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Ein kleines, abgeschiedenes Dorf an der Südwestküste von Wales. Hierher hatte es die Privatdetektivin Jane Collins verschlagen, denn sie untersuchte die Hintergründe eines angeblichen Selbstmordes. Dabei stieß sie auf eine ganze Selbstmordserie, die sich in dieser Gegend ereignete - und auf ein uraltes, düsteres Herrenhaus, in dem eine Japanerin ungewöhnliche Therapien für Suchtkranke anbot. Als es dann auch noch zu unheimlichen übernatürlichen Ereignissen kam, zog Jane mich hinzu, den Geisterjäger aus London ...
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Seitenzahl: 141
Veröffentlichungsjahr: 2024
Cover
Der Höllenfluch aus Kagoshima
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Der Höllenfluchaus Kagoshima
von Marc Tannous
Kurz vor Mitternacht erwachte Micah Watkins aus unruhigem Schlaf.
Der Siebzehnjährige setzte sich auf, starrte blicklos ins Leere. Dann schwang er die Beine aus dem Bett und wankte zu seinem Schreibtisch. Er nahm die Jeans, die er vor dem Schlafengehen über den Stuhl gelegt hatte, und entfernte den Gürtel. Den Bürostuhl schob er in die Mitte des Zimmers, kletterte mit wackeligen Beinen auf die Sitzfläche und schlang den Gürtel um einen Dachbalken. Wie hundertfach geübt, verknotete er ihn zu einer Schlaufe und überprüfte sie auf ihre Tragfähigkeit.
Dann wanderte sein Blick in die Ecke neben der Tür.
Das Mädchen mit dem leichenblassen Antlitz und den schwarz geränderten Augen nickte zufrieden.
»Gut gemacht, Micah«, sagte es mit glockenheller Stimme. »Und jetzt ...«, ihr Blick verdüsterte sich, »... leg deinen Kopf in die Schlinge ...!«
Margaret Watkins war es gewohnt, mehrmals die Nacht aufzustehen. Grund dafür war der starke Harndrang, der von einem chronischen Nierenleiden rührte. Gut behandelt war die Krankheit nicht lebensbedrohlich, schränkte sie in ihrem Alltag jedoch erheblich ein.
Um ihren Mann nicht zu wecken, schliefen sie mittlerweile in getrennten Betten. Genauer gesagt hatte sie eines der Gästezimmer im obersten Stock ihrer kleinen Pension bezogen, während Carl weiter in ihrem Ehebett nächtigte. Mit der ausgebauten Dachkammer, die ihr Sohn Micah bewohnte, nahm die Familie Watkins bereits drei der acht Schlafzimmer selbst in Beschlag. Nicht dass ihnen das Geld gefehlt hätte. Mit der Lohntüte, die Carl als Kühlwagenfahrer nach Hause brachte, kam die kleine Familie gut über die Runden. Ohnehin gab es in Llynharbor, einem Fünfhundert-Seelen-Ort an der walisischen Westküste, kaum Gelegenheiten, sein Geld unter die Leute zu bringen. Und so sorgte die Pension, die Margaret von ihren Eltern übernommen hatte, nur für ein Zubrot, das sie fast zur Gänze für schlechte Zeiten beiseitelegte.
Jetzt, in der Nebensaison, waren ohnehin nur zwei Zimmer vermietet. Eines an ein Pärchen aus Germany, das morgen weiterreisen würde, und ein weiteres an eine Lady aus London.
Kurzum, die Watkins führten ein einfaches, aber zufriedenes Leben, und ohne Margarets schmerzhafte Krankheit wäre da nichts gewesen, was sie um den Schlaf gebracht hätte.
Auch in dieser Nacht erwachte sie mit einer Zuverlässigkeit, für die andere einen Wecker benötigten.
Seufzend richtete sie sich im Bett auf, fasste sich an den unteren Rücken, dann schwang sie die Beine aus dem Bett.
Ohne das Licht anzuknipsen, tastete sie nach ihren Pantoffeln, als sie ganz unvermittelt ein Poltern vernahm. Es klang, als sei im Stockwerk über ihr etwas umgefallen. Dort oben, im Dachgeschoss, befand sich nur Micahs Zimmer.
Eigentlich sollte der Junge um diese Uhrzeit tief und fest schlafen. Erst vor wenigen Wochen hatte er eine Ausbildung in der örtlichen Lackiererei angefangen und musste jeden Morgen um fünf auf der Matte stehen. Zweimal hatte er bereits verschlafen, und einmal schon hatte der Meister ihn vorgewarnt. Eine dritte Verspätung hätte unweigerlich eine Abmahnung zur Folge.
Ein ungutes Gefühl ließ Margaret an der Toilette vorbeigehen, und die hölzerne Stiege nehmen. Noch während sie ihre schmerzenden Gebeine über die knarrenden Stufen ins Dachgeschoss schleppte, hörte sie ein weiteres Geräusch. Es klang wie ein erstickter Schrei!
Ihre Nackenhaare sträubten sich, und trotz der Schmerzen beschleunigte sie ihre Schritte.
Vor der Tür zur Dachkammer hielt sie einen Moment lang inne, dann drehte sie langsam den Kauf ...
Der Anblick, der sie in dem kleinen Zimmer erwartete, riss ihr fast den Boden unter den Füßen weg. Als Erstes sah sie nur Micahs Beine, die in der Luft hingen und in einem verzweifelten Überlebenskampf um sich traten. Erst als sie gehetzt den Blick hob, sah sie, dass Micahs Kopf in einer Schlinge steckte, die am Dachbalken befestigt war! Der Stuhl, den er erklommen hatte, war umgekippt.
Einen Herzschlag lang, mehr Zeit gönnte sich Margaret nicht, um ihren Schock zu verdauen. Dann stürzte die zierliche Frau über die Schwelle, umklammerte Micahs Beine mit beiden Armen und wuchtete ihren Sohn mit ganzer Kraft in die Höhe. Kurz darauf hörte sie ein Keuchen, hob den Kopf und sah erleichtert, wie er die Schlinge abstreifte.
Doch dann geschah etwas, das sie an ihrem Verstand zweifeln ließ. Ganz kurz, gefühlt war es nur eine Millisekunde, glaubte sie, in der Ecke neben der Tür eine weitere Person wahrzunehmen. Eine junge Frau in einem weißen Hemd, mit langen schwarzen Haaren und bleicher Haut. Sie tat nichts, stand nur da und starrte Margaret hasserfüllt an.
Margarets Herz übersprang einen Schlag. Sie blinzelte, dann starrte sie erneut auf die Stelle.
Von einer weißen Frau war nichts mehr zu sehen.
Bevor ihr Kopf das Gesehene verarbeiten konnte, versagten ihr die Beine den Dienst, und sie klappte mit dumpfem Poltern auf dem Teppich zusammen. Micah, an den sie sich bis zuletzt klammerte, kam hart auf ihrem Rücken auf. Glühender Schmerz zuckte wie ein Blitz durch ihre Knochen, aber es war ihr egal.
Als sie ein Knarren vernahm, blickte sie stöhnend auf. Fassungslos, mit offen stehendem Mund, stand ihr Mann in der Tür und starrte sie an. Offenbar versuchte er noch zu begreifen, was er da sah.
Margaret wälzte sich unter dem reglosen Körper ihres Sohnes hervor und legte ihre Hände um sein Gesicht. Micah war bewusstlos, aber er lebte. Erleichtert schlang sie die Arme um seinen Oberkörper, drückte ihn an ihre Brust und küsste ihn auf die Stirn.
Dann erst wandte sie sich wieder ihrem Mann zu, holte Luft und schrie ihn mit letzter Kraft an: »Herrgott noch mal, Carl! Worauf wartest du? Hol Dr. Hutchins!«
Der Einsiedlerhof der Talbots lag zwei Meilen nördlich der Ortsgrenze von Llynharbor, doch dank ihres Navis hatte Jane Collins keine Mühe, ihn zu finden.
Der Himmel war stark bewölkt, hielt seine Schleusen bisher aber geschlossen, und auf der kurzen Landstraße, die kerzengerade aus dem Ort hierherführte, war sie keinem anderen Fahrzeug begegnet.
Die Detektivin fuhr direkt auf den Hof und parkte neben einem wuchtigen SUV, hinter dem ihr kleiner Golf zur Gänze verschwand.
Llynharbor war ein verschlafener kleiner Ort an der südwestlichen Küste von Wales. Wer hierherkam, war eigentlich auf der Suche nach rauer Natur, nach atemberaubenden Landschaften und einer romantischen Steilküste, die Erinnerungen an alte Legenden von Schmugglern und Seeräubern weckte.
Der Grund für Janes Reise war leider ein anderer und hatte mit ihrer Arbeit als Privatdetektivin zu tun. Finanziell war sie auf den Job zwar nicht mehr angewiesen, seit sie das Vermögen der verstorbenen Lady Sarah Goldwyn geerbt hatte. Aber wenn sie ein Auftrag aus einem speziellen Grund reizte oder sie das Gefühl hatte, dass jemand ihre Hilfe benötigte, nahm sie wie hier sogar eine längere Anfahrt in Kauf.
Beim Aussteigen verschaffte sie sich einen schnellen Überblick. Zu dem überschaubaren Anwesen gehörten neben dem Hauptgebäude und einem stillgelegten Getreidesilo nur noch zwei kleinere Stallungen. Letztere ließ sie links liegen, ging stattdessen zum Eingang des traditionellen Bauernhauses und klingelte.
Nachdem sie eine Minute vergeblich gewartet hatte, ging sie mit weiten Schritten über den Hof, um einen Blick in die Ställe zu werfen. Das Scharren von Hufen und das wiederkehrende Schnauben und Wiehern verrieten ihr schon von Weitem, was sie darin vorfinden würde. Und tatsächlich: Als sie sich durch das Fenster der Stalltür beugte, sah sie vier abgetrennte Boxen, die jede ein Pferd beherbergte. Ein Schimmel, ein schwarz-weiß geflecktes und zwei Shetland-Ponys.
Lächelnd besah sie sich die Tiere, bis sie Schritte hinter sich hörte. Schnell drehte sie sich um – und blickte direkt in den Doppellauf einer Schrotflinte!
Die Waffe lag in den Händen einer Frau um die sechzig, zierlich und mit graubraunem Haar, das von einem rot gepunkteten Tuch gebändigt wurden. Ihr Gesicht war schmal und verhärmt, mit Augen, in denen der Glanz der Jugend schon vor Langem erloschen war. Am Leib trug sie eine dunkelblaue, eng geschnittene Multifunktionsjacke, und die dünnen Beine ragten aus moosgrünen Gummistiefeln.
Jane musste nicht die gespeicherten Fotos auf ihrem Smartphone aufrufen, um zu wissen, dass Evelyn Talbot vor ihr stand. Um sie von ihren friedlichen Absichten zu überzeugen, hob die Detektivin beide Hände.
»Mrs Talbot, Sie kennen mich nicht. Mein Name ist Jane Collins. Ich komme aus London und ...«
»Reden Sie nicht weiter!«, unterbrach Talbot mit kratziger Stimme. »Wenn Sie von der Presse oder gar der Regierung sind ...«
»Keins von beidem«, versicherte Jane. »Ihre Tochter hat mich geschickt.«
Eine Furche grub sich tief in Evelyn Talbots Stirn, während sie die Information verarbeitete. Dann ließ sie die Waffe sinken. »Ich habe keine Tochter!«
»Stieftochter«, wurde Jane deutlicher. »Mary-Ann Tal...«
»Was gibt es, das Mary nicht selbst mit mir besprechen kann?«
»Den Tod Ihres Mannes«, gab Jane unumwunden zurück. Entweder jagte ihr die Lady gleich eine Ladung Schrot zwischen die Rippen oder ...
Nein, sie ließ nur ein Seufzen vernehmen, schulterte das Gewehr und meinte: »Kommen Sie mit, wir gehen ins Haus ...«
Jane folgte ihr in die gut geheizte Wohnstube, die so rustikal und traditionell eingerichtet war, wie es der äußere Anschein vermuten ließ.
»Sie haben fünf Minuten«, sagte Mrs Talbot, nachdem sie sich an einen gemaserten Holztisch gesetzt hatten.
Jane räusperte sich. »Ihre Stieftochter glaubt, dass Sie ihr nicht die volle Wahrheit über den Tod ihres Vaters erzählt haben«, sagte sie dann geradeheraus. »Um es genauer zu sagen: Sie bezweifelt, dass sein Tod Selbstmord war!«
Talbot rümpfte die Nase. »Wir konnten es alle kaum glauben, aber wie soll es denn sonst passiert sein? Walt war ganz allein!«
»Mrs Talbot, welche Erinnerungen haben Sie an den Tag, an dem Ihr Mann ...«
... sich mit einem Jagdgewehr das Gesicht weggeschossen hat?
»... sich das Leben genommen hat«, formulierte Jane es neutraler.
Sie beobachtete Mrs Talbot genau, aber kein Muskel rührte sich in dem schmalen Gesicht.
»Es war wie jeden Tag«, sagte sie leise. »Walt stand sehr früh auf, um sich um die Pferde zu kümmern. Wir halten sie nur als Hobby«, fügte sie hinzu. »Eigentlich arbeite ich in einem kleinen Café, und Walt ...«
Walter Talbot hatte als Tierarzt praktiziert, wie Jane von Mary-Ann erfahren hatte. Ein klassischer Landarzt, der die Höfe in der Umgebung abklapperte, Pferdehufe beschlug und Kälbern auf die Welt half.
Mary-Ann Talbot, eine junge Künstlerin, die seit einigen Jahren in London lebte, hatte Janes Nummer von einem früheren Klienten bekommen und die Privatdetektivin vor wenigen Tagen kontaktiert, nachdem sie erfahren hatte, dass sich ihr Dad mit seiner Jagdflinte das Leben genommen hatte.
Angeblich, denn an einen Selbstmord wollte Mary-Ann nicht glauben. Erst kurz zuvor hatte er ihr bei einem Telefonat von großen Zukunftsplänen berichtet. Er hatte mit dem Gedanken spielte, seinen Beruf an den Nagel zu hängen, um als Ruheständler die Wintermonate in einem wärmeren Klima zu verbringen. Voraussetzung war, dass es ihm gelang, einen Nachfolger aufzutreiben. Kurzum: Walter Talbot hatte trotz seines rüstigen Alters noch voll im Leben gestanden und nicht den geringsten Grund gehabt, es auf diese Weise zu beenden.
Bei einem Kurztrip zu seiner Beerdigung erhielt Mary-Anns Skepsis neue Nahrung. Zum einen dadurch, dass ihre Stiefmutter ihren bohrenden Fragen konsequent auswich. Zum anderen, weil sie in der Nähe seines Grabes ein zweites frisch angelegtes bemerkte. In das provisorische Holzkreuz war der Name Patrick Llewellyn eingraviert. Laut Jahresangaben war er im Alter von dreiunddreißig Jahren gestorben, und das erst vor Kurzem. »Plötzlich und unerwartet« stand in der Todesanzeige, die sie im Lokalblatt ausfindig machte.
Im Dorf erhielt sie genau wie von Evelyn Talbot nur ausweichende Antworten. Erst bei einem zufällig aufgeschnappten Gespräch bekam sie mit, dass sich der Metzgersohn mit einem Fleischermesser selbst die Gurgel durchgeschnitten hatte!
Ein Schauer kroch Jane bei dieser Vorstellung über den Rücken. Doch damit nicht genug. Kurz vor Mary-Anns Abreise trug sich eine weitere Tragödie zu. Mr Robbins, ein Dorfschullehrer, hatte eine ganze Packung Schlaftabletten geschluckt, sich in seiner Garage hinter das Steuer seines Autos gesetzt und bei laufendem Motor auf den Tod gewartet.
Bei ihrer Abfahrt war Mary-Ann noch verwirrter als bei ihrer Ankunft, weshalb sie zurück in London beschloss, die Dienste eines professionellen Ermittlers in Anspruch zu nehmen.
Nachdem Jane sich alles angehört hatte, musste sie ihr recht geben. Drei entsetzliche Suizide in so kurzem Abstand, in einer Ortschaft mit nur fünfhundert Einwohnern? Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit? Dann hatte sie selbst recherchiert und herausgefunden, dass dies bei Weitem nicht die einzigen mysteriösen Todesfälle waren, die den Ort in den letzten Wochen und Monaten heimgesucht hatten. Einzelheiten wurden zwar unter Verschluss gehalten, dennoch war hier ein unheimliches Muster zu erkennen.
Die Detektivin hatte jedenfalls Blut geleckt und war noch am nächsten Tag in den Südwesten von Wales aufgebrochen. Offiziell war sie eine Touristin, die ein paar Tage Ruhe und Erholung vom Großstadttrubel suchte. Evelyn Talbot war die Erste, der sie ihre wahre Identität offenbarte.
»Er ging also in den Stall«, nahm Jane den Faden wieder auf. »Bewahrte er dort auch seine Jagdflinte auf?«
»Natürlich nicht. Sie war immer im Waffenschrank weggesperrt. Er muss sie nach draußen mitgenommen haben. Ich selbst war noch im Bad, als ich den Schuss hörte.«
Ihre Lippen bebten, die Augen wurden glasig.
Jane griff nach der Hand der älteren Dame und drückte sie. Einen Moment lang waren nur noch das Knarren im Gebälk und das leise Ticken der Wanduhr zu hören.
»Im Dorf soll es in den letzten Wochen weitere Selbstmorde gegeben haben«, sagte Jane dann in die Stille hinein.
Mrs Talbot legte den Kopf schief. Von einem Schlag auf den anderen trat wieder ein kalter, vergrämter Ausdruck in ihre Augen, und sie schob Janes Hand beiseite.
»Schuld hat nur diese Person!«, spie sie aus.
Jane beugte sich zu ihr vor und sah sie eindringlich an. »Welche Person?«
»Das Mädchen! Lissandra ...« Vergeblich suchte sie nach dem Nachnamen, zuckte dann mit den Schultern.
»Ein Mädchen aus dem Dorf?«
Evelyn schüttelte entschieden den Kopf. »Sie kam frisch aus der Klapse.«
»Klapse?«
»Ein Therapiezentrum. Ein paar Meilen von hier. Das Mädchen war drogenabhängig! Anders ist ihre Tat nicht zu erklären.«
Jane horchte auf. Plötzlich hatte sie das Gefühl, auf etwas gestoßen zu sein, das ihrem Fall eine völlig neue Richtung verlieh.
»Was genau hat sie denn getan?«
Evelyns Augen begannen zu flackern. »Eines Abends kam sie ins Dorf. In der Hand einen vollen Benzinkanister. Den hatte sie sich davor an einer Tankstelle geholt. Sie übergoss sich mit dem Benzin, dann nahm sie ein Streichholz und steckte sich selbst in Brand!«
»Sie hat sich angezündet?«
»Ohne dass ein Ton über ihre Lippen kam. Hat einfach nur dagestanden und gewartet, dass die Flammen sie verzehrten. Einige der Leute, die dort waren, sagten sogar, sie habe gelächelt.«
Jane schluckte. »Wann genau war das?«
Wieder zuckte Evelyn Talbot mit den Schultern. »Vor ein paar Monaten.«
»Die Klinik, aus der diese Lissandra kam ... Was wissen Sie darüber?«
»Sie befindet in einem alten Herrenhaus, außerhalb der Ortschaft. Godwin Manor. Stand jahrelang leer. Eine Asiatin hat den Kasten vor einiger Zeit gekauft, ihn renoviert und für ihre Zwecke umbauen lassen.«
»Eine Asiatin?«
»Japanerin, glaube ich. Ich weiß nicht, was in diesem Gemäuer vor sich geht. Aber ich bin mir sicher, dass sie es war, die es nach Llynharbor eingeschleppt hat.«
»Was?«, fragte Jane gebannt. »Was hat die Japanerin hierhergebracht?«
Schatten überlagerten Evelyn Talbots faltiges Antlitz. »Dies ist ein gottesfürchtiger Ort, Miss Collins, aber er ist von einer Krankheit befallen. Eine, für die es keine Medizin gibt.« Unvermittelt schnellten ihre Hände über den Tisch, krallten sich in Janes Arme und zogen die Detektivin zu sich heran. »Sie sind mir sympathisch, Miss Collins, deshalb gebe ich Ihnen einen guten Rat: Setzten Sie sich in Ihren Wagen, verlassen Sie Llynharbor noch heute, und kehren Sie nicht zurück! Gehen Sie, bevor es auch Sie infiziert ...!«
Das Gespräch mit Evelyn Talbot wühlte Jane mehr auf, als sie sich eingestehen wollte. Vor allem hatte sie Bedenken, die alte Dame in ihrem emotionalen Zustand allein zu lassen. Statt ihrem Rat zu folgen, blieb sie deshalb noch eine ganze Weile sitzen und hörte sich ihre Sorgen, Nöte und alten Geschichten von früher an.
So war es bereits kurz vor Mitternacht, als sich Jane schließlich hinter das Steuer ihres Golfs klemmte und in den Ort zurückfuhr.
Keine Viertelstunde später hielt sie auf dem Parkplatz der charmanten kleinen Pension, in der sie untergekommen war, und stellte den Motor ab. Die Detektivin seufzte, als sie sah, dass im Haus noch Licht brannte. Eigentlich hatte sie gehofft, dass die Wirtsleute bei ihrer Heimkehr bereits an den Matratzen horchten. Vor allem die Dame des Hauses war zwar freundlich, aber auch redselig und leider ziemlich neugierig. Deshalb musste sich Jane eine gute Begründung dafür einfallen lassen, was sie bis nach Mitternacht in Llynharbor getrieben hatte.
Selbst die Dorfschenke hatte bereits geschlossen, und die Bürgersteige der Ortschaft waren seit Stunden hochgeklappt.
Noch während Jane ausstieg, wurde die Haustür aufgerissen, und Margaret Watkins trat hinaus. Als sie Jane sah, reagierte sie sichtlich enttäuscht. Hatte sie zu so später Stunde jemand anderen erwartet?
»Entschuldigen Sie«, rief sie der Detektivin entgegen, als diese näher kam. »Ich hatte eigentlich Dr. Hutchins erwartet.«
Jane beschleunigte ihre Schritte. Ihr Eindruck hatte also nicht getrogen.
»Ist etwas passiert?«, fragte sie, während sie noch die kurze Treppe hinaufeilte.