John Sinclair 2278 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2278 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Auf der langgestreckten Tafel stapelten sich die Leichenteile!
Penetranter Verwesungsgeruch hing in der Luft und vermengte sich mit dem Gestank nach verbranntem Fleisch und verschmorten Haar, der aus dem offenen Kamin jenseits des Tisches drang, über dem dicke Schmeißfliegen ihre Kreise zogen, um ihre Eier in das schwärende Fleisch abzulegen, in dem es von Maden nur so wimmelte.
Denise Curtis drehte sich der Magen um.
Dabei hätte sie dringend etwas zwischen die Zähne gebraucht. Und es war keineswegs so, dass sie Menschenfleisch verschmäht hätte. Aber dann, bitte schön, roh und blutig, sie war immerhin eine Werwölfin und kein Ghoul.
Allerdings bezweifelte sie, dass sie hier frisches Fleisch finden würde. Das hier war schließlich das Reich der Totengöttin aus der nordischen Mythologie.
Hels Höllenwelt.


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Inhalt

Cover

Werwolf-Dämmerung

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Werwolf-Dämmerung

(Teil 2 von 2)

von Ian Rolf Hill

Auf der lang gestreckten Tafel stapelten sich die Leichenteile!

Penetranter Verwesungsgeruch hing in der Luft und vermengte sich mit dem Gestank nach verbranntem Fleisch und verschmortem Haar, der aus dem offenen Kamin jenseits des Tischs drang, über dem dicke Schmeißfliegen ihre Kreise zogen, um ihre Eier in das schwärende Fleisch abzulegen, in dem es von Maden nur so wimmelte.

Denise Curtis drehte sich der Magen um.

Dabei hätte sie dringend etwas zwischen die Zähne gebraucht. Und es war keineswegs so, dass sie Menschenfleisch verschmäht hätte. Aber dann, bitte schön, roh und blutig, sie war immerhin eine Werwölfin und kein Ghoul.

Allerdings bezweifelte sie, dass sie hier frisches Fleisch finden würde. Das hier war schließlich das Reich der Totengöttin aus der nordischen Mythologie.

Hels Höllenwelt ...

Wenn sie ehrlich war, hätte Denise nicht zu sagen vermocht, was sie erwartet oder wie sie sich Hel vorgestellt hatte. Aber gewiss nicht so ... unscheinbar? Harmlos?

Weder das eine noch das andere Wort wurde ihrer Erscheinung gerecht.

Unscheinbar war sie mit ihrer zweigeteilten Gestalt auf keinen Fall.

Auf der rechten Seite war die Haut fahlweiß, als würde sich kein Tropfen Blut in Hels Körper befinden. Die andere Seite präsentierte sich schwarzblau, regelrecht nekrotisch. An einigen Stellen schimmerte das bleiche Gebein hervor. Das Auge war milchig weiß, mit einer stecknadelkopfgroßen Pupille, während das andere tiefschwarz glänzte, als wäre die Höhle mit flüssigem Teer oder Pech gefüllt.

Und harmlos?

Wie harmlos konnte jemand sein, der in einer Höhle namens Elend hauste und sich von den Leibern toter Menschen ernährte?

Andererseits handelte es sich bei Hel ja nicht um eine gewöhnliche Dämonin.

Sie wurde sogar als Göttin bezeichnet, daher fand Denise ihr schmutziges Leichenhemd eher unangemessen. Man hätte meinen können, dass die Herrin der Totenwelt sich etwas standesgemäßer kleidete.

Auch ihre sonstige Erscheinung entsprach nicht gerade Denises Vorstellungen. Hel präsentierte sich als zierliche, junge Frau, kaum älter als sie selbst. Das spröde hellblonde Haar war zu kunstvollen Zöpfen geflochten, in dem kleine Knöchelchen steckten, die vermutlich aus menschlichen Fingern stammten. Die Augenpartie hatte sie sich mit Blut bemalt.

Auf Denise machte die ganze Erscheinung einen psychotischen Eindruck, aber gewiss keinen göttlichen.

»Hat es dir die Sprache verschlagen?« Hels klirrende Stimme unterbrach ihre Gedankenkette. »Dabei sagte man mir, dass du nicht auf den Mund gefallen wärst.«

Denise ließ ihren Blick blitzschnell zu den Seiten huschen, wo ihre Freunde Emma und Ethan Murdock in den Griffen zweier riesiger Gestalten zappelten. Sie waren doppelt so groß wie die beiden Geschwister und von abstoßender Hässlichkeit.

Ethan hing in den Klauen einer uralten Vettel, die eine vor Schmutz starrende Kutte trug, die über und über mit geronnenem Blut besudelt war. Das aufgedunsene, schwammige Gesicht war von Runzeln übersät, in denen sich Pusteln eingenistet hatten. Die Augen waren trüb wie die einer Leiche. Sie grinste und entblößte dabei verfaultes Zahnfleisch, in dem die Zähne wie schrundige Grabsteine steckten. Eine graue, schleimüberzogene Zunge glitt wie eine Schlange aus dem Schund und strich beinahe zärtlich über Ethans Wange.

Er verdrehte die Augen und sah aus, als würde er jeden Moment in Ohnmacht fallen.

Emma wurde von einem kahlköpfigen Hünen festgehalten, über dessen Wanst sich eine blutige Lederschürze spannte. Der Oberkörper darunter war nackt. Auf den knotigen Muskelsträngen wucherte büschelweise borstige Haar.

Die Hände erinnerten Denise an die Pranken eines Gorillas. Einen Arm hatte er um Emmas Leibesmitte geschlungen, die schwielige Hand bedeckte ihre gesamte untere Gesichtshälfte. Blanke Panik stand in ihren Augen.

»Lass meine Freunde frei!«, forderte Denise. »Oder du wirst es bereuen.«

»Tatsächlich?« Hel neigte neugierig den Kopf. »Ich bin geneigt, das Risiko einzugehen.« Sie lächelte schmallippig. »Du auch? Wen von ihnen wirst du retten? Die liebe Emma oder den netten Ethan?« Sie deutete mit der bleichen Hand auf ihre beste Freundin und mit der verfaulten auf deren Bruder.

»Für wen auch immer du dich entscheidest«, fuhr Hel fort, »der oder die andere wird es bereuen. Ganglot und Ganglati sind nicht zimperlich, so viel kann ich dir versprechen. Sie brauchen deine Freunde nur ganz fest in den Arm zu nehmen, um jeden Knochen in ihren zierlichen Leibern zu zerbrechen.«

Ein drohender Unterton schwang in Hels letzten Worten mit. Um sie zu unterstreichen, griff die Totengöttin nach einem abgetrennten Fuß, umschloss ihn mit der bleichen Hand und drückte zu. Das Geräusch brechender Knochen erklang, begleitet von schmatzenden Lauten. Eine dunkle, sämige Flüssigkeit quoll zwischen ihren Fingern hervor.

Hel verzog angewidert das Gesicht, schleuderte den zerquetschten Fuß in den Kamin und schlenkerte die Hand, von der sich dicke Tropfen lösten. Beiläufig wischte sie sie an ihrem Leichenhemd ab, wobei sie Denise freundlich anlächelte.

»Also?«

Es kostete Denise ihre ganze Selbstbeherrschung, um nicht im wahrsten Sinn des Wortes aus der Haut zu fahren. Stattdessen beschränkte sie sich auf ein leises Knurren. »Was willst du?«

Hel deutete an das andere Ende des Tisches. »Zunächst einmal möchte ich mit dir reden!«

Aus den Schatten jenseits des Kamins lösten sich mehrere Gestalten. Es waren Tote, die auf die Tafel zuwankten und davor zu einer Art Thron verschmolzen.

Denise verzog das Gesicht. Schon ein wenig krank, fand sie. Aber was blieb ihr übrig?

»Und wenn ich das tue? Lässt du meine Freunde dann frei?«

»So weit würde ich nicht gehen. Aber sie werden zumindest die nächsten Minuten überstehen. Der Rest hängt von dir ab.«

Ein gedämpftes Winseln erklang hinter der Pranke des Hünen. Emmas Blick wurde flehend. Und da gab sich Denise einen Ruck und setzte sich.

»Geht doch!« Hel lächelte.

»JOHN!«

Sukos Schrei hallte mir noch in den Ohren wider, als ich in die klebrige Schwärze glitt und darin versank. Ich ruderte mit den Armen, umklammerte das Kreuz wie einen Rettungsanker. Ich wollte die Formel zur Aktivierung rufen, doch kein Laut kam über meine Lippen.

Dafür füllte sich mein Rachen mit einer klebrigen, kalten Masse.

Ich vermochte nicht zu sagen, ob es sich um eine Flüssigkeit oder um ein Gasgemisch handelte. Sicher war nur, dass ich plötzlich keine Luft mehr bekam. Panik schoss in ihr mir hoch. Verzweifelt versuchte ich, mich herumzuwerfen. Zurück an die Oberfläche zu schwimmen, um den Deckel des Sargs zu öffnen, aus dem die schwarzen Tentakel geschossen waren, die mich erst in diese Lage gebracht hatten.

Doch nichts von alledem gelang mir.

Mit dem Kreuz in der Hand schlug ich um mich, traf jedoch nicht auf den geringsten Widerstand. Der Druck um den Hals und die Unterarme war längst verschwunden, trotzdem war ich nicht frei. Keine Ahnung, ob ich fiel oder schwebte. Um mich herum war nur absolute Schwärze, wie ich sie höchstens aus dem Reich des Spuks kannte.

Dort hatte ich bislang aber wenigstens atmen können.

Luft! Luft! Ich brauchte Luft!

Schon zerplatzten die ersten bunten Lichter vor meinen Augen, wurden jedoch gleich darauf von der undurchdringlichen Dunkelheit wieder verschlungen. Meine Lungen verkrampften sich. Eisige Kälte breitete sich in meinem Brustkorb aus, durch den Stiche zuckten, als würde ich in einer Eisernen Jungfrau stehen, deren Metalldornen sich durch die Rippen direkt in die Lungen bohrten.

Oh Gott, ich sterbe!

Bilder flammten vor meinem geistigen Auge auf. Ich sah meine Eltern, viel jünger, als ich sie in Erinnerung hatte. Freunde vergangener Tage entstiegen dem Dunst des Vergessens. Rudy, Maureen, Katie ... ein schlaksiger junger Mann namens Bill Conolly, der lässig am Türrahmen lehnte. Sir James Powell, der wie ein magenkranker Pavian hinter seinem Schreibtisch hockte. Sheila, Nadine, Jane Collins ...

Dann waren da noch Suko, Glenda und Will Mallmann, dessen Gesicht mit einem Mal zu einer totenbleichen Fratze wurde, aus deren Oberkiefer spitze Vampirhauer ragten.

Wie ein Trommelfeuer prasselten die Eindrücke eines ganzen Lebens auf mich ein. Freunde, Feinde, Kollegen, Verwandte. Plötzlich das Gefühl, zu fallen. Der Aufprall.

Ein irrsinniger Schmerz raste durch meinen Körper, der in der Mitte auseinandergerissen zu werden drohte.

Das war es! Game over, Geisterjäger!

Ich riss den Kopf in den Nacken und schrie in nackter Todesangst. Kühle Luft strömte in meine Lungen, das Herz trommelte gegen die schmerzenden Rippen.

Ich keuchte, würgte – und übergab mich.

Mein Mageninhalt klatschte auf einen schwammigen Untergrund, der übersät war mit dunkelbraunem, faulig riechendem Laub. Meine Hände versanken bis zu den Gelenken im Matsch, in dem sich etwas bewegte.

Ich wollte mich aufrichten, kam aber nicht mehr richtig hoch. Etwas umklammerte mein linkes Handgelenk. Was sich anfühlte wie kalte Würmer, entpuppten sich als die bleichen Finger einer Totenhand.

Und sie blieb nicht lange allein. Rings um mich herum schoben sich die weißen Arme von Leichen aus dem Waldboden, tasteten nach meinen Beinen, packten den Saum der Jacke und des darunterliegenden Pullovers und wollten mich hinab auf den Boden ziehen. Möglicherweise sogar hinein, um mich lebendig zu begraben.

»Nein«, würgte ich.

Es gelang mir, den rechten Arm aus dem feuchten Erdreich zu ziehen. Ich spürte das kalte Metall des Kreuzes zwischen den Fingern. Kurz entschlossen presste ich den geweihten Talisman auf die Totenklaue, die noch immer mein linkes Handgelenk umklammerte.

Keine Reaktion!

Mir gefror das Blut in den Adern. Mein Blick saugte sich förmlich an dem silbernen Kreuz fest, das beinahe ein Teil meines Körpers war. Ich trennte mich fast nie von diesem Talisman, der mir bereits tausendfach das Leben gerettet hatte. Ich hätte jedes einzelne Zeichen, jede noch so winzige Gravur im Schlaf beschreiben können.

Doch jetzt war nichts mehr davon zu sehen.

Ein tiefschwarzer Schatten hatte sich über das Kreuz gelegt und das wertvolle Kleinod in einen nutzlosen Klumpen Metall verwandelt.

Der Deckel des schwarzen Sargs war über John zugefallen.

Die schattenhaften Tentakel hatten den Geisterjäger gepackt und mit solcher Kraft in die Totenkiste gezerrt, dass selbst Suko ihn nicht hatte festhalten können. Sein Freund war vor seinen Augen in der Schwärze verschwunden.

Der Inspektor trat an den Sarg heran, stieß Lykke sogar noch beiseite und versuchte, die Totenkiste aufzuhebeln. Und obwohl diese keine sichtbaren Verschlüsse hatte, haftete der Deckel bombenfest auf dem Unterteil.

»Lass es, Suko!«, vernahm er Lykkes Stimme neben sich. »Es hat keinen Zweck.«

»Wir müssen es versuchen.« Der Inspektor keuchte, Schweiß perlte auf seiner Stirn. »Hilf mir lieber.« Aber noch während er diese Worte ausstieß, zogen sich Risse durch das Holz. Dunkelgrauer Staub wallte dazwischen hervor und reizte Sukos Lungen, brannte in den Augen.

Er hustete, ließ von der Totenkiste ab und riss die Arme reflexartig vor das Gesicht. Suko blinzelte, wischte sich den Staub ab und wollte erneut an den Sarg herantreten, doch Lykkes Hände schlossen sich wie die Backen eines Schraubstocks um seine Oberarme.

»Nicht!«, rief sie, und Suko musste zugeben, dass sie recht hatte.

Es war zu spät.

Vor ihren Augen brach der Sarg auseinander und zerfiel zu Asche. Von John Sinclair fehlte jede Spur!

Lykke ließ Suko los, der sich fahrig den Schweiß von der Stirn wischte und dabei den grauen Staub verschmierte. Mary Murdock reichte ihm ein Taschentuch, das er dankbar entgegennahm,

»Es war eine Falle!«, konstatierte er.

»Eine Falle?«, fragte die Werwölfin, deren Kinder Emma und Ethan ebenfalls verschwunden blieben. »Du meinst, der Sarg wurde absichtlich hier stehen gelassen?«

»Genau das meine ich. Matthias konnte sich denken, was passiert, wenn John von dem Verschwinden deiner Kinder erfährt.«

»Aber woher sollte er wissen, dass die Nornen uns auf ihr Verschwinden aufmerksam machen?«, fragte Lykke.

Sukos Kopf flog herum. »Ja, genau. Es sei denn, sie sind mit vom Komplott.«

Die Miene der Schamanin blieb ausdruckslos. »Unwahrscheinlich.«

Plötzlich ahnte Suko, wie sich ein Bill Conolly fühlen musste, wenn er sich über seine Gelassenheit mokierte. Lykkes Stoizismus war enervierend.

»Vergiss nicht, dass meine Kinder ebenfalls verschwunden sind«, meldete sich Mary Murdock hinter ihm zu Wort.

Lykke nickte. »So ist es. Wir müssen davon ausgehen, dass dieser Sarg ein Tor in Hels Welt darstellt, in der sich vermutlich nicht nur Rebecca und Denise aufhalten, sondern auch Emma und Ethan.«

»Und jetzt auch John«, murmelte Suko. »Du meinst, die Nornen haben das hier wissentlich arrangiert, um den Kindern zu helfen?«

Sie hob die Schultern. »Ist das so abwegig?«

»Aber wieso John? Wieso nicht jemand anderen oder uns alle?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Möglicherweise, weil er als Einziger die entsprechenden Waffen hat, um sich gegen Luzifer zu wehren.«

Suko verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Ganz genau. Aber was, wenn das der Plan war? Um John auszuschalten?«

»Wie meinst du das?«, fragte Mary mit zitternder Stimme.

Der Inspektor drehte sich zu ihr um. »Hel hat sich mit Luzifer verbündet und Rebecca entführt. Warum?«

»Ich nehme an, es geht um Rache«, sagte Lykke.

»Wofür?«

»Es heißt, Hel wurde aus Asgard verbannt, weil sich die Asen vor Lokis Kindern fürchteten. Ich denke, dass sie sich deshalb mit Luzifer verbündet hat. Um an Thor Vergeltung zu üben.«

»Dem Asenbären.«

Die Schamanin nickte stumm. Sie war blass geworden. Doch Suko war noch nicht fertig.

»Wer beschützt die Kolonie? Ich meine, jetzt, wo Rebecca im Totenreich ist und sich die Werwölfe nicht verwandeln können?«

Lykke schluckte. »Thor!«, hauchte sie.

»So, wie er das Lager der Berserker beschützt hat?«

Die Berserkerin schwieg betroffen, daher übernahm Mary die Initiative. »Wir müssen zurück«, sagte sie. »Wenn Suko recht hat, wird der Angriff nicht lange auf sich warten lassen.«

»Wo werden meine Freunde hingebracht?«, fragte Denise.

Sie war drauf und dran, sich von dem Stuhl aus Leichen hochzudrücken, doch ihre Fesseln wurden plötzlich von eiskalten Totenfingern festgehalten.

»Ihnen wird kein Leid geschehen, das versichere ich dir!« Hels Lächeln verursachte bei Denise eine Gänsehaut. Sie hatte zu lange Zeit unter Monstern gelebt, um sich von dieser Umgebung einschüchtern zu lassen. Trotzdem klopfte ihr Herz bis zum Hals. Es war die Angst um Emma und Ethan, aber auch um Rebecca, deretwegen sie überhaupt hergekommen war.

Entgegen Lykkes Warnungen hatte sie sich unter die Wurzeln der Weltenesche Yggdrasil gewühlt, um Rebecca aus den Fängen der Totengöttin zu befreien. Doch jetzt, wo sie ihr Auge in Auge gegenübersaß, wuchs die Erkenntnis, dass sie sich dieses Mal übernommen hatte.

Als Lykaons Tochter, in Gestalt der geflügelten Bestie, kannte sie keine Angst. Wozu auch? Sie war es doch, die mit einem Blick Furcht in die Herzen der Menschen säte. Sie hatte sogar den Amaruk gebändigt und Matthias, den ersten Diener Luzifers, in seine Schranken verwiesen. Sie hatte Garm, den Höllenhund, in die Flucht geschlagen und Modgud, die Riesin, besiegt.

Und sie war sich sicher gewesen, auch mit Hel fertigzuwerden.

Dummerweise war sie mit ihren Kräften beinahe am Ende. Selbst jetzt spürte sie noch die pochenden Schmerzen, dicht neben ihrem linken Schulterblatt. Dort, wo sie sich in Gestalt der Bestie einen Flügel ausgerissen hatte, um sich aus einer von Hels Fallen zu befreien und ihren Freunden zu Hilfe zu eilen. Sie wusste gar nicht, wie oft sie sich in den letzten Stunden verwandelt hatte. Oder wandelten sie bereits seit Tagen durch diese Höllenwelt?

Denise war bekannt, dass Zeit in fremden Dimensionen häufig anderen Gesetzen unterworfen war. Sie konnte schneller, aber auch langsamer vergehen. Anhand des Hungers, der in ihren Eingeweiden wühlte, hätte Denise auf Tage getippt.

Doch das konnte ebenso gut an den zahlreichen Transformationen liegen.

Ihr Vater mochte ein Dämon gewesen sein, ihre Mutter aber war eine gewöhnliche Frau gewesen. Denise bekam Hunger und Durst wie jeder andere Mensch. Sie musste atmen, und in ihrer Brust schlug ein Herz. Sie schlief und verspürte Schmerzen, gleichwohl ihre Toleranz weitaus höher lag als die gewöhnlicher Sterblicher.

Ob sie auch wie solche alterte und starb, musste die Zukunft zeigen, sofern es eine gab.

»Worüber denkst du nach, Denise Curtis?« Hel hielt einen abgetrennten Arm in der Hand und nagte gedankenverloren daran herum.

Lykaons Tochter leckte sich über die Lippen. Oh ja, sie hatte wirklich großen Hunger. Aber sie hatte auch nicht vergessen, weshalb sie ursprünglich gekommen war. »Wo ist Rebecca?«

Hel kaute mit offenem Mund und schmatzte lautstark. Eine dunkle Flüssigkeit sickerte aus den Mundwinkeln über das Kinn. »Ein entzückendes Mädchen. Wirklich. Und so klug. Sie erinnert mich an jemanden.« Hel ließ die Hand mit dem abgenagten Arm sinken und schlug den Knochen rhythmisch auf die Tischkante. »Wenn ich nur drauf käme, an wen?«

Sie schürzte die Unterlippe, kam aber offenbar zu keinem Ergebnis. Daher zuckte sie mit den Schultern, schleuderte den abgenagten Arm in den Kamin und zog den Rumpf eines Mannes zu sich heran, dem sämtliche Gliedmaßen amputiert worden waren. Mit bloßen Fingern, deren schwarze Nägel lang und spitz wie Dolche aus den Kuppen ragten, riss sie das Fleisch von den Knochen und stopfte es sich in den Mund.

»Hör auf, zu fressen, und antworte mir!«, brüllte Denise.

Tatsächlich hielt Hel inne. Langsam erhob sie sich und schritt an der Tafel vorbei auf ihren Gast zu. Dicht vor Denise blieb sie stehen und beugte sich vor. An ihrem Kinn wand sich eine Made. Mit dem Finger wischte sie sie ab und steckte ihn sich in den Mund.

Schmatzend zog sie ihn hervor und legte ihn unter Denises Kinn.

»Fürwahr, sehr temperamentvoll. Davon abgesehen, finde ich wenig Besonderes an dir. Keine Ahnung, warum Matthias so interessiert an dir ist.«

»Zeig ich dir«, zischte Denise, und verwandelte sich.

Alles oder nichts. Vielleicht kam sie nie wieder so nah an Hel heran. Und wenn die ihr nicht sagen wollte, wo Rebecca war, würde sie die Information eben aus ihr herausprügeln. Göttin hin oder her. Denise ließ ihrem Hass freien Lauf. Wie Magma schoss das Blut durch ihre Adern, rauschte in den Ohren. Ein roter Schleier legte sich über ihre Augen.

Die Nähte von Emmas Winterjacke knarzten und spannten sich unter dem Druck von Denises Schultern, rissen am Rücken der Länge nach auf. Mit den Krallen zog sich Denise die Fetzen vom Körper, auf dem innerhalb eines Wimpernschlags ein dichter grauschwarzer Pelz wucherte.

Wie von der Feder geschnellt sprang Denise auf. Die lebenden Leichen ergriffen die Flucht, verkrochen sich unter dem Tisch und in irgendwelchen dunklen Ecken.

Hel jedoch klatschte in die Hände und legte den Kopf in den Nacken.

»Fantastisch. So habe ich mir das vorgestellt.«

Denise brüllte und wollte auf die Totengöttin losgehen, hatte die Rechnung aber offensichtlich nicht mit dem Wirt gemacht.

Sie hörte noch einen unartikulierten Schrei, das Klatschen nackter Füße, dann traf sie auch schon der mörderische Schlag von der Seite und schleuderte sie, begleitet von Hels Gelächter, zu Boden. Denise schlitterte über das harte Gestein, ihre Sicht verschwamm.

Die unverständlichen Laute schwollen zu einem wütenden Geheul an.

Ein Schatten fiel über sie. Es war die Vettel mit der besudelten Kutte, Ganglot, die mit beiden Händen einen schweren Hammer hoch über ihren Kopf schwang, um ihn mit voller Wucht auf die Werwölfin herabsausen zu lassen.

Der Schock über die Veränderung des Kreuzes drohte mich zu lähmen.

Es war nicht das erste Mal, dass es meinen Feinden gelang, den Talisman zu manipulieren. Luzifer und Lilith war dies schon mehrfach gelungen. Hinzu kamen die zahlreichen fremdartigen Magien, von deren Existenz der Prophet Hesekiel, der das Kreuz vor zweitausendfünfhundert Jahren in babylonischer Gefangenschaft hergestellt hatte, nichts geahnt hatte.

Atlantis, Aibon, ja, selbst die nordische Götterwelt hatte er nicht berücksichtigen können.

Ich musste daran denken, wo ich mich hier befand. Sollte dies tatsächlich Hels Reich sein, dann ... ein scharfer Schmerz holte mich zurück ins Hier und Jetzt. Die Krallen der Totenfinger gruben sich tief in das Fleisch meiner Waden. Gleichzeitig verstärkte sich der Zug auf meine linke Hand. Ich wurde nach vorne gezerrt, verlor den Halt und kippte bäuchlings auf den schwammigen Waldboden. Der Gestank nach verfaultem Fleisch raubte mir den Atem.