John Sinclair 2289 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2289 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Wie Stromstöße pulsierten die Schmerzen durch Marylins kindlichen Körper, der von blendend weißer Helligkeit umflutet wurde. Trotzdem musste sie lachen, laut und schrill. Sie konnte gar nicht anders. So wie damals, als ihrem Bruder der Kakao aus der Nase herausgekommen war.
Nur war Lucas leider nicht hier. Er war tot. So wie Marylins gesamte Familie.
Lilith, die Große Mutter, hatte ihr eine Neue geschenkt, zu der auch Cruciata, die Spinnenfrau, gehörte. Doch jetzt sah es so aus, als würde ihr diese Familie ebenfalls wieder genommen werden, denn Cruciata lag blutend vor ihr auf dem Boden.
Und der Mann, der dafür verantwortlich war, stand nur wenige Schritte von Marylin entfernt. In der Hand ein silbernes Kreuz, aus dem das grelle Licht flutete.
John Sinclair!


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Inhalt

Cover

Kleiner Teufel Marylin

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Kleiner Teufel Marylin

von Ian Rolf Hill

Wie Stromstöße pulsierten die Schmerzen durch Marylins kindlichen Körper, der von blendend weißer Helligkeit umflutet wurde. Trotzdem musste sie lachen, laut und schrill. Sie konnte gar nicht anders. So wie damals, als ihrem Bruder der Kakao aus der Nase herausgekommen war.

Nur war Lucas leider nicht hier. Er war tot. So wie Marylins gesamte Familie.

Lilith, die Große Mutter, hatte ihr eine neue geschenkt, zu der auch Cruciata, die Spinnenfrau, gehörte. Doch jetzt sah es so aus, als würde ihr diese Familie ebenfalls wieder genommen werden, denn Cruciata lag blutend vor ihr auf dem Boden.

Und der Mann, der dafür verantwortlich war, stand nur wenige Schritte von Marylin entfernt. In der Hand ein silbernes Kreuz, aus dem das grelle Licht flutete.

John Sinclair!

Cruciata hatte den Geisterjäger im Auftrag der Großen Mutter in die unterirdischen Geheimarchive gebracht, um irgendwelche uralten Tontafeln anzuglotzen. Währenddessen war Marylin, zusammen mit ihrer Beschützerin, dem Engel Ennoia, bei Sinclairs Freunden geblieben.

Bis Tante Lilith erschienen war und ihnen eine neue Aufgabe gegeben hatte.

Sheila und Bill Conolly sollten Marylin Grey in die Katakomben unter dem Petersdom bringen, von denen aus es einen geheimen Zugang zu irgendeinem komischen Archiv geben sollte.

Doch was Marylin dann zu sehen bekommen hatte, hatte sie unfassbar wütend und traurig zugleich gemacht.

Mehrere schwarz gekleidete Männer mit Kapuzen und Maschinengewehren hatten vor Cruciata gestanden und auf sie geschossen. Ihre Freundin hatte sich nicht auf den Spinnenbeinen halten können und war zusammengebrochen.

»NEEEEIN!«

Und dann war Ennoia erschienen, die seit Lucas' Tod auf sie achtete und sie beschützte.

Marylins Blick hatte sich verändert. Wie immer, wenn sich Ennoia zeigte, hatte sie das Gefühl gehabt, durch ein Fernglas zu gucken, in dem tausend goldene Diamanten funkelten.

Ehe sie sich versah, hatte sie den Rucksack abgenommen und die Finger in die Löcher des dunkelgrauen Steins gesteckt, der daraufhin grünlich aufgeleuchtet hatte. Die Maskierten waren zurückgeschleudert worden und hatten sich noch in der Luft zu Asche verwandelt. Allein, weil sie es so gewollt hatte. Weil Ennoia es gewollt hatte.

Zurückgeblieben waren ein grauhaariger Mann, John Sinclair – und die Mörderin ihrer Mutter. Auch die blonde Polizistin hatte eine Maschinenpistole in den Fäusten gehalten. Wahrscheinlich hatte sie ebenfalls auf Cruciata geschossen. Wie die anderen.

Wer auf unbewaffnete Mütter schoss, der machte auch vor Freundinnen keinen Halt. Vor allem wenn sie so aussahen wie eine Mischung aus Mensch und Riesenspinne.

»Cruciata!«

Plötzlich hatte Marylin wieder ganz normal gucken können. Den Rucksack hinter sich her schleifend, war sie auf ihre Freundin zugerannt. Ihr Köper war übersät gewesen mit faustgroßen Löchern, aus denen wässriges schwarzgrünes Blut geschwappt war. Auch aus dem Mund war die Flüssigkeit gesprudelt.

Marylin war es egal gewesen. Sie hatte den Rucksack losgelassen und war neben Cruciata auf die Knie gefallen. Sie hatte ihren Kopf auf die Oberschenkel gebettet und ihr Gesicht gestreichelt. Sie hatte sie trösten wollen, denn Cruciata hatte bestimmt ganz schlimme Schmerzen gehabt.

Dicke Tränen waren aus Marylins Augen getropft. Ihre Brust, ihr Hals alles hatte weggetan, so stark hatte sie weinen müssen.

»Cruciata, was ... was ... haben sie mit dir gemacht?«

»Marylin, ich ...«

Es war John Sinclair gewesen, der sie angesprochen hatte. Auch er mit einer Maschinenpistole in den Händen.

Sofort hatte Marylin wieder durch Ennoias Augen geblickt. Mit einem Mal war sie gar nicht mehr traurig gewesen, nur noch wütend. So unglaublich wütend.

»Das ist eure Schuld«, hatte sie geschrien. »Dafür werdet ihr bezahlen!«

»Marylin, nein. Es ist nicht, wie es aussieht. Wir wollten ihr helfen«, hatte ausgerechnet Mamas Mörderin gerufen. Aber Mary hatte ihr kein Wort geglaubt.

Die Erwachsenen hielten sich ja für so schlau. Dabei logen sie, wenn sie nur das Maul aufmachten.

»Lüge!« Sie hatte sich umgedreht und nach dem Rucksack gegriffen.

Sinclairs Freundin Sheila hatte sie aufhalten wollen, doch Marylin hatte nicht auf sie gehört. Und dann hatte der Geisterjäger die Waffe fallen gelassen, sein Kreuz hervorgeholt und diese seltsamen Worte gesagt.

Gleich darauf war das Licht gekommen, und obwohl sie es gar nicht gewollt hatte und die Schmerzen kaum auszuhalten gewesen waren, hatte sie lachen müssen.*

Sie hatte gelacht und gelacht. Selbst dann noch, als das Licht längst verschwunden war.

Das Schrillen des Smartphones riss Father Ignatius unsanft aus dem Schlaf.

Am liebsten hätte er den Apparat gegen die Wand geschleudert, doch das wäre nicht im Sinne des Erfinders gewesen. Vor allem hätte es nichts an der Situation geändert, da er ohnehin schon hellwach war.

Und derjenige, der ihn angerufen und geweckt hatte, kannte darüber hinaus Mittel und Wege, um Ignatius auch ohne Smartphone aufzuspüren. Das war sein Job, schließlich war Signor Conte sein Stellvertreter.

Es gab das Sprichwort, dass man seine Schweine am Gang erkannte. Father Ignatius dagegen tat dies am Klingeln des Mobiltelefons. Kein Kunststück, denn es gab nur eine Handvoll Leute auf diesem Planeten, die überhaupt seine Handy-Nummer hatten, und jeder Einzelne von ihnen würde sie nur im äußersten Notfall anrufen.

Deshalb schaltete Ignatius den flachen Apparat niemals aus.

Er verzichtete sogar auf angenehmere Klingeltöne, denn der Zweck eines solchen war nun mal, Aufmerksamkeit zu erregen. Auch, und vor allen Dingen, wenn er schlief. Als Vorsitzender der Weißen Macht, des Geheimdienstes des Vatikans, war er nun mal rund um die Uhr, an sieben Tagen in der Woche im Dienst.

Statt das Smartphone also als Wurfgeschoss zweckzuentfremden, seufzte Ignatius lediglich und nahm das Gespräch an. »Was gibt es?«

»Signore Ignatius«, meldete sich Conte. »Wir haben Besuch bekommen. Und er will unbedingt zu Ihnen.«

»Zu mir?«, fragte Ignatius verwundert. »Wer ist es denn?«

»Es ist ein Kind. Ein kleines Mädchen. Es sagt sein Name sei Marylin Grey!«

»Niemand rührt das Kind an, haben Sie verstanden? Keine Provokation. Ich bin unterwegs!«

»Äh, selbstverständlich.«

Ignatius beendete das Gespräch und schwang die Beine von der Matratze.

So schnell wie jetzt war er schon lange nicht mehr aus dem Bett gesprungen und in die Kleider geschlüpft. Er nahm sich lediglich die Zeit, die Toilette aufzusuchen und sich kaltes Wasser ins Gesicht zu spritzen. Dann stürmte er aus seinen privaten Gemächern und eilte durch die hohen Flure in Richtung Eingangshalle.

Auf dem Weg dorthin überschlugen sich seine Gedanken. Ausgerechnet Marylin Grey. Himmel, wie lange hatten sie nach dem Kind und ihrer Amme Cruciata gesucht, nachdem sie spurlos aus den Katakomben unterhalb der Apostolischen Archive verschwunden waren?

Dass die weiße Magie aus dem Kreuz seines Freundes John Sinclair sie rückstandslos vernichtet hatte, glaubten weder Ignatius noch der Geisterjäger. Tatsächlich waren sie beide der Ansicht, dass es Lilith absichtlich auf die Spitze getrieben hatte, um die altbabylonischen Tontafeln, die angeblich das Siegel des Barbelo getragen hatten, zu vernichten.

Von Barbelo war es nicht weit zu Marylin, denn in ihr hatte sich das weibliche Prinzip Ennoia eingenistet, nachdem Davina McCarthy die Serienmörderin Christine Grey getötet hatte. Erst dadurch war es Ennoia jedoch gelungen, Besitz von der Kleinen zu ergreifen, die ihre gesamte Familie verloren hatte.

Lilith hatte sich ihrer angenommen und ihr eine Beschützerin zur Seite gestellt: die Spinnenfrau Cruciata. Denn Ennoia musste wachsen und reifen, um schließlich zum Racheengel Barbelo zu werden.

Nur mit ihrer Hilfe konnte Lilith die vier Engel der Hurerei erwecken, denen angeblich im alten Babylon gehuldigt worden war. Zumindest hatte man ihnen zu Ehren Zikkurats errichtet, gestufte Tempeltürme.

Und die Position dieser Tempel war auf den vernichteten Schrifttafeln verewigt gewesen. Möglicherweise sogar zusammen mit der Anweisung für das Ritual, mit dem die Engel der Hurerei erweckt werden konnten.

Das alles wäre gar nicht mal so schlimm gewesen, wenn mit der Vernichtung der Tontafeln nicht auch sämtliche Aufzeichnungen aus den Datenbanken gelöscht worden wären.

Natürlich hatte Ignatius die Katakomben unter der Ewigen Stadt durchkämmen lassen, aber nur wenig Hoffnung auf Erfolg gehabt. Abgesehen davon, dass sie ein regelrechtes Labyrinth bildeten, standen Cruciata und Marylin Grey eben auch unter dem Schutz der Großen Mutter, einer der ältesten und mächtigsten Dämoninnen, die es gab.

Um ehrlich zu sein, hatte Ignatius nicht mal mehr damit gerechnet, dass sich Cruciata und ihr Schützling überhaupt noch in Rom aufhielten. Umso überraschender war die Nachricht von Marylins plötzlichem Erscheinen.

Father Ignatius erreichte die Eingangshalle des Anwesens, in dem die Zentrale der Weißen Macht untergebracht war und das vom Grundriss her an ein Kloster erinnerte. Der Fußboden bestand aus Marmor, dessen helle Farbe in direktem Kontrast zu den dunklen, holzvertäfelten Wänden stand. Ein Flügel des Eingangsportals stand offen. Die Gestalt seines Stellvertreters Signor Conte zeichnete sich darin ab.

Das kurz geschnittene eisgraue Haar und der maßgeschneiderte schwarze Anzug waren unverkennbar. Seine angespannte Haltung löste sich, als er Ignatius erblickte. Der Vorsitzende der Weißen Macht wunderte sich ein wenig darüber, dass er ansonsten niemanden sah. Normalerweise hätten wenigstens vier Wächter vor Ort sein müssen.

Das Rätsel lüftete sich, als Ignatius neben seinen Stellvertreter trat, der ihm stumm zunickte. Die ebenfalls dunkel gekleideten Männer bildeten einen Halbkreis um das zirka neunjährige Mädchen, das sich ängstlich einen rosafarbenen Rucksack vor die Brust presste. Er war mit einem weißen Einhorn, das unter einem Regenbogen stand, bedruckt.

Ignatius wusste, was sich darin befand. Nämlich das Stück eines Meteoriten, der am 15. Februar 2013 östlich des Urals in der russischen Oblast Tscheljabinsk in den Tschebarkulsee eingeschlagen war. Um dieses Kometenfragment waren erbarmungslose Kämpfe geführt worden, denn es war psychokinetisch wirksam und fungierte als Verstärker für parapsychische Kräfte.

Es war bezeichnend, dass jemand wie Lilith es ausgerechnet einem Kind anvertraute. Immerhin war nicht nur die Weiße Macht hinter diesem Fragment her. Auch Pandora mit ihren Unheilsbringern sowie Matthias, ein ehemaliger Agent des Vatikans, der zum ersten Diener Luzifers aufgestiegen war, wollten es an sich reißen.

Allerdings war Marylin Grey selbst ohne dieses Stück Weltraumgestein alles andere als wehrlos. Von daher konnte er die Reaktion seines Stellvertreters und der Agenten durchaus verstehen, die das Kind mit gezückten Waffen umringten.

Noch wiesen die Mündungen zu Boden, doch sie würden nicht lange brauchen, um sie anzuheben und auf das scheinbar harmlose Mädchen zu feuern.

Ignatius wagte sich nicht mal ansatzweise vorzustellen, was dann hier los sein würde. Nicht eine Sekunde glaubte er daran, dass Marylin dadurch ernsthaft in Gefahr geraten könnte.

»Was geht hier vor sich?«, zischte er.

»Das sehen Sie doch«, entgegnete Conte. »Plötzlich stand das Mädchen vor der Tür.« Er hob die Hand und deutete auf die Kamera über dem Eingang. »Die Gesichtserkennung hat sofort Alarm geschlagen.«

»Also schön, ich spreche mit ihr.« Ignatius ging die Treppe hinab. Als er auf Höhe der ersten beiden Agenten war, breitete er die Arme aus. »Stecken Sie die Waffen weg.«

»Signore?«

»Sie haben mich genau verstanden! Nun machen Sie schon!«

Dicht vor dem Mädchen blieb er stehen und ging vor ihm in die Hocke. »Hallo, Marylin. Ich bin Father Ignatius.«

Das Kind antwortete nicht. Es hielt die Lippen fest aufeinandergepresst, in den Augen schimmerten Tränen. Ein strenger Geruch ging von ihm aus, als hätte es sich seit Tagen oder Wochen nicht mehr anständig gewaschen. Die Haut war so bleich, dass sie fast durchscheinend wirkte, die Augen lagen tief in den Höhlen, ihre Wangen waren eingefallen.

Das Kleidchen starrte vor Schmutz, ebenso wie der Rucksack.

Marylin Grey sah aus, als hätte sie sich die letzten Monate auf der Straße herumgetrieben. Oder in den Katakomben ...

»Hast du Hunger?«

Marylin nickte langsam.

Ignatius lächelte. »Möchtest du vielleicht reinkommen? Du bist sicherlich müde.«

Wieder nickte sie.

»Wunderbar.« Obwohl er noch nicht lange in der Hocke stand, schmerzten ihm bereits die Knie. Ignatius richtete sich auf und lauschte dem Knacken der Gelenke. Leicht vornübergebeugt blieb er stehen und streckte die Hand aus. »Magst du mir den Rucksack geben?«

Marylin zuckte zurück und wandte sich von ihm ab. Sie sah aus, als wollte sie weglaufen.

»In Ordnung, behalte ihn.« Ignatius richtete sich auf. »Dann komm erst mal mit.«

Das Mädchen wirkte verunsichert.

»Soll ich die Männer fortschicken?«

Erneutes Nicken.

»Ihr habt es gehört!«, sagte Ignatius laut genug, damit ihn alle verstanden. Und dieses Mal gehorchten die Männer sofort. Nacheinander zogen sie sich zurück, nur Signor Conte blieb auf dem oberen Absatz stehen.

Marylin hob den Blick und starrte ihn an. Da verschwand auch er endlich hinter der Tür.

»Besser so?«

»Mhm«, sagte das Mädchen nur. Immerhin.

Father Ignatius nahm die erste Stufe und machte eine einladende Handbewegung. »Worauf hast du denn Hunger, Mary?«

Sie schien über die Frage nachzudenken.

»Magst du Pizza? Oder Spaghetti? Oder möchtest du lieber was Süßes?«

»Eiscreme!«

»Okay, wollen wir dann mal in der Küchen nachschauen, ob wir etwas Eiscreme finden?«

Marylin nickte erneut, bevor sie sich endlich in Bewegung setzte. Den Rucksack weiterhin vor die Brust gepresst, stapfte sie die Stufen hinauf und betrat die Eingangshalle.

Father Ignatius hielt unwillkürlich den Atem an. Er wartete förmlich auf eine Reaktion des Kindes, denn natürlich war die Tür, so wie jeder Zugang zur Zentrale der Weißen Macht mit versteckten Dämonenbannern versehen.

Doch Mary zuckte nicht einmal zusammen, sie blickte sich nur staunend um.

»Hier wohnst du?«

»Ja, hier wohne ich«, antwortete Ignatius, während er sachte die Tür schloss.

Sie drehte sich zu ihm um. »Ganz allein?«

»Nein, du hast meine Freunde doch gesehen.«

»Wie viele Freunde hast du denn?«

Er lächelte. »Eine ganze Menge. Komm, wir gehen erst einmal in die Küche.« Er legte Marylin die Hand in den Rücken. Sie ließ es widerstandslos geschehen.

Die Küche war sehr rustikal, aber auch modern eingerichtet. Der Boden bestand aus schwarzweiß gemusterten Fliesen. In der Mitte ragte der Arbeitsbereich wie ein Altar empor. Darüber hing die vollautomatisierte Dunstabzugshaube.

Der Duft nach frischen Tomaten, Knoblauch und Oregano lag in der Luft.

Links, vor der Fensterfront, hinter der sich die Dunkelheit der Nacht ballte, stand der Tisch, der in seinen Ausmaßen schon einer kleinen Tafel glich. Eine Bank und ein halbes Dutzend Stühle gruppierten sich darum.

»Setz dich, Marylin!«

Das Mädchen schob sich auf die Bank, ohne den Rucksack loszulassen, was schon einem kleinen Kunststück glich. Das Kind setzte sich so hin, dass es sowohl die Tür als auch die Fenster im Blick behalten konnte.

Zwei gut gefüllte Kühlschränke standen zur Auswahl, über deren Inhalt Ignatius jedoch nicht informiert war. Er aß, was auf den Tisch kam. Und wie er fast schon befürchtet hatte, befand sich kein Eis im Gefrierfach.

Wozu auch? Sie waren schließlich in Rom, wo es an jeder Ecke selbstgemachte Eiscreme gab.

»Oje«, machte Ignatius. »Ich fürchte, das Eis ist uns ausgegangen!« Er ließ den Blick über den restlichen Inhalt des Kühlschranks schweifen und fühlte sich ein wenig überfordert. Womit konnte er dem Kind eine Freude machen?

»Willst du etwas, äh, Mozzarella?«

Marylin starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren. »Ich will Eis!«

»Ich habe dir doch gesagt, dass wir kein Eis haben. Wie wäre es mit Orangensaft?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Von mir aus.«

Ignatius atmete erleichtert auf und nahm die Packung aus der Kühlschranktür. Wo die Gläser standen, wusste er zum Glück. Er füllte eines zu zwei Dritteln und stellte es vor Marylin auf den Tisch. Er lächelte ihr zu und setzte sich neben sie auf einen Stuhl. Er war gespannt, was sie tun würde. Immerhin musste sie den Rucksack loslassen, um an das Glas zu kommen.

Das tat sie auch, allerdings ohne ihn zur Seite zu stellen. Sie balancierte ihn auf den Oberschenkeln, während sie mit beiden Armen an ihm vorbei nach dem Glas griff und es über den Rucksack hinweg zum Mund führte. Die Tischkante verhindert zudem, dass er von den Knien rutschte.

Marylin trank den Orangensaft in gierigen Schlucken und setzte das Glas erst ab, als es leer war.

»Noch mehr?«

Sie wischte sich den Mund ab und schüttelte den Kopf.

»Habt ihr Pizza?«

»Ich glaube nicht.«

»Du hast gesagt, ich kann Pizza haben.«

»Ja, äh, das hab ich tatsächlich gesagt. Das stimmt. Wie wäre es, wenn ich welche bestelle?«

Marylin überlegte nicht lange. »Aber mit Salami! Und mit ganz viel Käse!«

»Natürlich«, sagte Ignatius. Er stand auf und schob den Stuhl zurück. »Du bleibst hier und wartest, während ich die Pizza bestelle, in Ordnung?«

Sie nickte.

Ignatius eilte aus der Küche, um jemandem Bescheid zu geben, der wusste, wo man um diese Zeit noch eine Pizza bekam.

Im Flur trat ihm eine dunkel gekleidete Gestalt in den Weg. Signor Conte.

»Was treibt sie da drinnen?«

»Sie hat Orangensaft getrunken. Jetzt will sie Pizza.«

»Pizza?«, echote Conte.

»Sie haben sie doch gesehen. Die Kleine ist nur noch Haut und Knochen. Wahrscheinlich hat sie seit Tagen nicht mehr anständig gegessen.«

»Die Kleine ist die Inkarnation eines alttestamentarischen Racheengels, der Orangensaft trinkt und Pizza will?«

»Mit Salami. Und genau genommen ist sie keine Inkarnation. Im Prinzip ist sie nur besessen.«

»Im Prinzip ist sie brandgefährlich. Ich habe die Berichte von Sinclair gelesen. Dieses Kind ist eine tickende Zeitbombe.«

»Wir können ihr helfen. Nein, wir müssen ihr sogar helfen. Was, wenn sie von Ennoia befreit wurde? Wenn die Magie des Kreuzes sie neutralisiert hat?«

»Was, wenn es eine Falle ist?«, konterte sein Stellvertreter. »Ein trojanisches Pferd?«

»Die Gefahr besteht, aber sie ist kalkulierbar.«

Conte hob die Brauen. »Aha, und wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?«

»Sie ist hier, also steht sie nicht unter einem direkten schwarzmagischen Einfluss, sonst hätten die Schutzmechanismen reagiert.«

»Sind Sie sich da sicher? Barbelo ist kein Dämon, sondern ein Engel.«

»Das ist nicht Barbelo, sondern Ennoia«, erinnerte Ignatius seinen Stellvertreter.

»Wollen wir hier Haare spalten, oder was?« Conte hob die Stimme. Er war einer der wenigen, die sich das Ignatius gegenüber erlauben durften. »Sitzt da drinnen ein gefährliches Wesen oder nicht?«

»Zunächst einmal sitzt da drinnen ein Kind. Ein Kind, das unsere Hilfe braucht. Es scheint traumatisiert zu sein.« Er zögerte. »Sagen Sie, Conte. Haben Sie Erfahrung mit Kindern?«

»Nein«, knurrte dieser. »Habe ich nicht. Und das wissen Sie auch.«

»Krieg ich jetzt meine Pizza, oder was?«

Ignatius fuhr herum. Die Tür zur Küche hatte sich lautlos geöffnet. Da er kein Licht im Flur gemacht hatte, lag Marylins Gesicht im Schatten. Ihre Gestalt hob sich schwarz vor der helleren Öffnung ab. Ein ungutes Gefühl bemächtigte sich seiner.

Eine nachvollziehbare Reaktion, oder doch schon Bauchgefühl?

Wenn bloß John hier gewesen wäre ...