John Sinclair 2243 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2243 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Das Wimmern drang nur gedämpft durch den derben Stoff des Knebels, dessen Riemen sich tief in die Mundwinkel des Mädchens gruben, sodass es aussah, als würde es grinsen.
Merkwürdig, dachte der Engelmann. Wie nah doch Freude und Schmerz, Lust und Qual beieinanderliegen.
Tränen, dick und salzig, quollen zwischen den zusammengekniffenen Lidern hervor. Sein Herz schlug vor Erregung schneller. Hastig beugte er sich vor und nahm den Tropfen mit der Spitze seiner Zunge in Empfang. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass das Mädchen die Augen geöffnet hatte und ihn anstarrte. Der Blick ließ keinen Zweifel daran, was es empfand.
Münder logen. Sehr oft sogar. Augen dagegen nie. Sie spiegelten stets die wahren Empfindungen wider. Furcht und Agonie. Sowie die stumme Bitte um Erlösung.
"Gräme dich nicht, Baby Grace, bald hast du es überstanden", wisperte er. "Nur noch wenige Stunden, und du bist unsterblich. Auf ewig konserviert. Leidest weder Hunger noch Schmerz. All dies wirst du mit meiner Hilfe überwinden. Ich bringe dich dorthin, wo ewige Glückseligkeit herrscht. Jenseits der Qual!"


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Seitenzahl: 156

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Inhalt

Cover

Jenseits der Qual

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Jenseits der Qual

von Ian Rolf Hill

Das Wimmern drang nur gedämpft durch den derben Stoff des Knebels, dessen Riemen sich tief in die Mundwinkel des Mädchens gruben, sodass es aussah, als würde es grinsen.

Merkwürdig, dachte der Engelmann. Wie nah doch Freude und Schmerz, Lust und Qual beieinanderliegen.

Tränen, dick und salzig, quollen zwischen den zusammengekniffenen Lidern hervor. Als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass das Mädchen die Augen geöffnet hatte und ihn anstarrte. Der Blick ließ keinen Zweifel daran, was es empfand. Furcht und Agonie. Sowie die stumme Bitte um Erlösung. Begriff sie denn nicht, was für ein Privileg ihr zuteilwurde? Welch eine Ehre?

»Gräme dich nicht, Baby Grace, bald hast du es überstanden«, wisperte er. »Nur noch wenige Stunden, und du bist unsterblich. Auf ewig konserviert. Leidest weder Hunger noch Schmerz. All dies wirst du mit meiner Hilfe überwinden. Ich bringe dich dorthin, wo ewige Glückseligkeit herrscht. Jenseits der Qual!«

Für Fidel

24. März 2012 – 24. Dezember 2020

»Macht euch auf einiges gefasst!«

Der Satz hallte wie ein Echo in meinem Schädel wider, während ich neben Suko in dem Audi saß, den mein Partner mit traumwandlerischer Sicherheit durch Londons verstopfte Straßen steuerte. An der Themse entlang, an Charing Cross vorbei und an der Temple Station Richtung Norden, wo kurz darauf die klassizistische Fassade des Britischen Museums in Sicht kam.

Ich hatte schon häufiger hier zu tun gehabt, meistens im Zusammenhang mit ägyptischer beziehungsweise pharaonischer Magie. Automatisch tastete ich nach dem geweihten Kreuz, das an einer silbernen Kette um meinen Hals hing. Eine Erwärmung spürte ich bislang nicht, doch das musste nichts bedeuten. Wir waren ja noch einige Dutzend Meter entfernt. Trotzdem nah genug, um die zuckenden Blaulichter zu erkennen.

»Wie ein gewöhnlicher Fund- oder Tatort sieht mir das aber nicht aus«, sagte Suko. Er stoppte vor einer Straßensperre und deutete auf den Kastenwagen des CTC, des Anti-Terror-Kommandos, der hinter der Barriere stand.

Kollegen in voller Montur, zu der unter anderem schusssichere Westen und Maschinenpistolen gehörten, sorgten dafür, dass sich niemand dem Museum näherte. Auf den Gehwegen standen sich die obligatorischen Gaffer die Beine in den Bauch, darunter auch zahlreiche Journalisten.

Ich ertappte mich dabei, dass ich Ausschau nach meinem Freund Bill Conolly hielt. Er war zwar nicht mehr so sensationslüstern wie früher, doch Aktionen solcher Größenordnung weckten noch heute seine Neugier. Wir konnten eben alle nicht aus unserer Haut.

»Wäre es ein gewöhnlicher Tatort wären, wir auch nicht hier, mein Lieber«, gab ich zu bedenken und zückte den Ausweis. »Und dann hätte Tanner auch nicht so ein Geheimnis gemacht.«

»Er klang am Telefon ziemlich nervös.«

»Genau das bereitet mir ja Bauchschmerzen.« Ich zeigte dem Bewaffneten meine Legitimation. Er gab seinen Kollegen einen Wink, die daraufhin, die Straßensperre öffneten. Suko fuhr vor das Museum, wo mehrere Einsatzfahrzeuge parkten. Darunter der Wagen des Gerichtsmediziners sowie der unseres alten Spezis Chiefinspektor Tanner.

Suko stoppte daneben, und wir stiegen aus. Schiefergraue Wolken hingen tief am Firmament. Es würde Regen geben, eher früher als später. Nur ein weiteres Gewicht, das auf meine Stimmung drückte. Mit meinem miesen Bauchgefühl hatte das schlechte Wetter allerdings nichts zu tun. Das ging allein auf das Konto jenes Mannes, der uns aus dem morgendlichen Büroschlaf geweckt hatte.

Chiefinspektor Tanner war niemand, der die Pferde scheu machte, und gewiss kein Mann, den man mit Begriffen wie Emotionalität und Theatralik in Zusammenhang brachte. Normalerweise versorgte er uns vorab immer mit ein paar Informationen, bevor er uns anrief. Dass er das in diesem Fall unterlassen hatte, war bezeichnend.

Weit mehr beunruhigte mich jedoch das leichte Zittern in seiner Stimme. Es gehörte schon verdammt viel dazu, den Chef der Mordkommission der City of London aus der Fassung zu bringen. Vor allem, weil er häufiger mit unserer Abteilung zusammenarbeitete. Er wusste, zu was Dämonen, Geister und Untote fähig waren.

»John?« Sukos Stimme half mir zurück in die Wirklichkeit.

Mein Partner stand neben einem jungen Kollegen, der bleich wie ein Laken war. Seine Unterlippe zitterte sogar leicht.

»F...folgen Sie mir bitte«, stammelte er und eilte die Stufen hinauf in Richtung Eingangsportal, das im Schatten meterdicker Säulen lag. Auch hier standen bewaffnete Männer in Uniform und sicherten die Umgebung.

Ich hielt es nicht länger aus und fragte den Kollegen, was hier vor sich ging. »Eine Terrorwarnung?«

»N...nein, Sir«, erwiderte der Jungspund einsilbig, nur um leiser hinzuzufügen: »So was habe ich noch nicht gesehen. So was habe ich noch nicht gesehen!«

Kaum hatten wir das Portal passiert, als er seine Schritte beschleunigte. In der Eingangshalle des Museums wimmelte es von Polizisten und Leuten von der Spurensicherung. Das bläulich schimmernde Kuppeldach lief in der Mitte trichterförmig zusammen und mündete in einem säulenförmigen Separee.

Davor stand ein Zelt aus weißer Plane, das so aussah, als wäre es von den Kollegen aufgestellt worden. Das ungute Gefühl in meinem Magen verdichtete sich zu einem schweren Klumpen. Mein Puls beschleunigte sich.

Wir marschierten hinter dem jungen Beamten her und lauschten dabei dem Echo unserer Schritte, das sich mit dem Tohuwabohu aus Stimmen, dem Bimmeln von Handys und dem Klicken der Fotoapparate mischte.

»Warten Sie bitte!«, sagte der Uniformierte plötzlich.

Suko und ich waren so verdutzt, dass wir gehorchten. Ich sah mich um, und mein Blick fiel auf die offene Tür eines Büros, vor dem mehrere Kollegen Posten bezogen hatten. In dem Raum selbst sah ich die neongelben Warnwesten von Rettungskräften und Notärzten, die sich um einige Zivilisten kümmerten.

»Mir egal, ob die Ministranten besorgt sind. Das Museum bleibt vorerst geschlossen.«

Tanners polterndes Organ dröhnte durch die Eingangshalle und wurde mit jedem Schritt, der uns dem Chiefinspektor näher brachte, lauter.

»Keine Ahnung. Auf alle Fälle noch heute.«

Unser Freund sah eigentlich aus wie immer. Beiger Trenchcoat über grauem Anzug und auf dem Kopf der unvermeidliche Filzhut, den er selbst im Inneren des Museums partout nicht abnehmen wollte. Sein zerknautschtes Gesicht war rot angelaufen. Nur die Lippen hatten einen Stich ins Bläuliche.

»Ja, wenn ich was Neues weiß, erfahren Sie es als Erste.«

Er nahm das Handy vom Ohr, in das er bis eben hineingebrüllt hatte, und blieb schnaufend vor uns stehen. Hätte ich ihn nicht schon ein Weilchen gekannt, hätte ich mir ernsthaft Sorgen gemacht. Um seinen Gesundheitszustand und unser Leben. Der Vergleich mit einem wutschnaubenden Stier drängte sich förmlich auf.

»Na endlich!«, bellte er uns an. »Warum hat das so lange gedauert?«

Suko und ich wechselten einen alarmierten Blick. Tanner war nicht zu Scherzen aufgelegt, also galt es, Vorsicht walten zu lassen.

»Rushhour«, erklärte mein Freund und Kollege. »Schon mal von gehört? Du hast nichts davon gesagt, dass wir mit Blaulicht und Sirene anrücken sollen.«

»Schon gut, kommt einfach mit.«

Er wollte sich umdrehen, doch so leicht ließ ich ihn nicht davonkommen.

»Kannst du uns mal erklären, was hier vorgeht?« Ich deutete mit dem Daumen über die Schulter. »Draußen steht das Anti-Terror-Kommando und riegelt das gesamte Gelände ab. Befürchtet ihr einen Anschlag?«

Er winkte ab. »Das ist doch nur für die Presse und die Schaulustigen. Aber irgendeine Erklärung mussten wir schließlich abgeben.«

»Und eine Panik riskieren?«, fragte Suko ungläubig.

Tanner schnaubte. »Wegen einer Bombendrohung gerät heutzutage niemand mehr in Panik. Du siehst doch, was draußen los ist. Die Einzigen, die nervös sind, sind die Damen und Herren des Innenministeriums.« Er hob das Handy und ließ es in der Tasche des Trenchcoats verschwinden.

Ich grinste schief. »War das etwa der Commissioner?«

»Höchstpersönlich.«

»Hoffentlich nimmt sie es dir nicht übel, dass du sie angebrüllt hast.«

»Hab ich gebrüllt?«, fragte er, offenbar ernsthaft verblüfft. »Na ja, sie wird drüber hinwegkommen. Ich hoffe, ich könnte das auch von den Zeugen behaupten.« Er deutete auf die offene Bürotür. »Oder von mir.«

»So schlimm?«, fragte ich.

»Noch schlimmer.« Hastig wandte sich Tanner ab und gab uns wortlos zu verstehen, ihm zu folgen. Vor dem Zelteingang blieb er stehen und musterte uns eindringlich. »Ich habe euch schon eine Menge kranke Scheiße gezeigt«, murmelte er. »Weiß Gott, das habe ich. Aber das war nichts im Vergleich zu dem, was ihr gleich zu Gesicht bekommen werdet. Ich hoffe, ihr habt nicht zu schwer gefrühstückt. Das hoffe ich wirklich.«

Ich kämpfte erfolgreich gegen den Drang, mit den Augen zu rollen an. »Nun komm schon, Tanner. Mach es nicht so spannend.«

»Wie du willst, John. Aber sag hinterher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.«

Vor uns betrat er das Zelt. Suko warf mir noch einen knappen Blick zu und folgte dem Chiefinspektor. Ich bildete das Schlusslicht. Und was ich dann zu sehen bekam, verschlug mir nicht nur die Sprache, es erschütterte mich bis in die Grundfesten meiner Seele.

»Kommen Sie ruhig herein, Mister Conolly. Ich beiße nicht!«

Die junge Frau, die dem Reporter die Tür geöffnet hatte, lächelte Bill an. Ihr Blick jedoch ging durch ihn hindurch. Das dichte schwarze Haar war zurückgebunden und gewährte freie Sicht auf zwei silbrig funkelnde Ohrringe. Die gebräunte Haut verriet die südländische Herkunft seiner Gastgeberin, die einen weit fallenden beigen Pullover und eine ausgewaschene Jeans trug.

»Das habe ich auch nicht angenommen«, erwiderte Bill lächelnd. »Es ist nur so, dass ich ein wenig überrascht bin.«

»Es tut mir leid, ich hätte Ihnen sagen sollen, dass ich blind bin.«

Bill schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht.«

»Sondern?«

Er streifte sich die Sohlen auf dem Schuhabtreter ab und betrat die kleine Wohnung in Brixton, südlich der City of London.

»Ich habe mir eine initiierte, weißmagische Hexe nur ein wenig anders vorgestellt.«

Amy Iman Zayed lachte. Laut und aus vollem Herzen.

»Da sind Sie nun wahrhaftig nicht der Einzige, Mister Conolly.«

Der Reporter blieb stehen und sah sich in der schmalen Diele um, von der vier Türen abzweigten. Ein eigentümlicher, aber nicht unangenehmer Geruch schlug ihm entgegen. Es roch nach Gewürzen, von denen er nur Sandelholz und Nelken identifizieren konnte.

»Wie viele weiße Hexen kennen Sie denn, Mister Conolly?«

Er trat zur Seite, um seine Gastgeberin vorbeizulassen. »Um ehrlich zu sein, bin ich schon einigen begegnet, Miss Zayed.« Bill dachte an die Zauberin Serena, die durch das Blut der heiligen Walburga unsterblich geworden war und für kurze Zeit bei den Conollys gewohnt hatte.

Und wenn er es ganz genau nahm, zählte auch seine Freundin Jane Collins zu diesem erlesenen Kreis. Trotzdem wäre er nie auf den Gedanken gekommen, sie so zu bezeichnen. Vielleicht, weil sie sich selbst nicht als solche betrachtete.

»Bitte nennen Sie mich Amy«, sagte die junge Frau und ging auf die offen stehende Tür zu seiner Rechten zu.

»Nur wenn du mich Bill nennst.«

»Das lässt sich einrichten.« Sie blieb vor der Tür stehen. »Möchtest du etwas trinken, Bill? Kaffee, Tee? Oder vielleicht ein Wasser?«

»Nein, danke. Im Moment nicht.«

Sie nickte verständnisvoll. »Du bist neugierig, weshalb ich dich hergebeten habe.«

»Ich kann es nicht leugnen. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ich angerufen werde, weil jemand Kontakt mit dem Jenseits aufgenommen hat.«

»Tatsächlich? Das wundert mich. Immerhin bist du für deine unkonventionellen Reportagen bekannt.«

»Deshalb überrascht es mich, dass du dich erst jetzt bei mir meldest.«

»Es bestand bislang keine Veranlassung. Es geht mir nicht um Publicity, wie du dir vielleicht denken kannst.« Amy betrat das Wohnzimmer, dessen Anblick Bill derart faszinierte, dass er glatt vergaß, zu antworten.

Das menschliche Gehirn schätzt keine Überraschungen, es schafft sich stets seine eigenen Bilder und Vorstellungen, basierend auf Erinnerungen und Erfahrungen, die sein Besitzer im Laufe des Lebens gesammelt hat. Manchmal entstanden daraus Vorurteile und Klischees. Auch Bill machte da keine Ausnahme. In diesem Fall musste sein Denkapparat gleich zwei Schubladen aufziehen. Die mit der Aufschrift »Blinde« und die mit dem Schild »Weiße Hexen«.

Erstere war gefüllt mit Bildern von penibel aufgeräumten Wohnungen, in denen jedes Möbelstück seinen angestammten Platz hatte, frei von jeglichem Kitsch und Nippes. Diese Vorstellung kollidierte ein wenig mit Bills Stereotypen von weißen Hexen, mit denen er Begriffe wie »Esoterik« oder »Naturheilkunde« assoziierte. Er wusste selbst nicht genau, was er erwartet hatte, aber gewiss nicht das geordnete Chaos, das sich seinen Blicken darbot.

Den Mittelpunkt des Raumes bildete die mit rotem Samt bezogene Couchgarnitur, die sich um einen Wohnzimmertisch gruppierte, der unter Zeitschriften und Büchern in Brailleschrift versank. Der aufgeklappte Laptop passte gerade mal so dazwischen.

Zwei Gemälde über dem Sofa zogen die Blicke des Besuchers auf sich.

Eines zierte das Konterfei des Musikers und Künstlers David Bowie, der den Zeigefinger der rechten Hand vor den halb geöffneten Mund hielt, welcher von einem avantgardistischen Bärtchen umrahmt wurde, wie es Bowie Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts getragen hatte.

Das zweite Bild zeigte die ägyptische Katzengöttin Bastet neben einem Ankh, dem berühmten Henkelkreuz.

Zwischen den Fenstern stand ein großformatiger Flachbildfernseher, dessen Anblick den Reporter zu einem irritierten Stirnrunzeln animierte. Einen solchen Gegenstand hatte er in der Wohnung einer Blinden am allerwenigsten erwartet.

Neben der Tür stand ein Regal, in dem sich nicht nur Bücher, CDs und Schallplatten aneinanderreihten, sondern auch eine imposante Stereoanlage nebst Kopfhörern ihren Platz gefunden hatte.

Die gegenüberliegende Wand wurde von einer Kommode dominiert, auf der ein ebenfalls rotes Seidentuch lag. Eine Schale für Räucherstäbchen stand ebenso darauf wie verschiedene Stücke ägyptischer Handwerkskunst. Dazu zählte neben der Büste der Nofretete auch ein aus Palmenblättern geflochtenes Körbchen sowie ein ellenlanger Obelisk, der der Nadel der Cleopatra, die am Ufer der Themse, nahe des Viktoria Embankment stand, nachempfunden war. Die Statuette einer schwarzen Katze, mit einem herzförmigen goldenen Medaillon vor der Brust, saß direkt neben dem Totengott Anubis, der als Mensch mit dem Kopf eines Schakals dargestellt wurde.

Bill konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, als er zwischen Kommode und Fenster tatsächlich einen hohen Kratzbaum bemerkte, der bereits starke Gebrauchsspuren aufwies. Ebenso wie das auf dem hochflorigen Teppich verteilte Katzenspielzeug, dessen Besitzer auf dem der Tür gegenüberliegenden Sessel thronte und ihn aus schmalen Augen musterte. Sie waren von solch einem intensiven Smaragdgrün, dass ihm unwillkürlich die ersten Zeilen aus dem Lied »Putting out fire« von Bowie in den Sinn kam:

See these eyes so green.

I can stare for a thousand years.

Colder than the moon.

It's been so long.

Ein Schauer rann Bill über den Rücken. Ihm war, als hätte Bowie die Zeilen allein für dieses Tier geschrieben, das trotz seiner fast schon spektakulär unspektakulären Fellfarbe, einen stolzen und erhabenen Eindruck machte. Der ausgeprägte dreieckige Katerkopf ließ den Reporter vermuten, es mit einem männlichen Tier zu tun zu haben.

Die Ohren waren selbst für eine Katze recht groß geraten.

Die Pfoten, sowie Brust, Bauch und Gesicht waren von weißem Fell bedeckt. Kopf und Rücken zeigten das typische dunkelgraue mit schwarzen Streifen durchwirkte Tarnmuster europäischer Hauskatzen.

Sekundenlang starrten sich Mensch und Tier an, dann maunzte der Kater, sprang vom Sessel und legte sich auf den Teppich, wobei er den Rücken krümmte und Bill das weiße Bauchfell präsentierte.

»Oh, da bin ich aber beruhigt. Ich hatte schon befürchtet, Fidel könne dich nicht ausstehen.«

Bill winkte ab und bückte sich. »Keine Bange, ich kann gut mit ...«

Katzen, hatte er sagen wollen, doch kaum streckte er die Hand nach Fidel aus, da sprang dieser auf und fegte unter protestierendem Miauen den Kratzbaum hinauf, der bedrohlich schwankte.

»Man sieht's«, bemerkte Amy trocken.

»Apropos sehen«, sagte Bill und richtete sich auf.

»Du bist irritiert wegen des Laptops und des Fernsehers?«

»Hauptsächlich wegen Letzterem, ja. Ist das so ungewöhnlich?«

»Für einen Sehenden nicht. Für die meisten Menschen bedeutet Blindheit ewige Dunkelheit. Aber ich kann durchaus gewisse Dinge erkennen, je nachdem wie hell oder dunkel es ist, beziehungsweise wie stark die Kontraste sind.« Sie grinste knapp. »Du siehst, ich taste mich also nicht ganz so blind wie ein Maulwurf durch die Welt.«

»Schon verstanden.« Bill schmunzelte, wurde aber schnell wieder ernst. »Du sagtest am Telefon, dass du Kontakt mit dem Jenseits aufgenommen hast, wie muss ich mir das vorstellen?«

Amy nickte und deutete auf den freien Sessel schräg vor der Tür. »Setz dich erst mal, dann redet es sich leichter.« Sie ging mit gutem Beispiel voran, indem sie sich auf das Sofa setzte und die Hände auf die Oberschenkel legte.

Die junge Frau machte auf Bill trotz ihrer guten Laune einen angespannten und nervösen Eindruck. Daher folgte er ihrer Einladung, schon allein aus dem Grund, um die Atmosphäre aufzulockern.

»Um ehrlich zu sein, hat das Jenseits mit mir Kontakt aufgenommen. Dazu musst du wissen, dass meine Familie aus Ägypten stammt.« Sie lächelte. »Na ja, das wird dich nicht sonderlich überraschen, denke ich.«

»Nicht wirklich«, erwiderte Bill amüsiert. »Bevor wir weitermachen, hast du etwas dagegen, wenn ich das Gespräch aufzeichne?«

»Absolut nicht.«

»Prima.« Bill holte sein Smartphone hervor und aktivierte die entsprechende App. »Amy, du bezeichnet dich selbst als initiierte weiße Hexe. Was muss ich mir darunter vorstellen?«

»Das habe ich letztendlich meiner Großmutter zu verdanken. Sie lebte in Kairo und weihte mich schon als Kind in die Geheimnisse pharaonischer Magie ein. Du weißt vielleicht, dass jeder Mensch von einem unsichtbaren Feld aus Energieströmen umgeben ist. Manche nennen es Seele oder Aura, andere wiederum ganz profan Lebenskraft. Ich kann diese Energieflüsse sehen. Nicht im herkömmlichen Sinne, wie du dir denken kannst. Es ist eher eine Art Gespür, das mir hilft, meine Mitmenschen zu lesen und herauszufinden, ob sie gute oder schlechte Absichten hegen. Außerdem spiegeln sie ihr Befinden.«

»Und wie geht es mir?«

»Gut. Du bist ausgeglichen, obwohl es da auch etwas gibt, dass dir Sorge bereitet.«

»Nun, ich bin neugierig, was mich hier erwartet.«

Amy schüttelte den Kopf. »Das hat nichts mit unserem Termin zu tun. Es ist eher eine tief verwurzelte Furcht, die dir selbst vermutlich nicht mal bewusst ist. Halt, stopp. Sie ist dir sehr wohl bewusst, aber du lebst schon so lange mit ihr, dass du dich bereits daran gewöhnt hast.«

Bills Eingeweide verkrampften sich, sein Herz schlug schneller.

»Tut mir leid, ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen oder alte Wunden aufreißen.«

»Nein, nein, schon gut. Sprich weiter.«

»Dir haftet etwas Besonderes an, Bill Conolly«, raunte Amy. »Du bist anders als andere Menschen. Das habe ich gewusst, seit wir miteinander telefoniert haben. Du weißt, dass noch eine andere Welt hinter der sichtbaren existiert. Jenseitige Reiche, deren Bewohner uns nicht alle wohlgesonnen sind.« Sie erschauerte sichtlich. »Der Tod ist dein Begleiter, und du fürchtest, dass er dir jemanden nehmen könnte, der dir wichtig ist.«

Bill schluckte. Ja, er hatte Angst. Angst, dass seiner Familie oder seinen Freunden etwas zustieß. Und diese Angst ging weit über die latente Furcht vor einem Unfall oder einer schrecklichen Erkrankung hinaus. Als Freunde des Geisterjägers John Sinclair war seine Familie regelmäßig zum Ziel schwarzmagischer Attacken geworden. Jahrelang hatten sie Glück gehabt, dass es immer wieder gut ausgegangen war. Doch dann war jener schicksalhafte Tag gekommen, an dem seine Frau Sheila von einem Dämon okkupiert worden war, der ihr auf Glamis Castle buchstäblich das Genick gebrochen hatte. Sein Sohn Johnny hatte den Mörder durch ein Dimensionstor in eine dieser jenseitigen Welten verfolgt, von denen Amy gesprochen hatte, und war anderthalb Jahre verschollen gewesen.*