John Sinclair 2315 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2315 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Die Bezeichnungen, die ihnen von der Gesellschaft im Laufe der Zeit verliehen worden waren, waren Legion. Eigenbrötler, Sonderlinge, Freaks. Und das waren noch die freundlicheren Titulierungen.
Sie selbst kümmerte es nicht, was der gemeine Pöbel über sie dachte. Seit Menschengedenken wurden Genies wie sie verspottet, verachtet, ausgegrenzt oder sogar als Ketzer verfolgt und getötet. Viele von ihnen waren Einzelgänger, die im Verborgenen forschten. Wohl wissend, dass die Allgemeinheit den Dienst, den sie der Menschheit erwiesen, mit ihrem primitiven Verstand niemals würde erfassen können. Und so blieben sie Ausgestoßene.
Bis einige von ihnen erkannten, dass sie gemeinsam stärker waren. So schlossen sie sich zusammen. Gründeten ein globales Netzwerk. Eine einflussreiche Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt aus den Angeln zu heben.
Und sie gaben sich einen neuen Namen. Eine Bezeichnung, die ihrer Bestimmung gerecht wurde: VISIONÄRE ...


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Inhalt

Cover

Die Visionäre

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Die Visionäre

(Teil 1 von 2)

von Ian Rolf Hill

Die Bezeichnungen, die ihnen von der Gesellschaft im Laufe der Zeit verliehen worden waren, waren Legion. Eigenbrötler, Sonderlinge, Freaks. Und das waren noch die freundlicheren Titulierungen.

Sie selbst kümmerte es nicht, was der gemeine Pöbel über sie dachte. Seit Menschengedenken wurden Genies wie sie verspottet, verachtet, ausgegrenzt oder sogar als Ketzer verfolgt und getötet. Viele von ihnen waren Einzelgänger, die im Verborgenen forschten. Wohl wissend, dass die Allgemeinheit den Dienst, den sie der Menschheit erwiesen, mit ihrem primitiven Verstand niemals würde erfassen können. Und so blieben sie Ausgestoßene.

Bis einige von ihnen erkannten, dass sie gemeinsam stärker waren. So schlossen sie sich zusammen. Gründeten ein globales Netzwerk. Eine einflussreiche Organisation, die sich zum Ziel gesetzt hatte, die Welt aus den Angeln zu heben.

Und sie gaben sich einen neuen Namen. Eine Bezeichnung, die ihrer Bestimmung gerecht wurde: VISIONÄRE ...

Die Treffen fanden im Geheimen statt.

Obwohl es so gut wie unmöglich war, sie zu unterwandern, verzichteten die VISIONÄRE auf persönliche Zusammenkünfte. Konferenzen wurden stets virtuell, in eigens abgeschotteten Chatrooms des Darknet abgehalten, deren Server in Moldawien, Russland und Dubai standen. Fiel einer aus, übernahm der Nächste.

Eine Teilnahme war keineswegs Pflicht. Eine Führungsspitze gab es nicht. Alles wurde demokratisch entschieden. Zumindest offiziell. Die Wahrheit war jedoch, dass nicht jede Stimme dasselbe Gewicht hatte. Wer von den Visionären rekrutiert wurde, der musste auch eine gewisse finanzielle Rücklage besitzen und sich Stimmanteile erkaufen. Einfacher ausgedrückt: Je mehr Geld ein Visionär mit in die Organisation brachte, desto größer sein Einfluss.

Doktor Cybill Ashton fand dieses System nur gerecht. Und das nicht nur deshalb, weil sie zu den vermögendsten Mitgliedern gehörte. Immerhin ging es bei den Konferenzen in erster Linie, um die Verteilung von Geldern.

Manchmal reichte es eben nicht aus, alleine, still und heimlich, in seinem Kämmerlein zu experimentieren. Bisweilen wurden auch finanzielle Ressourcen benötigt. Wie und wo diese am effektivsten investiert wurden, darüber entschieden die Visionäre in den virtuellen Konferenzen. Doch egal, wie zahlungskräftig er oder sie sein mochte, stimmberechtigt war man nur bei Anwesenheit.

Daher war man gut beraten, an diesen Terminen teilzunehmen. Ansonsten konnte es leicht passieren, dass der eigene Anteil für Projekte verbraten wurde, die das Mitglied bestenfalls als Zeitverschwendung erachtete.

Und davon hatte Dr. Cybill Ashton nun wahrlich schon einige kommen und gehen sehen. Das beknackteste Projekt war mit Abstand das eines durchgeknallten Neulings gewesen, der es für eine gute Idee gehalten hatte, Menschen mit amputierten Gliedmaßen die Arme und Beine von Untoten anzunähen. Wahlweise ausgestattet mit diversen Sinnesorganen.

Cybill erinnerte sich daran, dass dieser Emporkömmling den Arm seiner Frau durch den eines Zombies ersetzt hatte, inklusive dessen Augen, die der Trottel in den Unterarm eingesetzt hatte.

Was für ein Blödsinn.

Für sie war das der erste Hinweis auf die geistige Retardierung ihres Gründers, Nikolai Kunasjanow, gewesen. Böse Zungen behaupteten, das war bereits der Fall, als er sich dieses alberne Pseudonym verpasst hatte: Frank N. Stone.

Nun war Dr. Satanos zwar nicht wesentlich origineller, aber den Spitznamen hatte er sich zumindest nicht selbst gegeben, sondern die abergläubischen Bewohner eines kleinen Dorfes, die er mit ferngesteuerten Leichen terrorisiert hatte.

All dies lag zum Glück lange hinter ihnen, und auch die Visionäre waren mit der Zeit gegangen. Es gab sicherlich einige ewig Gestrige, die sich die guten alten Zeiten zurückwünschten, in denen sie auf einem verfallenen Schloss an einsamen Wanderern herumschnippeln konnten und die größte Gefahr in der Dummheit grenzdebiler, meist buckliger, Gehilfen bestanden hatte.

Dr. Cybill Ashton gehörte mit Sicherheit nicht zu dieser Kategorie. Sie bevorzugte Mitarbeiter, die begriffen, worum es ging, sobald sie ihnen etwas erklärte. Und die ihr zur Not auch den Gnadenschuss geben würden, sollte sie jemals so einen Schwachsinn verzapfen wie das hagere Bleichgesicht, das seit gefühlt einer Stunde selbstverliebt vor sich hin schwadronierte, wobei es sich sage und schreibe dreihundertvierundfünfzig Mal nervös über die Lippen leckte.

Dreihundertvierundfünfzig Mal! Cybill hatte mitgezählt.

»... beabsichtige ich, das Präparat in die Trinkwasserversorgung zu geben, um ...«

Ein herzhaftes Gähnen unterdrückend warf sie einen Blick auf die Uhr und stellte überrascht (und auch ein wenig frustriert) fest, dass statt der angenommenen Stunde gerade einmal sechzehn Minuten verstrichen waren.

Das bedeutete, dass der Knabe sich im Schnitt zweiundzwanzig Mal pro Minute über die Lippen leckte. Also spätestens alle drei Sekunden. Cybill fragte sich, ob sie einen Rechenfehler gemacht hatte. Es erschien ihr doch höchst unwahrscheinlich, dass er mit diesem Tick überhaupt einen gerade Satz hervorbrachte.

»Langweile ich Sie, Madame Monster?«

Sie fühlte sich ertappt und verdrehte genervt die Augen. Madame Monster.

Ja, dieser blödsinnige Name war auf ihrem Mist gewachsen. Kreativität war noch nie ihre Stärke gewesen. Aber sie sah ein, dass er notwendig war. Ein Grund für den Erfolg ihrer Organisation bestand darin, dass die Mitglieder anonym blieben. Zumindest die meisten. Die alteingesessenen Mitglieder kannten sich in der Regel, obwohl viele von ihnen nicht mehr am Leben waren.

Hätte es ein Hauptquartier gegeben, eine richtige Basis, vorzugsweise in einer Burg oder einem Schloss, hätte in der Eingangshalle bestimmt eine Galerie mit den Porträts der prominentesten Visionäre gehangen. An erster Stelle natürlich von Dr. Satanos, sorry, Frank N. Stone und Dr. Tod. Aber auch von dem Monster-Macher, dem Horror-Hirn und selbstverständlich dem Zombie-Doc.

Meine Fresse, dachte Cybill.

Bevor sie auf die ohnehin rein rhetorisch gemeinte Frage antwortete, stieß sie ein larmoyantes Seufzen aus. »Ist das eine Fangfrage?«

In der folgenden Sekunde wurde nicht nur Cybill Zeuge wie aus einem Bleich- ein Rotgesicht wurde. Prompt leckte es sich gleich drei, nein, viermal hintereinander die Lippen.

»Keine Ahnung, ob ich das jetzt alles richtig verstanden habe«, fuhr sie fort. »Aber Sie wollen ein Serum entwickeln, das die Aktivitäten der Großhirnrinde und des Kleinhirns unterdrückt und die Amygdala triggert?«

»Das limbische System. Ich werde den Reset-Knopf bei den Menschen drücken und sie wieder in jene wilde, triebgesteuerte Bestien verwandeln, die sie im Grunde ihres Wesens noch immer sind.«

Cybill verbiss sich die Frage, wofür sich eigentlich der Lippenlecker hielt und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Nasenwurzel. »Das limbische System allein auf die Steuerung des Triebverhaltens zu reduzieren ist veraltet, verehrter Kollege. Sie beziehen sich anscheinend auf das Stamm- beziehungsweise Zwischenhirn, das sogenannte Reptiliengehirn.«

Das Wort war ihr kaum über die Lippen gekommen, da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Jetzt wusste sie, woran sie die manische Leckerei erinnerte: an das Züngeln eines Reptils. Ob der Knabe ein verkappter Reptiloide war? Der starre Blick würde jedenfalls bestens zu dieser Theorie passen.

»Ja, ja, ja«, geiferte er. »Zur phänotypischen Veränderung wollte ich gerade kommen.«

Cybill stutzte. »Sie haben nicht ernsthaft vor, die Menschen in Echsen zu verwandeln?«

»Hätten Sie mir zugehört, verehrte Kollegin, dann wüssten Sie, dass es mir gelungen ist, die Probe eines einzigartigen Organismus sicherzustellen, der vor einiger Zeit in der Kanalisation von London für Aufsehen gesorgt hat. Und nicht nur dort. Da Sie offenbar anderweitig beschäftigt waren, wiederhole ich gerne, was ...

»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach Cybill den Kerl rasch, was zur Folge hatte, dass sich das Gesicht, das eben erst wieder seine gewohnte Blässe zurückerlangt hatte, schlagartig erneut rot anlief.

Eindeutig Chamäleon, beschloss Cybill. »Ich habe auch so begriffen, was Sie vorhaben: Sie wollen die Menschheit in die gottverdammte Kreidezeit zurückbefördern.«

»Mitnichten. Anscheinend verkennen Sie den humanitären Sinn meiner Forschung.«

Jetzt geht das wieder los, dachte Cybill. Nicht nur selbstverliebt, sondern auch größenwahnsinnig. Ganz schlechte Kombi.

Von dieser Sorte hatte sie wahrlich genug kommen und gehen sehen, um sich nicht eine Sekunde länger damit auseinandersetzen zu wollen.

»Was ich verkenne, ist Ihr gesunder Menschenverstand. Und ich sage: Nein!«

Zack, und schon wurde das Chamäleon wieder kreideweiß. »Wie ...? Was ...? Das ... das können Sie gar nicht entscheiden.«

»Meine Anteile belaufen sich auf einundzwanzig Prozent, damit hat meine Stimme das höchste Gewicht. Sie können meine Entscheidung allenfalls durch eine Mehrheit von wenigstens vier, nein, fünf Fürsprechern aushebeln.«

Cybill lehnte sich zurück und wartete mit klopfendem Herzen darauf, dass einer der anderen Visionäre auch mal etwas dazu sagte. Oder das giemende Chamäleon einen Herzinfarkt bekam. Je nachdem, was schneller eintrat.

Die Sekunden dehnten sich zu Ewigkeiten, sodass die Wahrscheinlichkeit, dass das Chamäleon an Altersschwäche starb, exponentiell anstieg.

Chamäleon, Cybill verkniff sich das Kichern. Wie nannte sich der Knabe eigentlich wirklich? Sie checkte den Nickname und hätte fast laut losgeprustet. Professor Snake. Langsam machte sie sich ernsthaft Sorgen.

Sind wir schon so weit, dass wir uns mit solchen lächerlichen Gestalten abgeben müssen?

»Also, ich finde die Idee gar nicht so schlecht!«

Hätte Cybill gerade einen Schluck Wein im Mund gehabt, sie hätte ihn im hohen Bogen über das Tablet verteilt. Stattdessen nahm sie die Beine vom Schreibtisch und beugte sich vor.

»Was?«, schnappte sie.

Es war ein Visionär mit dem klangvollen Pseudonym Terror-Master gewesen, der sich zu Wort gemeldet hatte. Kein Wunder, dass er Professor Snake in den Hintern kroch. Gehörten die zur selben Studentenverbindung?

»Nun ja«, sagte Terror-Master. »Sie müssen doch zugeben, dass die Vervielfältigung des Genoms aus der Probe dieses, wie nannten Sie es doch gleich ...?«

»Echsengottes«, zischte Professor Snake.

»Äh, ja. Also, dass die Vervielfältigung des Genoms und die Herstellung eines Echsenserums durchaus ein gewisses Potenzial hat. Außerdem hat die Transformation von Menschen in, äh, abnorme Kreaturen eine lange Tradition in unserer Organisation.«

»Tradition am Arsch«, rief Cybill.

»Mäßigen Sie sich, Madame Monster«, mischte sich ein weiteres Mitglied namens Lord Chaos ein. »Nur weil sie Hauptanteilseignerin sind, gibt Ihnen das noch lange nicht das Recht, ausfallend zu werden. Aber ich bin sicher, Sie haben ebenfalls ein Projekt vorbereitet, mit dem Sie uns in Erstaunen und Verzückung versetzen werden.«

Cybill nickte. »Das habe ich.«

»Dürften wir auch erfahren, um was es sich handelt?«

»Deshalb bin ich hier. Ich sage nur ein Wort: Marbhàs!«

»Der Unersättliche?«

Das Stirnrunzeln war den zwei Worten deutlich anzuhören, in die sich prompt das gackernde Gelächter von Professor Snake mischte.

»Marbhàs, der Unersättliche? Wer soll das sein? Der Erzfeind der All-you-can-eat-Buffets?«

»Nein, Sie Kanaille.« In diesem Augenblick beschloss Cybill Ashton den Tod des Bleichgesichts. »Marbhàs, der Unersättliche, ist ein Kannibale. Ein vorsintflutlicher Götze, der von einigen keltischen Stämmen angebetet wurde. Unter anderem von den Pikten.«

»Also ein Dämon«, schloss Snake.

»Viel mehr als das.« Cybill spürte, wie ihre Wangen Farbe bekamen. »Marbhàs ist kein gewöhnlicher Dämon. Er ist ein Gedanke, eine Idee. Das personifizierte Chaos, das ...«

»Geschichte ist«, unterbrach sie Lord Chaos. »Marbhàs wurde besiegt und vernichtet. Zweimal wurde versucht, ihn zurück in diese Welt zu holen. Und zweimal wurde er zurückgeschlagen.«

»Zugegeben, es gab Rückschläge. Aber es wäre grundverkehrt, ja geradezu töricht, aufgrund dessen das Projekt einzustampfen. Wir sind Wissenschaftler, meine Herren. Versuch und Irrtum sind unser täglich Geschäft. Nur so können wir lernen und uns weiterentwickeln. Dessen ungeachtet möchte ich darauf hinweisen, dass das Projekt Marbhàs bislang nur unwesentliche Summen verschlungen hat.«

»Unwesentlich?«, echote Lord Chaos. »Elax' ehemaliges Labor wurde konfisziert. Eine Visionärin wurde getötet. Von den Kosten, die die Resozialisierung dieser Skelette gekostet hat, ganz zu schweigen.«

»Was denn für Skelette?«, fragte Snake.

»Marbhàs, der Unersättliche, wurde von den Bewohnern eines schottischen Dorfe beschworen, um dieses vor den Wikingern zu beschützen. Die Menschen gaben ihm ihr Fleisch, dafür versetzte Marbhàs das Dorf in einen magischen Schlaf, aus dem es vor wenigen Jahren erwachte. Die Bewohner waren jedoch zu lebenden Skeletten geworden. Um wieder ihre alte Gestalt zurückzuerlangen, benötigte Marbhàs Opfer. Für jeden Menschen, den er fraß, konnte einer der Dörfler ins Leben zurückkehren. Ist das so weit richtig, Madame Monster?«

Cybill bejahte. Durchaus beeindruckt, dass Lord Chaos so gut Bescheid wusste.

»Dummerweise kam uns jemand in die Quere, der die Pläne unserer geschätzten Kollegin Paula Leonid durchkreuzte«, sprach der Visionär weiter. »Ein Mann namens John Sinclair.«

»Sinclair«, zischte Snake. »Der war auch an der Vernichtung des Echsengottes beteiligt.«

»Sinclair ist immer beteiligt«, gab Lord Chaos zu, und seufzte schwer. »Nun ja, fast immer. Auf jeden Fall zu oft.«

»Und genau das werde ich ändern«, versprach Cybill, und erntete Gelächter.

Nicht nur von Lord Chaos und Terror-Master, auch einige der anderen Mitglieder, die sich bislang still verhalten hatten, fielen mit ein.

»Das haben schon ganz andere behauptet.«

»Mag sein, aber ich bin nicht Doktor Tod oder Kunasjanow.«

»Wollen Sie behaupten, Sie seien besser?« Die Frage klang spöttisch.

»Nein.« Cybill schüttelte den Kopf. Nur weniger narzisstisch, fügte sie in Gedanken hinzu. Laut sagte sie dagegen: »Aber Wissenschaft bedeutet nun mal, aus den Fehlern vorangegangener Generationen zu lernen. Wie schon gesagt, Versuch und Irrtum.«

»Marbhàs hat nichts mit Wissenschaft zu tun«, protestierte Snake. »Wenn ich das recht verstanden habe, ist er nichts weiter als ein menschenfressendes Monstrum.«

»So wie Ihr Echsengott, nicht wahr?«

»Das stimmt nicht. Die Analyse des Genoms ergab, dass die Erbmasse mehrere Millionen Jahre alt ist. Es mag sein, dass es eine magische Komponente gibt, doch was viel erstaunlicher ist, ist die Tatsache, dass die DNA-Stränge und Chromosomen zwar eindeutig reptilischer Natur sind, doch ihre Anordnung ist so abstrakt, dass sie nur einen Schluss zulässt: sie ist außerirdischer Herkunft.«

Cybill Ashton runzelte die Stirn. Das war in der Tat eine Überraschung. Aber trotzdem kein Grund, sich die Butter vom Brot nehmen zu lassen.

»Und Ihnen fällt nichts Besseres damit ein, als sie in die Kanalisation zu kippen?«

»In das Trinkwasser«, kreischte Professor Snake. »In das Trinkwasser. In der Kanalisation haben wir die Probe sichergestellt.«

»Wie auch immer. Bevor sie das Zeug die Toilette runterspülen, schlage ich vor, dass Sie weitere Tests damit durchführen und Ihren Plan mit Hilfe Ihrer Fürsprecher modifizieren. In der Zwischenzeit überlassen Sie mir weitere Mittel, um mein Vorhaben umzusetzen. Und um noch einmal auf ihre Bemerkung zurückkommen, Marbhàs habe nichts mit Wissenschaft zu tun, so lassen Sie sich von einer promovierten Psychiaterin und Neurologin sagen, dass diese Annahme falsch ist. Marbhàs' Macht wächst mit jedem Menschen, der an ihn glaubt. Es bedarf also einer hochkomplexen neurolinguistischen Strategie, um die Leute davon zu überzeugen, dass Marbhàs die Lösung für all ihre Probleme bedeutet.«

»So wie in Cluresey, als diese Vicky Starr ihr Happening veranstaltete?*«, fragte Lord Chaos.

»Wie gesagt, dass Sinclair so früh von der Sache Wind bekommt, war nicht eingeplant. Aber es gibt noch genug Götzendiener aus Cluresey, die an ihn glauben.«

»Und wie wollen Sie ihn kontrollieren?«

»Genau darum geht es.« Jetzt war es an Cybill, ihr Projekt in allen Einzelheiten vorzustellen. Zufrieden beobachtete sie, wie die restlichen Visionäre gebannt zuhörten. Selbst Professor Snake, der weiterhin eifrig seine Lippen befeuchtete. »Die Labore sind bereits vollständig eingerichtet.«

»Und wofür benötigen Sie dann weitere Mittel?«

»Für die Beschaffung weiterer Probanden. Ich brauche Söldner. Profis, die mir diese Personen beschaffen.«

»Die sie sich mit ihrem Anteil von einundzwanzig Prozent nicht leisten können?« Professor Snake lächelte süffisant.

Mit seiner Bemerkung hatte das bleichgesichtige Chamäleon einen wunden Punkt getroffen. Auf dem Papier mochte sie das zahlungskräftigste Mitglied der Visionäre sein, die Realität sah jedoch ein klein wenig anders aus, denn viele ihrer russischen Konten waren aufgrund des Kriegs mittlerweile eingefroren worden. Aber das würde sie weder Snake noch den übrigen Mitgliedern auf die Nase binden.

Wer sich den Visionären anschloss, tat gut daran, die Herkunft des Geldes zu verschleiern.

Daher sagte sie bloß: »Das Laborequipment war nicht gerade billig. Außerdem benötige ich für den Job nicht nur drei oder vier Leute, sondern einen ganzen Trupp.«

»Wenn es nur um Probanden geht, dann ...«

»Nicht um irgendwelche Probanden«, unterbrach Cybill den Terror-Master. »Es geht um Sinclair. Wenn auch nicht persönlich. Ich habe drei Ziele ausgewählt, deren Liquidierung Sinclair nicht nur auf emotionaler Ebene treffen wird, sie wird ihn und sein Netzwerk erheblich schwächen.«

»Was für Ziele sind das?«

Cybill nannte das erste.

»Sie sind wahnsinnig!«, ächzte Lord Chaos. »Das kann nicht Ihr Ernst sein.«

»Ich gebe zu, dieser Feind birgt ein enormes Machtpotenzial, aber bedenken Sie, was es für uns bedeutet, sollten wir ihn in die Knie zwingen. Und das wird mit Marbhàs ein Kinderspiel.«

Cybill Ashton merkte, wie die restlichen Visionäre nervös wurden. Im Grunde ihres Herzens waren es eben doch Zauderer und Feiglinge. Wen wunderte es da, dass sie bislang nichts Nennenswertes auf die Beine gestellt hatten?

Schnell sprach sie weiter.

»Das Risiko liegt ganz bei mir. Bewilligen Sie mir die Mittel, und ich mache die VISIONÄRE so stark wie nie zuvor. Außerdem schaffe ich uns nicht nur Sinclair vom Hals, ich bringe auch unser Eigentum zurück.«

»Unser Eigentum?«, hakte Professor Snake nach. »Was meinen Sie damit?«

Cybill Ashton lächelte mokant. »Nicht was, verehrter Kollege, sondern wen! Es geht um diejenige, die maßgeblich daran beteiligt war, dass Marbhàs beim ersten Mal zurückgeschlagen und Sinclair gerettet wurde.«

»Wer soll das sein?«

»Carlotta, das Vogelmädchen!«

Das Haus am Rande von Dundee lag fast vollständig im Dunkeln. Straßenlaternen gab es keine, nur eine Lampe an der Eingangstür, die mit einem Bewegungsmelder gekoppelt war. Eine Kamera beobachtete den Weg samt Vorgarten, eine weitere behielt den Hintereingang im Auge.

Eine Unterbrechung des Stromkreises würde einen sofortigen Alarm bei der Polizei von Dundee auslösen und Aufmerksamkeit war das Letzte, was die Söldner erregen durften, das war ihnen von ihrer Auftraggeberin bei Vertragsabschluss noch einmal eingeschärft worden.

Also hieß es warten, bis das Zielobjekt das Haus verließ.