John Sinclair 2297 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2297 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Damaskus, Syrien, 4. September 1932

Der kleine Mann zitterte.
Nicht vor Kälte, sondern aus purer Angst. Das sah Dr. Harold James Plenderleith auf den ersten Blick. Die Augen von Hamoudi Shaaban waren blutunterlaufen und gerötet, die Lippen farblos, das Gesicht fahl und blass. Der Kunsthändler sah aus, als hätte er seit Wochen nicht mehr durchgeschlafen. Sein Atem ging schwer und schnell, er hechelte beinahe.
"Sind Sie allein?"
"Das sehen Sie doch!"
Blitzschnell trat Shaaban einen Schritt auf Plenderleith zu, der unwillkürlich zurückwich.
Aber der untersetzte Mann hatte keineswegs vor, Harold anzugreifen. Er beugte sich lediglich vor, um an dem Archäologen vorbei in die schmale Gasse zu spähen.
Gehetzt blickte er von einer Seite zur anderen.
Erst als er sicher war, dass Plenderleith nicht gelogen hatte, ergriff er dessen Handgelenk und zog ihn ins Haus ...


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Inhalt

Cover

Königin der Nacht

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Königin der Nacht

von Ian Rolf Hill

Damaskus, Syrien, 4. September 1932

Der kleine Mann zitterte.

Nicht vor Kälte, sondern aus purer Angst. Das sah Dr. Harold James Plenderleith auf den ersten Blick. Die Augen von Hamoudi Shaaban waren blutunterlaufen und gerötet, die Lippen farblos, das Gesicht fahl und blass. Der Kunsthändler sah aus, als hätte er seit Wochen nicht mehr durchgeschlafen. Sein Atem ging schwer und schnell, er hechelte beinahe.

»Sind Sie allein?«

»Das sehen Sie doch!«

Blitzschnell trat Shaaban einen Schritt auf Plenderleith zu, der unwillkürlich zurückwich.

Aber der untersetzte Mann hatte keineswegs vor, Harold anzugreifen. Er beugte sich lediglich vor, um an dem Archäologen vorbei in die schmale Gasse zu spä‍hen.

Gehetzt blickte er von einer Seite zur anderen.

Erst als er sicher war, dass Plenderleith nicht gelogen hatte, ergriff er dessen Handgelenk und zog ihn ins Haus ...

Der britische Archäologe wusste gar nicht, wie ihm geschah.

Er taumelte über die Schwelle und wäre dabei fast noch gestürzt. Wütend machte er sich los und beobachtete den verängstigten Kunsthändler, wie er die Tür schloss und verriegelte.

Wie immer trug Hamoudi Shaaban den roten Fez, der ebenso zu seinem Markenzeichen geworden war wie der braune Anzug.

Harold kannte den Kunst- und Antiquitätenhändler seit Jahren und hatte bereits einige wertvolle Artefakte von ihm erworben.

Besonders eine Epoche hatte es ihm angetan: das alte Mesopotamien. Das Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Die Wiege der Menschheit.

Und hier vor allem ein Thema, das ihn seit dem Studium nicht mehr losließ.

Der Mythos Babylon!

Seit der deutsche Robert Koldewey die Stadtmauern freigelegt hatte und das berühmte Ishtar-Tor entdeckt und nach Berlin gebracht hatte, war Plenderleith besessen von der sagenumwobenen Stadt, die laut Bibel zum menschlichen Sündenpfuhl geworden war.

Hamoudi Shaaban hatte ihm schon häufiger seltene und wertvolle Artefakte aus dieser Zeit besorgt. Und das stets zu einem fairen Preis. In letzter Zeit hatte Harold jedoch kaum etwas von seinem Freund gehört, sich aber nichts dabei gedacht. Es kam immer mal wieder vor, dass der Kontakt für Wochen oder gar Monate abbrach. Er war schließlich keineswegs Shaabans einziger Geschäftspartner und das alte Mesopotamien nicht dessen alleinige Einnahmequelle.

Umso überraschter und erfreuter war Harold gewesen, als ihn die Nachricht des Kunsthändlers erreichte, der ihn umgehend zu sprechen wünschte. Unter vier Augen.

Plenderleith, der selbst mitten in den Reisevorbereitungen für seine Rückkehr nach England steckte, hatte sich sofort auf den Weg von Bagdad nach Damaskus gemacht.

»Mein Gott, Hamoudi. Was ist denn mit dir passiert? Bist du krank?«

Harold war ehrlich entsetzt vom Zustand des Freundes, dessen äußere Erscheinung lediglich Makulatur war. Auf den ersten Blick schien Shaaban akkurat gekleidet zu sein, auf den zweiten erkannte der Archäologe, wie nachlässig sich der Kunsthändler angezogen hatte.

Der Anzug war verknittert, der Fez saß ein wenig schief.

Ein beißender Geruch ging von dem Mann aus, der stets Wert auf eine gepflegte Erscheinung gelegt hatte. Davon war kaum noch was zu erkennen. Hamoudi war unrasiert und stank, als hätte er sich seit Wochen nicht gewaschen.

Plenderleith rümpfte die Nase.

Shaaban stierte ihn aus fiebrigen Augen an.

»Krank?« Er kicherte hohl. »Ja, vielleicht bin ich krank. Nein, ganz sicher sogar. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.«

Er trat dicht an Plenderleith heran, der sich zusammenreißen musste, um nicht abermals zurückzuweichen. Dieses Mal wegen des penetranten Geruchs.

Der Kunsthändler legte dem Archäologen die Hände auf die Schultern.

»Aber jetzt bist du ja endlich hier. Jetzt wird alles gut!«

Harold schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Hamoudi. Aber du weißt, dass ich kein Arzt bin. Ich bin Doktor der Archäologie.«

»Das weiß ich.« Er nickte fahrig. »Natürlich weiß ich das.« Erneut drang das leise Kichern über seine Lippen. Plenderleith erschauerte.

»Und sie weiß es auch.«

»Wer? Jasina?« Harold sah sich um, doch er konnte Hamoudis Frau nirgends entdecken. »Wo steckt sie überhaupt?«

»Nein, nein, nein«, stammelte der Kunsthändler. »Ich spreche nicht von Jasina. Aber du wirst sie gleich sehen. Ganz gewiss wirst du das. Es lässt sich gar nicht vermeiden.«

Bevor Harold dazu kam, nachzufragen, eilte Shaaban an ihm vorbei. Er durchquerte den Flur, der mit einem kostbaren persischen Teppich ausgelegt war. Kommoden, auf denen sich Vasen, Schalen und Statuetten verteilten, säumten den Gang. An den Wänden hingen Gemälde und feine Stickereien, für die der Archäologe momentan jedoch keinen Blick erübrigte.

Der heftete sich auf den Rücken seines Freundes, der zielstrebig auf eine Tür am Ende des Flurs zustrebte. Harold folgte Hamoudi durch das Speisezimmer, das von einem großen Tisch vereinnahmt wurde, an dem normalerweise acht Stühle standen. Vier davon fehlten, wie Plenderleith im Vorbeigehen feststellte.

Shaaban ging auf eine hohe doppelseitige Tür zu. Dahinter befand sich der Ausstellungsraum, den Harold von zahlreichen Besuchen kannte.

Der Kunsthändler stieß die Tür auf. Der jenseitige Raum lag größtenteils im Dunkeln, was zum Teil an den schwarzen Vorhängen lag, die vor den Fenstern hingen. Nur im Hintergrund leuchtete es heller. Kerzen standen auf einer Art Altar, auf dem eine sandfarbene Steintafel an der Wand lehnte.

Ein schwerer, süßlicher Geruch lag in der Luft. Irgendwo summten Fliegen.

Doktor Harold James Plenderleith schluckte. Ohne länger auf seinen Freund zu achten, schritt er an ihm vorbei, auf den Altar zu. Der Blick des Archäologen wurde von dem Artefakt angezogen wie Eisen von einem Magneten.

Die Tafel hatte eine Länge von zirka einem halben Yard. In der Breite maß sie vielleicht fünfzehn Zoll. Sie bestand offenbar aus Lehm oder Terrakotta.

Das Relief zeigte eine nackte, geflügelte Frau, deren Mund zu einem spöttischen Lächeln verzogen war. Ihre Füße endeten in Vogelkrallen, mit denen sie auf den Rücken kauernder Löwen standen. Die Gestalt wurde von Eulen flankiert. In den Händen hielt sie die Herrschaftssymbole Ring und Stab.

»Ist ... ist das Ishtar?«

Ishtar war die wichtigste Göttin im alten Babylon, da waren sich die Gelehrten mittlerweile einig.

»Oh nein, mein Freund. Sieh Sie dir genau an. Die Krallen, die Flügel, die Eulen ...«

»Lilith!«, hauchte Plenderleith ergriffen.

Er blinzelte verwirrt, denn ihm war aufgefallen, dass das Relief keineswegs einfarbig war. Der Leib der Göttin wies eine dunkelbraune Färbung auf.

Der Archäologe kniff leicht die Augen zusammen und tastete nach seinem Kneifer, den er sich umständlich auf die Nase setzte. Die Farbe war nicht alt. Vielmehr sah sie aus, als sei sie frisch aufgetragen worden. Und es war auch kein richtiges Braun, eher ein dunkles, kupfernes Rot.

Tatsächlich glaubte Plenderleith, einen leichten Hauch dieses Metalls in der Luft zu schmecken. Eine grünlich schillernde Schmeißfliege ließ sich auf der nackten Brust der geflügelten Dämonin nieder.

Harold Plenderleith schluckte.

Er wollte sich zu seinem Freund umdrehen, als sein Blick auf mehrere Tontafeln fiel, die vor ihm auf dem Altar ruhten und vom Licht der Kerzen beschienen wurden.

»Was ist das?«, krächzte er.

»Die Tempelgesänge von Babylon«, hauchte Shaaban dicht hinter ihm.

Der untersetzte, dickliche Mann war lautlos an ihn herangetreten. Harold zuckte zusammen. »Die ... die Tempelgesänge ...« Er stockte und beugte sich wieder vor.

Tatsächlich konnte er einige Symbole der Keilschrift entziffern. Instinktiv wusste er, dass dies keine Fälschungen waren. Die Tafeln, das Relief, all dies war echt.

Umso frevelhafter, dass Hamoudi Shaaban es besudelt hatte.

»Sie will, dass du sie übersetzt«, raunte dieser ihm ins Ohr. »Bitte verzeih mir, aber ... aber sie hat mich dazu gezwungen!«

Bei den letzten Worten war seine Stimme leiser geworden und gekippt. Shaaban wankte zurück. Und Harold wirbelte herum. »Wer? Von wem sprichst du?«

»Lilith!«, keuchte der Kunsthändler.

Und im selben Atemzug erblickte Plenderleith die vier Gestalten, die neben der Tür auf hochlehnigen Stühlen saßen. Jeweils zwei von ihnen auf jeder Seite.

Sie verschmolzen fast mit den Schatten, die sich schlagartig auflösten, als die Vorhänge wie von Geisterhand bewegt herunterfielen und grelles Sonnenlicht in den Raum flutete.

Die Szenerie, die sich Harold Plenderleiths Augen darbot, war an Grausamkeit kaum zu überbieten. Hinter Hamoudi Shaaban saß die Familie des Kunsthändlers, an Arme und Beinen gefesselt.

Jasina, seine Frau, die beiden halbwüchsigen Töchter, Esma und Failda, sowie ihr kleiner Bruder Malek. Aus trüben, gebrochenen Augen starrten sie den Archäologen an. Die Lider waren abgeschnitten, damit sie sie nicht schließen konnten. In den nackten Bäuchen klafften tiefe Schnitte. Der Inhalt war herausgequollen und ringelte sich zu ihren Füßen zusammen.

Harold würgte.

»Was ... was hast du getan?«

»Was sie mir befohlen hat!«, keuchte Shaaban und wich weiter zurück. »Sie ... sie forderte Rache. Rache für den Tod ihrer Kinder. Ich ... ich konnte mich nicht dagegen wehren. Und du ... du kannst es auch nicht.«

Ehe Plenderleith begriff, was sein Freund damit sagen wollte, griff dieser bereits unter das Revers seines Jacketts und holte eine Pistole hervor, deren Lauf er auf Harolds Brust richtete.

Reflexartig hob dieser die Arme.

»Warte!«, rief er erschreckt. »Hamoudi, bitte ...«

»Du ...«, keuchte der Kunsthändler. »Du musst sie übersetzen. Die musst die Tafeln übersetzen, sonst werden noch mehr Menschen sterben.«

Hamoudi Shaaban hob die Hand mit der Pistole, presste sich die Mündung gegen die Schläfe und drückte ab. Der Knall wurde durch die Haut und den Schädelknochen gedämpft. Trotzdem war er laut genug, um ein schmetterndes Echo zu erzeugen.

Eine rote Wolke stob auf der anderen Seite aus dem Schädel. Zusammen mit Gewebefetzen und Knochensplittern. Der Fez dagegen klebte förmlich an Hamoudis Kopf. Selbst dann noch, als der Kunsthändler zu Boden polterte. Vor den Leichen seiner Familie blieb er verkrümmt liegen.

Die Schmeißfliege summte um Harold herum.

Der Archäologe stand wie angewurzelt auf dem Fleck, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Er glaubte, ein Wispern und Flüstern zu vernehmen. Doch erst als er die Bewegungen an den gefesselten Leichnamen gewahrte, hob er den Blick.

Waren sie womöglich gar nicht tot? Sprachen sie? Flehten sie ihn um Hilfe an?

Das Entsetzen sprang Plenderleith an wie ein Tier, als er sah, wie sich etwas zwischen den Lippen der Toten ins Freie zwängte. Fliegen!

Erst wenige, dann immer mehr. Zu Dutzenden, nein, Hunderten quollen sie aus den Schlünden. Aus den aufgeschlitzten Bäuchen krochen weiß glänzende Maden.

Harold drehte sich der Magen um.

Gackerndes Gelächter erklang in seinem Rücken.

Auf dem Absatz wirbelte er herum. Halb erwartete er, dass sich die Gestalt auf dem Relief bewegte, doch sie bestand noch immer aus gebranntem Lehm. Nur die rotbraune Farbe, das getrocknete Blut von Shaabans Familie, war verschwunden.

Das Relief hat es aufgesaugt wie ein Schwamm, schoss es dem Archäologen durch den Kopf. Gefolgt von weiteren Gedanken, die sich zu Worten formten.

Nimm mich! Nimm mich mit!

Und ehe Doktor Harold James Plenderleith begriff, was er tat, nahm er das Relief und die Tontafeln an sich. Seine Beute fest an die Brust gedrückt, verließ er das Haus seines Freundes und rannte die Gasse entlang. Irgendwo erklang ein Schrei.

Hatte jemand den Schuss gehört und die Polizei gerufen?

Harold hatte nicht vor, zu warten, um es herauszufinden. Atemlos erreichte er die Straße, wo sein Mitarbeiter Edward Thornton auf ihn wartete.

»Das wurde aber auch Zeit«, knurrte dieser, und schnippte die Zigarette in den Rinnstein.

Plenderleith antwortete er nicht. Er warf sich regelrecht in den Fond und rief: »Fahr! Fahr los!«

»Um Himmels Willen, ist etwas passiert?«

»Du sollst losfahren, verdammt!«

»Ja, doch. Meine Güte, reg dich doch nicht gleich auf.«

Aber Harold beachtete seinen Kollegen nicht länger. Er hatte nur noch Augen für das Terrakotta-Relief. Zärtlich streichelte er die erhabene Frauengestalt, zeichnete die Konturen nach und umrundete ihre Brüste.

Auf seinen Lippen lag dabei ein verklärtes Lächeln.

Gegenwart

Das Klingeln des Telefons riss Jane Collins aus der Konzentration.

Sie stand inmitten eines geordneten Chaos aus gestapelten Büchern und Zeitschriften. In Kartons verpackte Konvolute warteten darauf, ausgepackt zu werden. Doch dafür hatte sie momentan keinen Nerv.

Noch immer suchte sie verzweifelt nach dem Buch Tempelgesänge von Babylon. Dabei handelte sich um Abschriften altbabylonischer Texttafeln, auf denen die Beschwörung vier mächtiger Dämoninnen beschrieben stand.*

Die Engel der Unzucht und Hurerei.

Diese Gestalten beschäftigten ihre Freunde John Sinclair und Suko bereits seit Wochen. Seit sie erfahren hatten, dass Lilith offenbar ihre Erweckung plante. Angeblich hing das mit dem bevorstehenden Krieg gegen Pandora zusammen.

Ein Thema, das auch Jane beschäftigte. Nicht nur weil sie eine ehemalige Hexe und Teufelsdienerin war, an der Lilith ein gesteigertes Interesse hegte. Nein, allein die Tatsache, dass es zu einem Konflikt zwischen diesen beiden Dämoninnen kommen würde, genügte, um Jane den Schweiß aus den Poren zu treiben.

Normalerweise konnte es ihr und John Sinclair nur recht sein, wenn sich die Dämonen untereinander bekriegten. Dummerweise waren es jedoch in der Regel die Unschuldigen, die darunter am meisten litten. Darin unterschieden sich Dämonenkriege nicht im Geringsten von menschlichen Konflikten.

Und in diesem Fall war es noch um einiges brisanter, denn während Lilith die Hölle und damit Luzifer repräsentierte, paktierte Pandora offenbar mit dem Spuk, einem der mächtigsten Dämonen überhaupt. Er war der Letzte der Großen Alten, der Herrscher im Reich der Schatten, in das die Seelen der getöteten Schwarzblüter eingingen.

Daher war es nicht unwichtig, dass sie die Wiedererweckung der Dämonenengel verhinderten, was nur möglich war, wenn sie das Ritual kannten. Doch so sehr Jane auch suchte, die Abschrift, die ihrer verstorbenen Freundin Lady Sarah Goldwyn gehört hatte, blieb verschwunden. Und der Anrufer hartnäckig.

»Ja, doch«, knurrte die Detektivin.

Sie trat an den Schreibtisch heran und wühlte in den Unterlagen herum, bis sie das Smartphone gefunden hatte.

Unbekannter Anrufer, signalisierte ihr das Display. Janes Eingeweide verkrampften sich. Das war schon mal kein gutes Zeichen.

Trotzdem nahm sie das Gespräch an.

Ein leises Lachen drang an ihr Ohr, nachdem sie sich gemeldet hatte. Es stammte eindeutig von einer Frau, und im ersten Moment dachte Jane an die Vampirin Justine Cavallo, die für einige Zeit bei ihr gewohnt und vor Kurzem erst wieder Kontakt zu ihr gesucht hatte. Gleich zweimal dicht hintereinander.

Und in beiden Fällen war es um Hexen gegangen.*

Ob es wirklich Zufall gewesen war, vermochte Jane nicht zu sagen, aber der Verdacht lag nahe. Justine hatte sich dazu nicht geäußert, und die Hexe, die John zum Mörder machen wollte, hatten sie nicht mehr befragen können.

»Justine?«

»Sorry«, sagte die Unbekannte. »Aber da muss ich dich enttäuschen. Ich bin nicht deine Busenfreundin.«

Jane zog die Brauen zusammen. Sie ärgerte sich, dass sie sich aus der Reserve hatte locken lassen. Gleichzeitig dachte sie fieberhaft darüber nach, ob sie die Stimme schon einmal gehört hatte, kam aber zu keinem Ergebnis. Wenn sie die Anruferin kannte, dann so flüchtig, dass sich deren Stimme nicht in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte.

»Wer sind Sie?«

»Das tut nichts zur Sache.« Janes Gesprächspartnerin wurde schlagartig ernst. »Es geht auch nicht um mich, sondern vielmehr um deinen lieben Freund Chris Ainsworth!«

Sofort verstärkte sich das ungute Gefühl. Janes künstliches Herz schlug schneller.

Eben noch hatte sie an ihre letzte Begegnung mit Justine denken müssen, und jetzt wurde sie erneut daran erinnert, denn bei einem dieser Zusammentreffen war es ebenfalls um Chris gegangen.

Assunga, die Schattenhexe, hatte ihn entführt, damit Jane ihr half, Liliths Vollstreckerin, die ein ganzes Dorf in Angst und Schrecken versetzt hatte, zu stellen.

Dabei war Jane klar geworden, wie verletzbar sie durch Chris war. Im Gegensatz zu John Sinclair oder Suko hatte er kaum Erfahrungen mit dem Übernatürlichen. Zwar war er nicht vollkommen unbeleckt, schon allein wegen seiner Vergangenheit, aber er war nun mal kein Geisterjäger. Ja, nicht einmal Polizist oder Privatdetektiv, sondern lediglich Geologe.

Als ihr Freund war er jedoch automatisch ein potenzielles Ziel der Dämonen, allen voran Asmodis, des Teufels, und der Großen Mutter Lilith.

Jane schloss für Sekunden die Augen und atmete tief durch.

»Bist du noch dran?«, fragte die andere.

Die Detektivin hob die Lider. »Natürlich. Kommen Sie zur Sache oder ich lege auf.«

»Das würde ich an deiner Stelle nicht tun. Du würdest es bereuen. Glaub mir.«

»Na schön.« Jane beschloss, das Spiel mitzuspielen. Es war ja nicht so, als hätte sie eine andere Wahl. »Was ist mit Chris?«

»Das frage ich dich. Weißt du, wo er sich momentan aufhält?«

»Sicher, aber das werde ich Ihnen bestimmt nicht auf die Nase binden.«

Wieder lachte die Fremde. Es klang hämisch. »Das habe ich auch nicht erwartet. Aber ich fürchte, dass du dich irrst, Jane Collins. Du glaubst vielleicht zu wissen, wo sich dein Liebchen gerade befindet, aber das ist ein Irrtum. Und ich werde es dir beweisen.«

»Ach, und wie?«

Ein leises Knacken ertönte, dann herrschte Stille am anderen Ende. Jane runzelte die Stirn, nahm das Handy vom Ohr und warf einen Blick auf das Display. Was hatte das jetzt wieder zu bedeuten? Hatte die Fremde absichtlich aufgelegt, oder war es ein Versehen?

Manchmal kam es vor, dass Verbindungen aufgrund schlechten Empfangs abbrachen oder eine der Teilnehmerinnen versehentlich den roten Hörer berührte.

Doch daran wollte die Detektivin nicht glauben.

Sie dachte über die Worte nach.

Die Unbekannte hatte versucht, ihr zu suggerieren, dass Chris nicht dort sei, wo sie annahm, dass er sich aufhielt. Nämlich auf La Palma, wo er den Vulkanausbruch untersuchte, der die Bevölkerung vergangenes Jahr in Atem gehalten hatte.

Abwegig war das nicht. Ihre Gegner hatten Mittel und Wege, um jeden Winkel der Erde innerhalb von Sekunden zu erreichen. Selbst Dimensionsgrenzen stellten für sie kein Hindernis dar.

Assunga war das beste Beispiel. Dank ihres Zaubermantels konnte sie sich binnen eines Wimpernschlags überall hin teleportieren.

Jane fackelte nicht lange und rief Chris an.

»Hey«, meldete er sich prompt, leicht außer Atem.

Die Detektivin seufzte erleichtert. Sie schwankte und musste sich tatsächlich am Tisch festhalten. Langsam ließ sie sich auf dem Stuhl dahinter nieder.

»Gottseidank!«

»Oh, ich freue mich auch, deine Stimme zu hören«, erwiderte Chris, und lachte leise. »Aber um ehrlich zu sein, habe ich nicht damit gerechnet, dass deine Sehnsucht so groß ist.« Er zögerte kurz. »Oder ist etwas passiert?«

Er kannte sie mittlerweile schon ganz gut. Jane schmunzelte. Sie überlegte, ob sie Chris den wahren Grund verschweigen sollte, dann beschloss sie, dass er alt genug war, um die Wahrheit zu verkraften.

»Soeben habe ich einen anonymen Anruf erhalten. Eine Frau fragte mich, ob ich wüsste, wo du steckst.«

Er schwieg kurz. Als er weitersprach, klangen die Worte leicht kratzig. »War es diese Assunga? Oder Justine?«

»Nein«, sagte sie. »Deren Stimmen erkenne ich im Schlaf. Wo steckst du jetzt?«

»Na, auf La Palma«, antwortete er heftig. »Was dachtest du denn?«

»Nein, ich meine, wo genau?« Dumpf hörte sie die Stimmen anderer Menschen. Zumindest war er nicht allein.

»Im Hotel!«

Jane atmete erleichtert auf. »Okay, dann ... entschuldige bitte.«

»Nein«, erwiderte er sanft. »Ich muss mich entschuldigen. Du hast dir Sorgen gemacht, das ist ... nun ja, süß. Aber ich hab bestimmt keine Lust, so etwas wie vor ein paar Monaten noch einmal durchzumachen.«

»Das wirst du auch nicht, Baby. Bleib einfach wachsam. Solltest du Assunga oder Justine sehen, ruf sofort an, hörst du?«

»Ja, Mama.«

»Ich mein's ernst.«

»Ich auch«, entgegnete er. »Du, ich muss Schluss machen. Lieb dich.«

Jane erwiderte den Schwur und verabschiedete sich. Gedankenverloren starrte sie auf ihr Handy, das unvermittelt zu summen anfing, als eine Textnachricht eintraf. Kurz darauf eine weitere. Und noch eine. Die Detektivin öffnete die App.

Wahrscheinlich nur Chris, der ihr einige Schnappschüsse schickte. Ihr Ordner quoll bereits über vor Fotografien vom sonnigen La Palma. Sie hatte schon überlegt, hinterherzufliegen, um ein paar Tage auszuspannen.

Doch die Nachricht stammte nicht von Chris Ainsworth. Wieder war es eine unbekannte Nummer. Jane akzeptierte sie, und kurz darauf erschienen mehrere Fotografien auf dem Bildschirm.

Die Augen der Detektivin weiteten sich.