John Sinclair 2285 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2285 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Die Augen des Knaben quollen aus den Höhlen.
Seine blassen, blutleeren Lippen zitterten, öffneten und schlossen sich, wie das Maul eines Fisches, den man zum Sterben aus dem Wasser gezogen hatte. Ein dünnes, scharlachrotes Rinnsal bahnte sich seinen Weg aus den Tiefen des Schlundes, über den Mundwinkel hinaus und hinterließ eine zittrige Spur auf dem weißen Wangenfleisch.
Kein Vergleich zu den Kaskaden, die aus dem klaffenden Schnitt in der Kehle auf die nackte Brust des Jünglings schwappten, der verzweifelt um sein jämmerliches Leben rang. Er bäumte sich auf, versuchte die Hände auf die Wunde zu legen, um die Blutung zu stoppen, woran ihn jedoch die Stricke an den Armen hinderten.
Ein hohles Röcheln wehte zusammen mit einigen Tropfen süßen Blutes aus dem Mund, der rittlings auf seinem Schoß sitzenden Gestalt ins Gesicht.
Agnes warf den Kopf in den Nacken und jauchzte.
"Ein Vogel wollte Hochzeit machen, in dem grünen Waaalde. Fidirallala, fidirallala, fidirallalalala


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Inhalt

Cover

Die irre Agnes

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Die irre Agnes

von Ian Rolf Hill

Die Augen des Knaben quollen aus den Höhlen.

Seine blassen, blutleeren Lippen zitterten, öffneten und schlossen sich, wie das Maul eines Fisches, den man zum Sterben aus dem Wasser gezogen hatte. Ein dünnes, scharlachrotes Rinnsal bahnte sich seinen Weg aus den Tiefen des Schlunds, über den Mundwinkel hinaus und hinterließ eine zittrige Spur auf dem weißen Wangenfleisch.

Kein Vergleich zu den Kaskaden, die aus dem klaffenden Schnitt in der Kehle auf die nackte Brust des Jünglings schwappten, der verzweifelt um sein jämmerliches Leben rang. Er bäumte sich auf, versuchte, die Hände auf die Wunde zu legen, um die Blutung zu stoppen, woran ihn jedoch die Stricke an den Armen hinderten.

Ein hohles Röcheln wehte zusammen mit einigen Tropfen süßen Blutes aus dem Mund, der rittlings auf seinem Schoß sitzenden Gestalt ins Gesicht.

Agnes warf den Kopf in den Nacken und jauchzte.

»Ein Vogel wollte Hochzeit machen, in dem grünen Waaalde. Fidirallala, fidirallala, fidirallalalala.«

»Der Spatz, der kocht das Hochzeitsmahl, verzehrt die schönsten Bissen all!«

Agnes blieb auf ihrem Bräutigam sitzen, bis der letzte Funken Leben erloschen war.

Sie genoss jede einzelne Sekunde seines Todes, verfiel in regelrechte Ekstase und gebärdete sich wie toll. Die Frau im Hochzeitskleid, dessen Saum ihren schlanken Leib umschmeichelte wie die Blätter einer Blüte, ließ das Becken kreisen. Ihr Oberkörper zuckte im Rhythmus des schwächer schlagenden Herzens unter ihr.

Wollüstige Laute, abgehackt und kehlig, entfleuchten ihrer Kehle.

Erst als die Wärme verflog und die lähmende Kälte von dem Leichnam Besitz ergriff, sank Agnes zusammen. Schwer atmend beugte sie sich vor, nahm das Gesicht ihres Bräutigams in beide Hände und presste die erhitzte Stirn gegen die seine, die sich kalt und klamm anfühlte.

Schweiß benetzte Roberts Stirn. Leichenschweiß.

Agnes kicherte. »Danke, danke, danke«, keuchte sie, gab ihrem Liebhaber einen Kuss auf die blutverschmierten Lippen und glitt von ihm herunter. Schwankend blieb sie neben dem Himmelbett mit dem besudelten Laken stehen, noch immer berauscht von der Lust.

Lachend wirbelte sich um die eigene Achse, sodass sich der Saum des Kleids hob und wie eine Glocke aufbauschte. Die roten Spritzer leuchteten auf dem blütenweißen Stoff wie Edelsteine.

Agnes tanzte um das Bett herum, bis sie auf der rechten Seite zu Boden sank. Das Haupt auf die Matratze gebettet, betrachtete sie Roberts Profil. Seine Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Gedankenverloren liebkoste sie die maskenhaft starren Züge und strich eine Strähne dunkelbraunen Haares aus dem Antlitz.

»Jetzt heißt es Abschied nehmen, Darling«, wisperte sie. Ein tiefes Seufzen entstieg ihrer Brust. Agnes rappelte sich auf die Füße. »Hilft ja alles nichts!«

Sie beugte sich über ihn, um die Stricke, mit denen sie ihren Bräutigam ans Bett gefesselt hatte, von den Pfosten zu lösen. Erst den linken Arm, danach den rechten. Dort lag auch das Messer, mit dem sie ihn geschächtet hatte. Sie hob es auf und betrachtete es versonnen lächelnd.

Agnes hob die Klinge an die Lippen, zwischen denen die Zunge erschien und blitzschnell das Blut ableckte. Es war längst kalt und geronnen, schmeckte aber dennoch köstlich. Nachdem sie das Messer gesäubert hatte, durchtrennte sie die Stricke an den Füßen, bevor sie die Klinge in den Gürtel schob, der ihre schlanke Taille umschloss.

Anschließend griff sie nach den Seilen an Handgelenken des Toten und zerrte ihn aus dem Bett. Der entblößte Leib klatschte auf den kalten Stein. Summend schleifte Agnes ihn aus dem Gemach, das vom flackernden Schein der Kerzen erhellt wurde.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich gelassen, da fing sie erneut an zu singen: »Der Hahn, der krähet: ›Gute Nacht‹, nun wird die Kammer zugemacht.«

Mit diesen Worten stieß sie die Tür mit dem nackten Fuß ins Schloss und machte sich mit ihrer Last auf den Weg hinaus ins Moor. Sie hatte keine Verwendung mehr für Robert.

Die Hochzeit war schön gewesen, so wie alle ihre Hochzeiten.

Mochten noch viele weitere folgen.

»Fidirallala, fidirallala, fidirallalalala.«

Ihr Weg führte über die Treppe hinab in Richtung Nebeneingang.

Es bereitete Agnes keine große Mühe, den Kadaver hinter sich her zu schleifen, Robert war nicht besonders kräftig gewesen. Ein verwöhnter Laffe, der sich in Daddys Glanz gesonnt hatte. Ein hübscher, redegewandter Laffe, zugegeben, mehr jedoch nicht.

Was aber viel wichtiger war, er hatte seinen Mann gestanden, auch wenn es etwas gedauert hatte. Sie hatte schon lange ein Auge auf ihn geworfen. Normalerweise feierte sie ihre Hochzeiten mit weniger prominenten Jünglingen, mit Wanderern, Knechten oder Handwerksgesellen. Menschen, deren Verschwinden im schlimmsten Falle Aufsehen erregte, aber keine großen Wellen schlug, solange die Leiche nicht gefunden wurde.

Im Falle von Robert sah das allerdings anders aus, doch Agnes war zuversichtlich, dass ihre Schutzherrin, sie auch dieses Mal nicht im Stich lassen würde.

Die Treppe lag hinter Agnes, jetzt kam der beschwerliche Teil. Durch Flur und Küche, hinaus auf das weitläufige Gartengrundstück, an das sich der Familienfriedhof anschloss, hinter dem das Moor lag, das bereits begierig auf ihr neues Opfer wartete.

Agnes giggelte in freudiger Erwartung – und schrak zusammen, als sie die Bewegung vor sich im Dunkeln gewahrte. Eine Gestalt löste sich aus den Schatten, die sich im Flur zusammenballten. Ein teigiges, bleiches Gesicht, das im fahlen Schein des Mondlichts, das hinter Agnes durch ein Fenster fiel, schimmerte und glänzte wie eine alte Speckschwarte.

Carl, ihr Diener. Stumm, einfältig und verkrüppelt, war er ihr dennoch treu ergeben. Geradezu hündisch. Einer der wenigen Lakaien, die ihr geblieben waren. Was ihm aber noch lange nicht das Recht gab, sie so zu erschrecken.

Agnes wurde heiß und kalt, ihr Herz hämmerte in der Brust, aus der heraus sie ihren Diener anknurrte. »Carrrl, du Idiot. Was schleichst du hier herum? Sieh zu, dass du das Bett abziehst und die Klamotten verbrennst. Und vergiss das Laken ...«

Unartikulierte Laute drangen aus seinem Mund und schnitten ihr das Wort ab. Mit hektischen Bewegungen deutete er zur Eingangshalle.

»Was soll das? Was ist los?«

Carls Gestammel steigerte sich zu einem Heulen, das Agnes zunehmend beunruhigte. Doch erst als er auf den toten Robert deutete, fiel bei ihr der Groschen.

»Sein Vater? Er ist auf dem Weg hierher?«

Ihr Diener nickte eifrig, halb erleichtert, dass sie begriffen hatte, halb in Sorge. Verständlich, wenn man den Toten fand, würde man sie gleich vor Ort hinrichten. Und ihn mit Sicherheit auch.

»Wie viele?«

Carl hob die Arme und präsentierte ihr die gespreizten Hände, schloss sie zu Fäusten, nur um sie gleich darauf wieder zu öffnen. Das genügte ihr. Egal ob er nun übertrieb oder nicht, aber es waren eindeutig zu viele.

Im ersten Moment wollte sie an Carl vorbeistürmen, um sich persönlich ein Bild von der Lage zu machen, doch dann besann sie sich. Nein, er hatte sich gewiss nicht getäuscht. Und selbst wenn es nicht Roberts Vater war, der sich auf dem Weg nach Monkford Hall befand, so änderte das nichts an der Tatsache, dass sie die Leiche loswerden musste.

Hastig bückte sie sich und ergriff die Seile von Neuem.

»Rasch!«, zischte sie. »Hol die Kleidung und das Laken! Verbrenn alles, und mach hier sauber!«

Sie wies mit dem Kinn auf die blutigen Schleifspuren, die sie auf ihrem Weg hinterlassen hatte. Carl nickte eifrig, wandte sich um und verschmolz mit den Schatten. Zwei Atemzüge später hörte Agnes seine Schritte auf den Stufen der Treppe, die sie eben erst hinabgeschritten war.

Die Hausherrin aber drehte sich um, legte sich die Seilenden über die Schulter und zerrte den Toten wie einen Sack Kartoffeln hinter sich her. Prompt trat sie auf den Saum ihres Kleids und wäre fast noch gestürzt.

Agnes schrie zornig, ließ die Seile los und zog das Messer aus dem Gürtel. Wutentbrannt stieß sie es in den Stoff, riss und zerrte ihn mit ruckartigen Bewegungen auseinander und trennte genug von ihm ab, dass sie nicht mehr versehentlich drauf trat.

Sie verstaute das Messer wieder, schnappte sich die Seile und setzte ihren Weg fort. Durch die Küche, an der Waschkaue vorbei, zum Hinterausgang. Kalte Luft schlug ihr entgegen und trocknete den Schweiß auf der erhitzten Haut. Der Wind brachte den fauligen Geruch des Moores mit, den sie so sehr liebte. Hoch über ihr am nächtlichen Himmel zogen dicke, tiefschwarze Wolken ihre Bahnen. Ab und an rissen sie auf und ließen das Licht des Vollmondes hindurch. So wie jetzt, als sie mit Robert den Weg zum Familienfriedhof einschlug, hinter dem der Sumpf lag.

Das dumpfe Schlagen zahlloser Hufe drang an Agnes' Gehör. Dazwischen vernahm sie das Rufen der Männer und das Kläffen einer Meute. Bluthunde.

Agnes erstarrte.

Dann gab sie sich einen Ruck und setzte ihren Weg fort. Noch entschlossener, noch verbissener, aber nicht ohne ein Stoßgebet an ihre Schutzpatronin zu entsenden, der sie ewige Treue geschworen hatte. Und für wenige Augenblicke sah es so aus, als könnte sie es schaffen.

Längst hatte sie den Friedhof erreicht. Stapfte den Pfad entlang, der sich zwischen den Gräbern hindurch bis zum Mausoleum wand, hinter dem sich die niedrige Bruchsteinmauer entlangzog. Die Grenze zum Moor!

Feuchte Kälte kroch aus dem unebenen Boden. Sickerte durch ihre nackten Füße in die Beine und drohte sie zu lähmen. Nur die Angst vor den Häschern des Bürgermeisters, dessen ausgebluteten Sohn sie hinter sich her schleifte, trieb sie voran.

Ihr Herz hämmerte mit der Wucht von Pferdehufen gegen die Rippen. Das Blut rauschte in den Ohren. Das Krachen und Bersten von Holz wehte durch die Nacht.

Weiter!, schoss es ihr durch den Kopf. Nur weiter!

Eben tauchte sie in die Schatten des Mausoleums, als das Splittern von Glas ertönte, gefolgt von einem grässlichen Schrei, der sie herumfahren ließ. Ihr Blick glitt hinauf zum Giebel, wo sich das Schlafzimmer befand.

Die Scheibe war geborsten.

Mehrere Gestalten hoben sich scharf wie Scherenschnitte vor dem flackernden Schein der Fackeln ab. Carl stand mit dem Rücken zum Fenster, aus dem er jetzt herausgestoßen wurde.

Seine Schreie brachen ab, als sich das eilig um seinen Hals geschlungene Seil straffte. Zu eilig, wie sich herausstellte, denn die Gnade eines Genickbruchs blieb ihm verwehrt. Stattdessen wurde er langsam und qualvoll stranguliert. Die Beine zappelten, die Arme fuhren zuckend zur Kehle.

Doch die Bewegungen wurden bereits schwächer. Die Männer am Fenster aber starrten hinaus in die Nacht. Es dauerte nicht lange, bis sie Agnes trotz der Schatten entdeckten. Nicht zuletzt, weil just in diesem Augenblick die Wolken aufrissen und das Mondlicht ungehindert auf sie hinunter schien.

Agnes greinte vor Wut und Enttäuschung. Das war also der Beistand, den sie von der Höllengöttin zu erwarten hatte?

Arme reckten sich aus dem geborstenen Fenster, stießen in ihre Richtung. Und noch bevor das wütende Bellen der Hunde lauter wurde, wusste Agnes, dass sie es nicht mehr schaffen würde.

Dennoch warf sie sich herum und zerrte den Kadaver weiter. Am Mausoleum vorbei, hinter dem sich ein schmaler Durchbruch in der Mauer auftat. Dort ließ sie die Seile fallen und wirbelte um die Achse.

Das Kläffen der Bluthunde wurde lauter. Viel zu schnell. Noch im Laufen zog sie das Messer. Sie hielt es kaum in der Faust, als der erste Schatten um die Ecke fegte und sich geifernd auf sie stürzte. Instinktiv stieß Agnes zu. Die Klinge fuhr von oben ins Genick des Tieres, das qualvoll aufheulte. Prompt blieb das Messer stecken.

Keine Zeit, es hervorzuziehen. Agnes sprang auf einen Stein vor der Rückwand des Mausoleums, ergriff die untere Kante der viereckigen Öffnung, die im Mauerwerk klaffte, und zog sich hoch. Mit abgehackten Schreien feuerte sie sich selbst an.

Schon lag ihr Oberkörper auf der schräg abfallenden Mauer, nur die Beine ragten noch ins Freie. Da spürte sie das Gewicht, das sie daran hinderte, in die Gruft zu gelangen. Das wütende Knurren verriet ihr, dass es sich um einen der Hunde handelte. Er hatte den zerfetzten Saum ihres Hochzeitkleids zu fassen bekommen.

Die feuchte Hundeschnauze strich kalt über ihr Schienbein.

Agnes keuchte und schrie vor Wut und Angst. Sie schob die Arme nach vorne und umklammerte den Rand des kurzen Schachts. Das Bellen wurde lauter, schriller. Die Meute tobte. Dann der Ruck, begleitet von einem reißenden Geräusch, als die Nähte des Kleids nachgaben.

Von einer Sekunde zur anderen schwand das Gewicht des Hundes. Agnes rutschte vorwärts. Es gelang ihr gerade noch, die Arme vor Kopf und Gesicht zu halten, dann glitt sie ins Innere des Mausoleums und fiel auf die steinerne Bank, die zwischen Rückwand und Sarkophag stand. Sie krümmte sich vor Schmerzen, wälzte sich über die Sitzfläche auf den harten Boden. Auf allen vieren kroch sie zu dem Steinsarg, an dem sie sich in die Höhe zog.

Darin lag ihr Großvater, der das Anwesen erbaut hatte. Mochte er in der Hölle schmoren. Sie kicherte, als sie daran dachte, dass sie ihn womöglich bald schon wiedersehen würde. Aber mit ein wenig höllischem Beistand würde sie es dann sein, die ihn quälen und martern durfte.

Bis in alle Ewigkeit.

Das Bellen und Geifern der Meute hinter ihr wollte und wollte nicht aufhören. Agnes hörte sogar das Schaben und Klickern der Krallen, als die Köter an der Mauer emporsprangen. Auch vorne, am Eingang machten sie sich zu schaffen. Nicht mehr lange, bis ihre menschlichen Begleiter erschienen. Sie musste sich verstecken. Mit etwas Glück, würden ihre Verfolger annehmen, dass sie ins Moor geflohen wäre.

Die Frage war nur: Wo?

Ihr Blick irrte durch die winzige Grabkammer und blieb am Sarkophag hängen. Agnes Lippen verzogen sich vor Abscheu. Aber hatte sie eine andere Wahl? Wohl kaum.

Sie stemmte sich gegen den schweren Deckel. Zuerst rührte er sich keinen Millimeter. Agnes spürte, wie sie wegzurutschen drohte. Schmerzhaft stachen winzige Steine in ihre Fußsohlen. Da endlich vernahm sie das leise Knirschen.

Sie lachte meckernd. Die Furcht vor der Meute verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Nein, begriff Agnes, nicht die Furcht. Sie, die Herrin allein, gab ihr diese Stärke.

Dunkel gähnte die Öffnung und entließ einen moderigen, leicht würzigen Geruch, der Agnes an getrockneten Schinken erinnerte. Sie hielt den Atem an, beugte sich vor – und zuckte zurück, als sie in die vertrocknete Fratze ihres Großvaters blickte. Die Augen waren in die Höhlen gesunken, das ledrige Fleisch der Lippen hatte sich von den braun verfärbten Zahnstummeln zurückgezogen.

Das schlohweiße Haar umgab sein Haupt wie Spinnweben.

Agnes zögerte keine Sekunde. Beherzt steckte sie beide Arme in die Öffnung, griff nach den Schultern des Leichnams und ... verharrte.

Nein, sobald sie ihn herauszog, würde man sofort wissen, wo sie abgeblieben war.

Und da erklangen auch schon die Stimmen der Männer, die sich und die Hunde anbrüllten.

Sie musste sich beeilen. Kurz entschlossen stemmte sie sich auf den Rand des Sarkophags, raffte die Fetzen ihrs Brautkleides zusammen und schob die aneinandergelegten Füße in die das Innere. Ihre Zehen stießen gegen den vermoderten Leichnam, berührten moderiges Gewebe, das augenblicklich zerbröselte.

War es nur die Kleidung des Toten oder bereits die Haut? Agnes war es egal. Mit den Beinen voran, glitt sie tiefer in den Sarg, den Kadaver ihres Großvaters so gut es ging beiseiteschiebend. Das Knirschen und Knacken, das sein morsches Gerippe dabei verursachte, war die reinste Musik in ihren Ohren.

»Der lange Specht, der lange Specht, der macht der Braut das Bett zurecht«, sang Agnes und kicherte.

Sie griff nach dem Deckel, stemmte die Hände flach von unten dagegen und schaffte es tatsächlich, ihn so weit anzuheben, dass sie ihn über die Öffnung schieben konnte. Ihr Atem ging schwer und schnell. Wie vor wenigen Minuten, als sie auf dem sterbenden Robert geritten war.

Staub drang in Mund und Nase, reizte die Atemwege. Unwillkürlich musste sie husten. Und in das Geräusch hinein hörte sie das Knirschen, mit dem die Tür zum Mausoleum aufgebrochen wurde. Agnes hielt den Atem an.

Schritte näherten sich.

»Sie ist nicht hier!« Die Stimme des Mannes klang dumpf, unmöglich zu sagen, um wen es sich handelte. »Ich sag doch, sie ist ins Moor gelaufen.«

»Und warum sind die Hunde dann wie toll um das Mausoleum herumscharwenzelt?«

»Weil sie die Fährte verloren haben.«

»Nein, sie ist hier. Ich kann es spüren.«

Etwas schabte über den Deckel des Sarkophags. Agnes schluckte, ihr Herz schlug so laut, dass sie glaubte, es müsste im ganzen Mausoleum zu hören sein.

»Verdammt, so helft mir doch!«, keuchte der Mann, bei dem es sich nur um Roberts Vater handeln konnte.

»Du bist verrückt. Wie soll sie denn in den Sarkophag gekommen sein, wenn nicht mal du es schaffst, den Deckel zu bewegen?«

»Weil sie wahnsinnig ist, hörst du? Und Wahnsinnige haben übermenschliche Kräfte.«

»Das ist ...«

»Helft mir!«, brüllte der Bürgermeister.

Und da wusste Agnes, dass sie verloren war. Doch so leicht würde sie sich nicht geschlagen geben. Blind tastete sie ihre Umgebung ab. Die Hände strichen über das Gestein, fanden auch das Skelett ihres Großvaters.

Heute bin ich sogar freiwillig in dein Bett gekommen, dachte sie und kicherte schrill.

»Habt ihr das gehört?«

Agnes verstummte abrupt. Eisige Kälte kroch durch ihre Glieder. Bis sie das Knirschen vernahm, mit dem sich die Männer gegen den Deckel stemmten. Ein heller Spalt klaffte in der Dunkelheit, das flackernde Licht von Fackeln flutete in das Innere des Sarkophags.

Und ihre Finger schlossen sich um den blanken, morschen Knochen, brachen ihn auseinander.

»Schnell«, keuchte der Bürgermeister. »Gebt mir eine Fackel.«

Ein bärtiges Gesicht erschien, weiß leuchteten die Augen, in denen sich das Licht des Feuers spiegelte.

Agnes kreischte und stieß zu!

Das abgebrochene Ende bohrte sich tief in das Auge des Mannes. Eine sämige, glibberige Flüssigkeit rann über ihre Hand, gefolgt von heißem, dunkelrotem Blut.

Der Bürgermeister brüllte, fuhr zurück. Der Knochen entglitt ihren Fingern, als der Kerl vor dem Sarkophag zu Boden stürzte, wie eine Marionette, der man die Fäden durchtrennt hatte.

Sofort eilten zwei Männer herbei, um ihm zu helfen. Agnes aber stemmte sich in die Höhe. Wenn sie schnell genug war, konnte sie es vielleicht schaffen.

Mit ihrer Hilfe ...

Ein mörderischer Hieb traf sie am Kopf. Agnes hatte das Gefühl, als würde ihr Schädel in zwei Hälften geteilt werden. Benommen sank sie zurück.

»Rasch, holt sie heraus, damit wir ...«

»Nein!«, rief ein anderer. »Lasst sie. Verschließt den Sarkophag! Und holt Steine! Je größer und schwerer, desto besser.«

»Du willst ...?«