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Das Licht der Taschenlampe zuckte unruhig umher und erweckte die zerklüfteten Wände des finsteren Stollens zu geisterhaftem Leben.
Fast zweihundert Yards war Kent Hellqvist dem Sprengmeister Arnaud Besnard in den Fels gefolgt. Und mit jedem Schritt hatte der Schwede das Gefühl, der Hölle ein Stück weit näher zu kommen.
Nach weiteren zehn Yards blieb Besnard abrupt stehen. "Hier ist es", sagte der Franzose mit heiserer Stimme.
Ungeduldig drückte sich Hellqvist an ihm vorbei - und erstarrte. Sein ungläubiger Blick fiel auf einen aufrecht stehenden, durchsichtigen Quader. Ein Eisblock, von Menschenhand erschaffen. Doch es war der Inhalt, der den ansonsten unerschrockenen Schweden seiner Fassung beraubte.
Im Innern des Quaders, wie eingefroren und für die Ewigkeit konserviert, stand ein Mensch ...
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2022
Cover
Der Golem aus dem Eis
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Der Golem aus dem Eis
von Marc Tannous
Das Licht der Taschenlampe zuckte unruhig umher und erweckte die zerklüfteten Wände des finsteren Stollens zu geisterhaftem Leben.
Fast zweihundert Yards war Kent Hellqvist dem Sprengmeister Arnaud Besnard in den Fels gefolgt. Und mit jedem Schritt hatte der Schwede das Gefühl, der Hölle ein Stück weit näher zu kommen.
Nach weiteren zehn Yards blieb Besnard abrupt stehen. »Hier ist es«, sagte der Franzose mit heiserer Stimme.
Ungeduldig drückte sich Hellqvist an ihm vorbei – und erstarrte. Sein ungläubiger Blick fiel auf einen aufrecht stehenden, durchsichtigen Quader. Ein Eisblock, von Menschenhand erschaffen. Doch es war der Inhalt, der den ansonsten unerschrockenen Schweden seiner Fassung beraubte.
Im Innern des Quaders, wie eingefroren und für die Ewigkeit konserviert, stand ein Mensch ...
Mit gesenktem Haupt stemmte sich May Campbell gegen den eisigen Wind und trotzte den gefrorenen Schneekörnern, die wie Nadeln in ihr Gesicht stachen.
Eigentlich hätte die Schneesaison auch auf dieser Höhe vorbei sein sollen. Andernfalls hätte die Achtundzwanzigjährige nie eingewilligt, ihren Verlobten Lance Chadwick auf diesen Wandertrip durch die französischen Alpen zu begleiten.
Erst vor vier Tagen waren sie aus London kommend bei strahlendem Sonnenschein und frühlingshaften Temperaturen in Grenoble gelandet, hatten sich die Hauptstadt des französischen Départements Isère mit seinen pittoresken Museen und der Bastille aus dem 19. Jahrhundert angesehen, und waren dann mit Zug und Bus weiter bis Chamrousse gefahren, wo ihr eigentliches Wanderabenteuer begonnen hatte.
Über sattgrüne Wiesen, vorbei an plätschernden Bächen und haushohen Wasserfällen und durch eine finstere Klamm hatten sie am ersten Tag rund eintausend Höhenmeter hinter sich gebracht, bevor sie bereits am Nachmittag ihr Zelt aufgebaut hatten.
Doch schon am zweiten Tag waren sie mit ihrer geplanten Zeit in Rückstand geraten. Unvermittelt waren sie von einem heftigen Unwetter überrascht worden, das sich innerhalb weniger Minuten am eben noch azurblauen Himmel zusammengebraut hatte. Zum Glück hatten sie es noch rechtzeitig zu einer bewirteten Hütte geschafft, wo sie für wenig Geld zwei Betten in einem fast leeren Sechs-Bett-Schlafsaal bekommen hatten.
Um den Tag zu nutzen und um ihren Rückstand aufzuholen, hatten sie ihre Wecker auf vier Uhr gestellt und waren nach einem proteinhaltigen Frühstück Punkt fünf aufgebrochen.
Die Luft hatte sich nach dem Gewitter noch klarer und reiner angefühlt, doch es war merklich kälter geworden, und der Himmel war von einer grauweißen Wolkendecke überzogen gewesen, die sich gegen Mittag weiter verdunkelt hatte. Immer wieder hatte Lance besorgt den Blick gehoben, aber gesagt hatte er nichts.
Dann war ein eisiger, fast frostiger Wind aufgezogen. Als die ersten Schneeflocken auf die Erde getrudelt waren, hatte May ihren Verlobten schweren Herzens gebeten, im Schutze einer Felswand vorzeitig Quartier zu beziehen.
Sie hatte Lance nichts davon gesagt, aber schon während des gesamten Aufstiegs an diesem Tag hatte sie ein kaum zu beschreibendes Gefühl dräuenden Unheils verspürt. Es war, als wären die Bäume um sie herum zu unheimlichem Leben erwacht. Als würde etwas sie aus den Wipfeln heraus beobachten und nur auf einen geeigneten Moment warten, um sie hinterrücks zu attackieren.
Wahrscheinlich rührte es daher, dass sie den ganzen Tag keiner anderen Menschenseele begegnet waren. Bis gestern Mittag hatten immer wieder Wanderer ihren Weg gekreuzt, und mit einem freundlichen »Bonjour« gegrüßt. Und wenn May darüber nachdachte, hatte sie schon den ganzen Tag auch keine Tiere mehr gesehen. Kein Wild, keine Murmeltiere oder Gämsen, die davor immer wieder in der Ferne auf Felsen und Wiesen aufgetaucht waren. Über allem lag eine bedrückende Stille. So, als habe alles Leben sich aus irgendeinem Grunde darauf verständigt, diese Region zu meiden, und dabei vergessen, sie und Lance darüber zu informieren.
Ihre Entscheidung, eine vorzeitige Rast einzulegen, hatte sich jedenfalls als goldrichtig erwiesen. Kaum hatten sie ihr Zwei-Mann-Zelt aufgebaut, war das weiße Rieseln in einen regelrechten Schneesturm übergegangen, der innerhalb kürzester Zeit die gesamte Umgebung unter einem eisigen Teppich begrub, und die Sicht auf wenige Yards beschränkte.
Nun, ihr Zelt stand wenigstens einigermaßen geschützt, und May musste zugeben, dass diese Situation durchaus auch von einer gewissen Romantik geprägt war. So hatte sich das Paar in seine Schlafsäcke vergraben, ein wenig von dem Bergkäse gegessen, den es auf der Hütte gekauft hatte, und war zum Rauschen des Windes eng aneinandergeschmiegt eingeschlafen.
Es war noch nicht allzu spät, erst kurz nach zehn, als May den Drang der Natur verspürte. Sie warf ihrem schlafenden Verlobten einen prüfenden Blick zu, schälte sich aus dem Schlafsack und zog mit klammen Fingern den Reißverschluss auf, der sie hinaus in die unwirtliche Wildnis entließ.
Hier musste sie zu ihrem Entsetzen feststellen, dass man inzwischen kaum noch die Hand vor Augen sah. Bereits eine Armlänge entfernt verschwand alles hinter einer weißen Wand, bestehend aus tausenden, sich in Bewegung befindenden Partikeln, die sie umschwirrten, sich auf sie stürzten, wie ein Schwarm gefrorener Insekten.
May hatte sofort verstanden, dass sie sich nicht zu weit vom Zelt entfernen durfte, wollte sie nicht die Orientierung verlieren. Sie umrundete das Zelt, entfernte sich dann ein Stück weit davon und zählte beim Gehen ihre Schritte. Schon nach dem dritten warf sie einen Blick über ihre Schulter und sah das Zelt nur noch als schwach konturierte Andeutung im trudelnden Weiß. Sie tat zwei weitere Schritte, verrichtete im Schutz der Felswand hektisch das, wofür sie gekommen war, dann machte sie sich auf den Rückweg.
Schon nach wenigen Schritten wurde ihr klar, dass etwas nicht stimmte. Eigentlich hätte sie das Zelt aus dieser Entfernung schon wieder sehen müssen, doch an der Stelle, an der sie es vermutete, war nichts als weiße, wuselnde Leere.
Mays Herz schlug schneller, während die Kälte mit winzigen Zähnen an ihr zu nagen begann. Sie drehte sich im Kreis, schirmte die Augen ab und spähte in das sie umgebende Nichts. Ein Fehler, wie sie kurz darauf bemerkte, denn jetzt hatte sie endgültig die Orientierung verloren. Nicht einmal die Felswand war noch zu erkennen. Wenn sie jetzt blind und in Panik in irgendeine Richtung stolperte, lief sie Gefahr, sich immer weiter vom Zelt zu entfernen. Wahrscheinlich war es ratsamer, sich Lance gegenüber bemerkbar zu machen.
Leicht schwindelnd blieb sie stehen, sammelte all ihre Kraftreserven und rief den Namen ihres Verlobten. Einmal. Zweimal.
Keine Reaktion.
»Verdammt ...«
Nach zwei weiteren Versuchen musste sie einsehen, dass ihre Stimme gegen das Tosen des Windes und die Tiefe von Lances Schlaf nicht ankam. Sie benötigte eine andere Strategie, und nach kurzem Nachdenken beschloss sie, sich höchstens zehn Schritte am Stück in jede Himmelsrichtung vorzutasten, um dann wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren. Auf diese Weise musste sie früher oder später auf das Zelt stoßen. Denn allzu weit konnte sie sich davon noch nicht entfernt haben.
Sie hatte erst zwei Schritte getan, als sie erschrocken innehielt. Irgendwo, nicht weit entfernt, war ein Geräusch aufgeklungen. Fast übertönt vom Rauschen des Windes, und doch deutlich zu vernehmen. Oder eher ... zu spüren? So wie ein Ton, der im unteren Frequenzbereich die Magengrube vibrieren lässt ...
May schluckte. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie in das Schneechaos, glaubte, Schatten zu erkennen, die vorher nicht da gewesen waren. Unheimliche Gestalten, die sich konstant in ihre Richtung bewegten. Dabei musste sie nur blinzeln, um sie als die Trugbilder zu entlarven, die sie tatsächlich waren.
Sekundenlang verharrte May regungslos in der Kälte. Dann zuckte sie wie unter einem Stromstoß zusammen.
Da war es wieder, dieses Geräusch! Diesmal war es hinter ihr aufgeklungen. Und es klang deutlich näher als beim letzten Mal!
May wurde schwindlig, während sie sich um die eigene Achse drehte, ohne zu merken, dass sie dabei nicht auf der Stelle trat, sondern sich Yard für Yard vom Fleck bewegte. Bewusst wurde ihr das erst, als sie mit dem Rücken gegen ein nachgiebiges Hindernis prallte.
May wirbelte erschrocken herum und erkannte mit weit aufgerissenen Augen ihr Zelt! Unbewusst hatte sie sich in die richtige Richtung bewegt!
Nun gab es kein Halten mehr. Mit kleinen, schnellen Schritten umrundete sie das Zelt, riss den Reißverschluss zur Hälfte auf und schlüpfte durch den engen Spalt. Ganz kurz warf sie noch einen Blick nach draußen, dann zog sie den Reißverschluss hinter sich zu.
Im windgeschützten Innern war es heimelig warm, im Vergleich zu der vom Schneesturm durchtosten Nacht.
Ihr Blick fiel auf den Schemen, der zusammengerollt auf einer Seite des Zelts lag. Lance hatte sich komplett in den Schlafsack gewickelt, wie eine Raupe im Verpuppungszustand. Nur ein Haarbüschel ragte heraus.
Auf Knien robbte May zu ihm, warf einen weiteren prüfenden Blick zum Eingang des Zwei-Mann-Zelts. Dann streckte sie die Hand aus und rüttelte ihren Verlobten sanft an der Schulter.
Lance, der immer einen leichten Schlaf hatte, ruckte schon kurz darauf hoch, richtete sich auf und sah sie schlaftrunken an.
»May ...?«
»Lance, ich glaube, da draußen ist irgendwas.« Sie warf einen weiteren nervösen Blick zum Eingang.
Lance senkte den Kopf und rieb sich die Augen. »Was soll denn da sein, mitten im wildesten Schneesturm?«
»Keine Ahnung ... Ich war kurz draußen und dann ...« May unterbrach sich, hielt den Atem an! Da war es wieder. Ein dumpfes Rumoren. Mehr eine düstere Ahnung als eine tatsächliche Sinneswahrnehmung. »Da! Hörst du es denn nicht?«
Lance öffnete den Reißverschluss seines Schlafsacks und schälte sich aus der engen Nylonhülle. Wie May trug er mehrere Schichten am Leib. Ein Staudamm gegen die beißende Kälte.
»Vielleicht ist eine Lawine abgegangen.« Er griff nach der Taschenlampe, die er am Kopfende platziert hatte. »Keine Angst, unter diesem Felsvorsprung sollten wir sicher sein«, fügte er schnell hinzu, als er Mays sorgenvollen Blick bemerkte.
Dann knipste er die Taschenlampe an.
Und May erstarrte.
Rücklings und mit schreckgeweiteten Augen wich sie vor ihm zurück, als habe sich der Mann, den sie über alles liebte, vor ihren Augen in den Leibhaftigen verwandelt.
Lance verstand sekundenlang nicht, dass nicht er es war, der diese Reaktion bei ihr auslöste. Es war der gewaltige, menschenähnliche Schatten, der sich im Licht der Lampe auf der Zeltwand hinter ihm abzeichnete. Und als er es schließlich verstand, war es zu spät.
Mit einem Schrei, der auf halbem Weg in ihrer Kehle erstickte, vernahm May ein scheußlich klingendes Ratschen. Ein Riss klaffte auf, vergrößerte sich in Sekundenschnelle und offenbarte dann jene hünenhafte Gestalt, deren klobige Pranken das blaue Polyester zerrissen, als handele es sich dabei um dünnes Papier.
Im ersten Moment, in dem ihr Verstand sich noch weigerte, das Gesehene korrekt einzuordnen, glaubte May noch an ein Raubtier. An einen Bären oder etwas Vergleichbares. Doch das Funkeln von Millionen von Eiskristallen, die den Körper des Wesens komplett umhüllten, machte diesen Gedanken zunichte.
Das hier war etwas anderes. Etwas, das es eigentlich nicht geben durfte. Und doch stand es hier vor ihnen und streckte die klobigen Arme nach ihrem Verlobten aus. Nach Lance, der sich jetzt abrupt umdrehte. Wie May wollte er noch zurückweichen, als die Pranken ihn an der Schulter packten, und ihn wie ein Spielzeug einen halben Yard vom Boden hoben.
Ohne das Geschehen nur ansatzweise zu begreifen, ließ das, was dann geschah, May endgültig an ihrem Verstand zweifeln.
Zuerst bemerkte sie es an den Händen ihres Verlobten. Von einer Sekunde zur anderen wurden sie blau, dann weiß und erstarrten dabei, als würden sie in rasender Geschwindigkeit von einer Eisschicht überzogen. Welch schreckliche Macht hier auch waltete, sie setzte sich in seinem Nacken fort und hüllte seine Haare in Reif.
Dann ließ das Monster ihn fallen.
Für den Bruchteil einer Sekunde sah May noch das schreckverzerrte, im Eis konservierte Antlitz ihres Verlobten, bevor der Körper zu Boden krachte, und das Gesicht, nein der ganze Kopf beim Aufprall zersplitterte.
Einen Moment lang balancierte der Verstand der jungen Frau am Rande des Wahnsinns. Dann jagte ein Energieschub durch ihren schlanken Körper und setzte ungeahnte Kraftreserven frei.
Während sich das Monster weiter seinen Weg ins Zeltinnere bahnte, kroch May, sich halb überschlagend, zum Eingang, riss mit klammen Fingern den Reißverschluss auf und warf sich hinaus in die weiß flirrende Nacht.
Hastig stemmte sie sich auf die Beine und warf noch einen letzten Blick zurück, auf eine bizarre, wie einem Fiebertraum entsprungene Szene.
Dann rannte sie los.
Das graue Band der Straße schlängelte sich in engen Serpentinen unter einem noch graueren Himmel durch die üppige Berglandschaft. Obwohl der Mietwagen, ein Audi A6, uns speziell für diesen Trip empfohlen worden war, nötigten mich die engen Kurven und die immer schlechter werdende Sicht nach einiger Zeit dazu, fast im Schritttempo zu fahren.
Dabei waren wir gegen Mittag noch bei strahlendem Sonnenschein aus Grenoble losgefahren, und das Wetter hatte sich für den Großteil der Fahrt gehalten. Erst vor einer halben Stunde hatte sich eine dunkle Wolkendecke am Horizont ausgebreitet, wie Öl aus einem leckenden Tanker.
Bereits an der letzten Tankstelle hatten wir mitbekommen, dass die Gegend, in der unser Ziel lag, unter einem ungewöhnlich heftigen Wintereinbruch litt, der sich dazu noch auf ein Gebiet von nur wenigen Quadratkilometern begrenzte. Während die Einheimischen keine Erklärung für dieses Phänomen hatten, nährte es in mir den Verdacht, dass es mit dem Grund unserer Reise nach Frankreich zu tun haben könnte.
Wir, das waren ich, Bill Conolly, der auf dem Beifahrersitz mit sorgenvoller Miene in den verhangenen Himmel blickte, sowie mein Freund und Kollege Suko, der es sich auf dem Rücksitz bequem gemacht hatte und schon seit einer ganzen Weile seinen eigenen Gedanken nachhing.
Begonnen hatte alles mit einem mysteriösen Anruf, den Bill erst vorgestern Nacht erhalten hatte.
Die Verbindung war schlecht gewesen, der Ton verrauscht, so als würde die Stimme aus einer anderen Welt zu ihm sprechen. Dennoch hatte Bill sie als die von May Campbell identifiziert. May war die Frau eines befreundeten Reporters, Lance Chadwick, der freiberuflich für verschiedene Boulevard-Medien arbeitete.
Das Telefonat war von Störgeräuschen überlagert gewesen und brach immer wieder ab, doch eines hatte Bill klar und deutlich verstanden. Und es hatte ihn bis ins Mark erschüttert.
Lance Chadwick war tot! Gestorben während eines Wanderausflugs in den Alpen. Doch erst das nachfolgende war es, was Suko und mich auf den Plan gerufen hatte. Laut Erzählung der jungen Frau war Lance nicht einfach nur verunglückt, nein, er war angegriffen worden. Von einem Wesen, das May als riesenhafte, zwei Mann große Kreatur beschrieb, die komplett in Eis und Schnee gehüllt war.
»Ein lebendig gewordener Schneemann?«, hatte ich gefragt und die Stirn gerunzelt, als Bill mich noch in der Nacht kontaktiert hatte.
Der Verdacht, dass May Campbells Sinne aufgrund der Licht- und Sichtverhältnisse getrübt gewesen waren, lag nahe, doch ihr Anruf war nicht das Einzige, was den findigen Reporter zu der Ansicht brachte, dass in dieser abgelegenen Berggegend irgendetwas vor sich ging, das in meinen Zuständigkeitsbereich fiel.
Da May verblüffenderweise von einem Schneesturm sprach, hatte Bill die Wetterlage überprüft und festgestellt, dass in dem von ihr beschriebenen Gebiet keinerlei Niederschläge für die besagte Nacht verzeichnet wurden. Demnach hätte es sternenklar, bei Temperaturen über dem Gefrierpunkt sein sollen. Entweder, May hatte gelogen, oder der Sturm hatte sich auf ein Gebiet beschränkt, das so eingegrenzt war, dass er sich jeder meteorologischen Beobachtung entzogen hatte.
In jedem Fall war May irgendwo in den Alpen gestrandet. Genauer gesagt in einem Dorf namens Courbonnes, das laut meiner Recherchen aus gerade dreihundert Einwohnern bestand und über das es ansonsten keinerlei öffentlich zugängliche Informationen gab.
Die genauen Umstände waren wie alles andere vage geblieben, aber anscheinend hatte sich May in diesen Ort gerettet und saß nun dort fest, entkräftet, ohne Geld, ohne Papiere und ohne ein Fortbewegungsmittel, das sie ins Dorf bringen konnte. May hatte noch sagen können, dass sie von der Dorfwirtschaft aus telefonierte, dann war das Gespräch abgebrochen.
Für den Reporter stand außer Frage, dass er den nächsten verfügbaren Flug nach Grenoble nehmen und von dort aus umgehend nach Courbonnes weiterfahren würde, um May Campell aus ihrer misslichen Lage zu befreien. Und um herauszufinden, was mit seinem Freund Lance Chadwick passiert war.
Auch für mich war das alles Grund genug, Rücksprache mit meinem Chef zu halten. Sir James Powell hatte gegen meinen bereits gefassten Beschluss, Bill auf seiner Reise zu begleiten, keinen Einwand erhoben, und da es in London zurzeit ziemlich friedlich zuging, durfte Suko uns sogar begleiten. Ich konnte mir zwar nicht den geringsten Reim darauf machen, was May Campbell und ihrem Verlobten in der Einsamkeit der alpinen Wildnis begegnet war, doch da Bill seine Bekannte als »absolut glaubwürdig« beschrieb, war ich bereit, ihr unbekannterweise einen Vertrauensvorschuss zu gewähren.
Da wir nicht auf Bitten der französischen Ermittlungsbehörden tätig wurden, war dies offiziell eine Urlaubsreise, was Suko und mich nicht gehindert hatte, unsere Geisterjäger-Ausrüstung mitzuführen. Dank einer Sondergenehmigung war es uns sogar möglich gewesen, unsere Dienstwaffen mit in den Flieger zu nehmen.
Noch war ich mir nicht sicher, wie sich unsere Reise entwickeln würde. Dass Lance Chadwick etwas zugestoßen war, daran hatte ich keinen Zweifel. Aber war er wirklich einem »Monster« zum Opfer gefallen? Oder war er einfach nur beim Wandern im Schneesturm verunglückt?
Seltsam war, dass die französischen Kollegen bisher keine Erkenntnis über das Verschwinden oder gar den Tod eines Wanderers in dieser Region hatten. Hatte May Campbell sich nicht an die Polizei gewandt? Hatte die Bergwacht keine groß angelegte Suchaktion gestartet, um den Reporter zu bergen?
Das alles würden wir gleich nach unserer Ankunft klären. Im Zweifel verbrachten wir ein, zwei Tage in den Bergen und taten dabei ein gutes Werk, indem wir einer Gestrandeten die Rückreise nach London ermöglichten.
Laut unserem Navigationssystem waren es noch knapp dreißig Kilometer bis nach Courbonnes. Bei unserer aktuellen Geschwindigkeit waren wir also noch eine gute Stunde unterwegs.
»Na großartig«, knurrte Bill, als nach den ersten dreißig Minuten Schneekörner auf die Windschutzscheibe rieselten.
»Das ist allerdings seltsam«, meinte ich leise, mehr zu mir selbst.
Ich hatte vor unserer Abreise extra noch einmal den detaillierten Wetterbericht für diese Region studiert. Fünfzehn Grad und Sonnenschein waren angesagt, so wie um diese Jahreszeit eigentlich üblich. Von Schnee keine Rede.
Bill beugte sich vor, schaltete das Radio ein und suchte vergeblich nach einem brauchbaren Sender. Da jedoch alles von Störgeräuschen überlagert war, schaltete er es wieder aus, lehnte sich frustriert zurück und blickte aus dem Seitenfenster.
Ich hatte eine ganz gute Ahnung davon, was in ihm vorging. Er hatte unter undurchsichtigen Umständen einen guten Freund und Kollegen verloren und zählte die Minuten, bis er endlich Licht in diese nebulöse Angelegenheit bringen konnte.