gliedmaßen eines neugeborenen Kalbes ragten daraus hervor.
Mongush ächzte, und selbst Kenim Lobshan atmete scharf durch die Nase ein. Der Schamane wusste, wozu die Mächte der Finsternis fähig waren, trotzdem war er geschockt.
Die Beine des Kalbes waren nicht normal gewachsen, sondern gewunden wie Korkenzieher. Doch das war noch längst nicht alles, wie Mongush und Kenim feststellen mussten, als Mengi am Ende des Sacks zog, sodass der gesamte von blutigem Schleim überzogene Kadaver ins Freie rutschte.
Mit einem Schrei auf den Lippen prallte Kenim Lobshan zurück.
»Verbrennt es!«, keuchte er. »Verbrennt dieses Ding auf der Stelle!«