John Sinclair 2319 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2319 E-Book

Ian Rolf Hill

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

"Gib her! Ich will auch!"
"Nein, ich bin zuerst dran! Außerdem gehört das mir."
"Ich will doch bloß mal gucken."
"Da! Zufrieden?"
"He, ich hab gar nichts gesehen. Du bist so gemein! Muuum!"
Jessica zuckte innerlich zusammen. Hatte sie denn wirklich geglaubt, dieser Kelch würde an ihr vorübergehen? Aus dem Augenwinkel schielte sie zu Clive hinüber, der mit zurückgelegtem Kopf und halb offenem Mund leise vor sich hin schnarchte. Die Ohrstöpsel des Smartphones verstopften die Gehörgänge. Typisch.
Neidvoll blickte sie zu dem jungen Mann, der schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges saß und offenkundig allein reiste. Ohne Begleitung. Einfach in Ruhe die Zugfahrt genießen. Sich in einem Buch vertiefen und die Seele baumeln lassen.
Gott, wie sehr sie sich manchmal wünschte, allein zu sein.
Hätte Jessica Talbot in diesem Augenblick in die Zukunft schauen können, hätte sie möglicherweise anders darüber gedacht, denn soeben waren die letzten zehn Minuten im Leben ihrer Familie angebrochen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 135

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhalt

Cover

Die Stimmen der Toten

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Die Stimmen der Toten

von Ian Rolf Hill

»Gib her! Ich will auch!«

»Nein, ich bin zuerst dran! Außerdem gehört das mir.«

»Ich will doch bloß mal gucken.«

»Da! Zufrieden?«

»He, ich hab gar nichts gesehen. Du bist so gemein! Muuum!«

Jessica zuckte innerlich zusammen. Hatte sie denn wirklich geglaubt, dieser Kelch würde an ihr vorübergehen? Aus dem Augenwinkel schielte sie zu Clive hinüber, der mit zurückgelegtem Kopf und halb offenem Mund leise vor sich hin schnarchte. Die Ohrstöpsel des Smartphones verstopften die Gehörgänge. Typisch.

Neidvoll blickte sie zu dem jungen Mann, der schräg gegenüber auf der anderen Seite des Ganges saß und offenkundig allein reiste. Ohne Begleitung. Einfach in Ruhe die Zugfahrt genießen. Sich in einem Buch vertiefen und die Seele baumeln lassen.

Gott, wie sehr sie sich manchmal wünschte, allein zu sein.

Hätte Jessica Talbot in diesem Augenblick in die Zukunft schauen können, hätte sie möglicherweise anders darüber gedacht, denn soeben waren die letzten zehn Minuten im Leben ihrer Familie angebrochen ...

Da Jessica Talbot aber nun mal nicht über die Gabe der Hellseherei verfügte, nahm das Verhängnis seinen Lauf. Statt also die Notbremse zu ziehen und ein Unglück zu verhindern, das einhundertzweiunddreißig Menschen das Leben kostete, fluchte sie im Stillen und dachte darüber nach, wie groß ihre Chancen standen, dass sich der Streit von selbst legte.

»Muuum!«

Unmöglich, das Gezeter zu ignorieren oder so zu tun, als hätte sie nichts mitbekommen.

Sie sah den jungen Mann an, der scheinbar in sein Buch vertieft war, ihr aber schon seit dem Einstieg verstohlene Blicke zuwarf.

Jessica musste innerlich lachen. Nein, das bildete sie sich bestimmt nur ein. Der Typ war mindestens zehn Jahre jünger als sie. Nun, vielleicht stand er ja auf reifere Frauen.

Es war ja nicht so, als würde sie am Stock gehen. Sie war achtunddreißig, zum Henker. Und sie sah auch wirklich nicht schlecht aus.

Nun ja, bis auf die Augenringe, dachte sie schmunzelnd.

Trotzdem, die schwarzen, leicht krausen Haare, der gebräunte Teint und ihre dunklen Augen machten auf viele Männer Eindruck.

Ob er sich vorstellte, wie sie ihn verführte? Vielleicht gleich hier auf der Zugtoilette?

»Muuum! Luca ist ein Doofsack!«

Nein, dem Grinsen nach zu urteilen, das sich in seine Mundwinkel grub, dachte er das mit Sicherheit nicht. Es sah bedauernd aus. Aber auf sein Mitleid konnte sie verzichten. Wahrscheinlich wartete zu Hause eine Freundin auf ihn. Vielleicht sogar mit Kinderwunsch. Wäre Jessica nicht ohnehin schon bis unter den Haaransatz gestresst gewesen, sie hätte sich bestimmt zu einem spöttischen Lächeln hinreißen lassen.

Ja, sieh dir genau an, was dich erwartet. Und dann bin ich mal gespannt, wie du deine Angebetete davon überzeugst, noch ein wenig warten zu wollen. So fünf, zehn, zwanzig Jahre.

»Lass los! Mum, sag Willow ...«

»Schluss damit!«, herrschte Jessica ihre Kinder unvermittelt an. »Alle beide. Sonst kassier ich das Ding ein und spiele selbst damit.«

Willow und Luca starrten sie aus großen Augen an.

»Du? Du weißt doch gar nicht wie das geht!«

Jessica funkelte ihre Tochter an. »Das wirst du schon sehen, wenn es soweit ist. Oder auch nicht, denn dann lasse ich keinen von euch zugucken.«

»Aber ich wollte das Nintendo bloß mal selbst halten. Nur fünf Minuten«, protestierte Willow. »Ich schwöre.« Sie hob feierlich die Hand, so wie sie es im Fernsehen gesehen hatte, wenn Zeugen den Eid ablegten.

»Du hättest bloß alles kaputt gemacht.«

»Du hättest ja vorher speichern können.«

»Aber ich bin gerade richtig gut.«

»Okay, das reicht! Her damit!«

Jessica streckte den Arm aus und bewegte auffordernd die Finger. Luca zuckte reflexartig zurück und zog die Nintendo Switch außer Reichweite seiner Mutter. Mitten in Willows Gesicht.

Und schon ging die Schreierei los.

Wahrscheinlich hatte es nicht mal richtig wehgetan, die Siebenjährige hatte sich bestimmt nur erschrocken. Trotzdem heulte sie wie eine Rettungsboje auf hoher See. Das konnte selbst Clive nicht länger ignorieren.

Wütend zerrte er sich die Stöpsel aus den Ohren. »Herrgott, kann man nicht mal eine Stunde Zug fahren, ohne dass gleich wieder die Welt untergeht?«

Seine Kinder streifte er nur mit einem flüchtigen Blick, ehe er die Aufmerksamkeit Jessica widmete. In den Augen ein stummer Vorwurf. Aber darauf ließ sie sich gar nicht erst ein.

»Schön, dass du auch mal wieder am Leben teilnimmst.« Sie deutete mit dem Kinn auf Willow. »Ich hole einen feuchten Lappen von der Toilette. Achte wenigstens darauf, dass sie sich in der Zwischenzeit nicht die Köpfe einschlagen.«

Jessica erhob sich, legte die Jacke auf den Sitz und nahm die Handtasche an sich, bevor sie sich auf den Weg durch den Mittelgang in Richtung Zugtoilette machte.

Es war das letzte Mal, dass sie ihre Familie lebend sah.

Seufzend passierte sie den jungen Mann, der sie beobachtet hatte. Irgendwie schaffte sie es, sich ein entschuldigendes Lächeln abzuringen. Er schmunzelte.

Eine Zugbegleiterin kam Jessica entgegen, sodass sie seitlich in eine Sitzreihe ausweichen musste. Der Zug fuhr in eine Kurve.

Fast hätte sie den Halt verloren und sich auf den Schoß eines älteren Mannes gesetzt.

Sie murmelte eine Entschuldigung und spürte, wie ihr das Blut zu Kopfe stieg. Zum Glück war ihr das nicht bei dem Jungspund passiert. Das wäre ihr wirklich unangenehm gewesen. Gerade wegen ihrer schlüpfrigen Fantasien.

Eilig setzte sie ihren Weg fort. Hauptsache das WC war nicht besetzt.

Jessica Talbot atmete erleichtert auf, als sie sah, dass die Kabine frei war. Sie schlüpfte hinein und lehnte sich für die Dauer von mehreren Herzschlägen mit dem Rücken an die Tür. Der Kleiderhaken drückte hart gegen ihren Hinterkopf.

Wieder ging ein Ruck durch den Zug. Der Haken schlug schmerzhaft an den Schädelknochen.

Jessica stieß sich von der Tür ab und blieb vor dem Handwaschbecken stehen. Die Kabine war erstaunlich geräumig. Kein Vergleich zu den engen, versifften Toiletten in den älteren Zügen.

Wenn sie schon mal hier war, konnte sie auch gleich die Gelegenheit nutzen, um sich zu erleichtern. Nachdem das erledigt war und sie ihre Hände wusch, betrachtete sie sich im Spiegel. Für eine Sekunde blitzte wieder das Bild des jungen Mannes auf. Wie er hinter sie trat, die Finger unter ihren Pullover schob, nach ihrer Brust tastete und an der Hose nestelte.

Plötzlich musste Jessica losprusten.

Was dachte sie sich eigentlich? Sie war doch kein Teenager. Abgesehen davon, dass die Toilettentür verriegelt war, hätte sie ihm dermaßen eine gescheuert, dass er selbst nicht mehr gewusst hätte, ob er Männlein oder Weiblein oder vielleicht auch was ganz Anderes war.

Jessica schüttelte über sich selbst den Kopf, tränkte die Taschentücher mit kaltem Wasser und öffnete die Verriegelung.

Der Ruck erfolgte so plötzlich, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Der Verschluss wurde ihr aus den Fingern gerissen. Und noch ehe sie begriff, was geschah, verlor sie den Boden unter den Füßen und krachte mit solcher Wucht gegen die Kabinenwand, dass ihr schlagartig schwarz vor Augen wurde. Ein irrsinniger Druck legte sich auf ihre Brust, presste ihr die Luft aus den Lungen und drohte sie zu zerquetschen.

Sie vernahm ein dumpfes Knacken. Irgendwo im Körper, im Kopf. Dann wurde sie zurückgerissen, knallte abermals gegen einen harten Widerstand und dachte ... nichts mehr.

Jessica Talbot bäumte sich schweißgebadet auf.

Sie schnellte nicht hoch, wie es oft in Filmen gezeigt wurde, vielmehr schreckte sie aus dem Schlaf, als hätte sie einen Stromschlag bekommen. Das T-Shirt klebte klatschnass an der Brust.

Es war Clives T-Shirt. Sein Geruch haftete noch am Stoff. Angewidert zerrte sie es sich vom Körper und schleuderte es davon.

Genau in dem Augenblick, als die Tür von außen aufgerissen wurde.

Schreiend fuhr Jessica zusammen, winkelte die Beine unter der schweren Decke an und schlang die Arme um die Knie, damit niemand ihre Brüste sah. Dabei hätte sie vor diesen beiden Menschen eigentlich keine Scham zu zeigen brauchen, denn es waren ihre Eltern.

Das erkannte sie trotz des blendenden Lichts, das durch den Türspalt geradewegs in ihr Gesicht fiel und in dem sich jetzt die Silhouetten von Mum und Dad abzeichneten.

Ihr Vater war als Erster am Bett, traute sich aber nicht so recht, sie zu berühren. Mum hatte da weit weniger Hemmungen. Sie ließ sich neben ihrer Tochter auf die Matratze sinken und legte ihr den Arm um die Schultern.

»Oh Gott, Jess. Hattest du schon wieder einen Albtraum?«

Als ob das nicht offensichtlich gewesen wäre. Aber Jessica nahm es ihrer Mutter nicht übel. In Situationen wie diesen die richtigen Worte zu finden, war wohl ein Ding der Unmöglichkeit.

»Hol mal meine Strickjacke aus dem Schlafzimmer«, bat Mum.

Jessica hörte, wie ihr Vater das Zimmer verließ.

»Ach, Kind, es tut mir so leid«, sagte ihre Mutter, kaum dass sie allein waren.

Dad kehrte zurück, und Jessica spürte, wie ihr Mum die Strickjacke über die nackten Schultern legte.

»Glaubst du, sie schafft es?«, hörte sie ihren Vater raunen.

Das hilflose Schulterzucken ihrer Mutter dagegen konnte sie nurmehr erahnen.

Jessica gab sich einen Ruck, zog die Nase hoch und nickte.

»Ja«, krächzte sie, und wischte sich mit dem Taschentuch, das Mum ihr reichte, die Tränen ab.

»Ich ... ich schaffe das ...«, fügte sie hinzu. Und dann, als müsse sie sich selbst Mut zusprechen: »Ich muss!«

»Nein, Kind. Du musst nicht, wenn du nicht willst. Jeder wird Verständnis dafür haben, wenn ...

Jessica wurde wütend. Auf eine seltsame Art und Weise fühlte es sich gut an. Nein, nicht gut, eher befreiend.

»Ich sagte, dass ich es schaffe«, fuhr sie ihre Eltern mit schriller Stimme an.

Dad wich erschrocken zurück, unsicher wie er reagieren sollte. Und mit einem Mal schämte sie sich für ihren Ausraster. Es war ja nicht so, als wäre sie die Einzige, die einen Verlust erlitten hätte.

Klar, sie hatte ihren Ehemann und ihre beiden Kinder verloren, aber ihre Eltern hatten auch unter dem Tod ihrer Enkel und des Schwiegersohnes zu leiden. Von der Trauer und Hilflosigkeit ihrer einzigen Tochter gegenüber ganz zu schweigen.

Und trotzdem ...

Gerade deshalb war es ja so wichtig, dass sie es durchzog. Dass sie ihre eigenen Gefühle hintanstellte und funktionierte. Zumindest für ein, zwei Stunden.

Himmel, das ist eine verdammte Ewigkeit, dachte sie schaudernd.

»Es ... es tut mir leid. Ich wollte euch nicht so anfahren.«

»Schon gut, mein Kind«, beschwichtigte ihre Mutter, und in ihren Augen glitzerten Tränen. »Wir stehen das gemeinsam durch. Du bist nicht allein, Jessica. Hörst du? Du bist nicht allein.«

Jessica Talbot hörte die Worte ihrer Mutter, doch es fiel ihr schwer, sie anzunehmen. Es mochte ja sein, dass ihr ihre Eltern zur Seite standen. Ebenso wie ihre beste Freundin Cleo. Doch am Ende, das wusste sie, da würde sie mit dem Schmerz allein fertigwerden müssen.

Wenn nur der heutige Tag schon vorbei wäre.

Ganze sechs Wochen lag das Unglück bereits zurück. Sechs Wochen, die wie ein böser Traum an ihr vorbeigezogen waren, was nicht zuletzt an den unzähligen Schmerz- und Beruhigungsmitteln gelegen hatte, die man ihr literweise eingeflößt und injiziert hatte.

Die Toten des Zugunfalls waren längst beerdigt worden. Alle bis auf drei.

Man hatte Rücksicht genommen auf die junge Witwe, deren Wunsch es gewesen war, an der Beerdigung teilzunehmen.

Ein Grund mehr, nicht zu kneifen.

Doch jetzt, wo es so weit war, wünschte sie, sie wäre woanders. Tausende Meilen entfernt von dem Ort, wo sie alles an ihre verstorbene Familie erinnerte, die sie heute zu Grabe tragen würde.

»Wie geht es ihr?«

»Sie versucht, stark zu sein, doch sie ist mit den Nerven am Ende. Sie hatte die Nacht wieder Albträume.«

»Kein Wunder. Bei dem, was sie durchgemacht hat. Vielleicht war es doch keine so gute Idee.«

»Es war ihr Wunsch.«

»Sicher, Mrs. Stamatis, so war das auch gar nicht gemeint. Aber vielleicht hätten man den Termin verschieben oder die Trauerfeier auf wenige ausgewählte Gäste begrenzen können.«

Jessica schnaufte.

Verflixt und zugenäht, dachten eigentlich alle, sie wäre taub? Oder schwachsinnig? Oder beides?

»Sie wollte es so und jetzt ist es ohnehin zu spät«, hörte sie Mum sagen. »Das Einzige, was wir jetzt noch tun können ist es, Jessica die nächsten Stunden so leicht wie möglich zu machen.«

»Natürlich, Mrs. Stamatis. Haben Sie schon mit den Talbots gesprochen?«

»Nein«, polterte ihr Vater. »Dazu hatten wir bislang keine Gelegenheit. Sie sind kaum ansprechbar. Sie haben sehr an ihrem Sohn, an Clive, gehangen.«

Bei der Erwähnung ihres verstorbenen Gatten wühlte sich eine unsichtbare Faust in Jessicas Magengrube. Ihr wurde speiübel. Nicht nur, weil sie ihn vermisste, sondern auch, weil sie daran erinnert wurde, dass seine Eltern, Karen und Gerald, dem späten Beerdigungstermin nur zähneknirschend zugestimmt hatten.

»Ich geh mal zu ihr«, sagte Cleo. »Ist sie auf ihrem Zimmer?«

»Ja, sie wollte zwar einen Moment allein sein, aber ich denke, sie hat nichts dagegen, dass du nach ihr schaust.«

Jessica fuhr hoch und rannte wie von Furien gehetzt in das winzige Bad, wo sie es gerade noch bis zur Toilette schaffte. Vor der Schüssel fiel sie auf die Knie und erbrach die Reste ihres kargen Frühstücks, das sie sich unter den sorgenvollen Blicken ihrer Eltern mühsam hineingezwängt hatte.

Mit einer Hand klammerte sie sich an die Emaille, während sie mit der anderen versuchte, ihre Haare davon abzuhalten, in die Schüssel mit dem Erbrochenen zu fallen.

Sie erschrak, als plötzlich zwei weitere Hände die offene Haarflut ergriffen und festhielten. So wie sie es früher schon das eine oder andere Mal getan hatten, nachdem sie zu tief ins Glas geblickt hatte. Zuletzt, so glaubte Jessica sich zu erinnern, war es auf ihrem Junggesellinnenabschied gewesen.

Es war Cleo.

Natürlich war es Cleo. Sie war die beste Freundin, die sich eine Frau nur wünschen konnte.

Männern war sie oft zu burschikos, und ja, vielleicht auch ein wenig zu füllig. Aber sie hatte das Herz auf dem rechten Fleck und das war tausend Mal mehr wert als eine Modelfigur oder das Aussehen eines Filmstars. Dabei staunte Jessica immer wieder, wie geschmeidig und geschickt sich ihre Freundin trotz ihrer Körperfülle bewegen konnte.

Selbst jetzt hatte Jessica die Schritte gar nicht gehört. Allerdings war sie auch anderweitig beschäftigt gewesen.

»Geht's wieder?«

Jessica spuckte bitter schmeckenden Speichel aus. Dann nickte sie und ließ sich von Cleo auf die Beine helfen. Sie musste sich an ihrem Busen vorbeiquetschen, um aus dem Bad zu kommen. Cleo machte den Arm lang, um die Spülung zu betätigen, das hatte sie in der Aufregung ganz vergessen.

Kurz vor der Tür zum Flur verharrte Jessica, drehte sich noch einmal um und eilte zurück ins Bad, allerdings nur um sich den Mund auszuspülen und das Gesicht zu waschen.

Das kalte Wasser war eine Wohltat für die erhitzte Haut. Anschließend putzte sie sich noch einmal die Zähne. Cleo blieb die ganze Zeit über wie eine Wächterin in der Tür stehen.

Ein wenig unangenehm war Jessica das schon.

»Hast du Angst, dass ich weglaufe?«

Ihre Freundin schüttelte den Kopf. »Ich habe Angst, dass du dir zu viel zumutest.«

Jessica winkte ab. Dafür musterte sie Cleo und verzog die Lippen zu einem verkrampften Lächeln. »Du siehst gut aus.«

Sie deutete auf den samtschwarzen Hosenanzug ihrer besten Freundin.

Normalerweise bevorzugte Cleo weite, locker fallende Kleidung, so wie es bei Menschen mit ihrer Figur häufig der Fall war. Doch das heutige Outfit lag wie angegossen an ihrem Körper, was bei Jessica den Verdacht aufkeimen ließ, dass Cleo es sich extra für diesen Anlass zugelegt, vielleicht sogar hatte schneidern lassen. Zuzutrauen wäre es ihr.

Cleo legte die Stirn in Falten. Verständlicherweise, immerhin hatte sie sich für eine Beerdigung herausgeputzt. Für die Beerdigung von Jessicas Ehemann und ihren beiden Kindern, Willow und Luca.

Sie spürte den wachsenden Druck hinter den Augen. Plötzlich war sie froh, dass es Cleo war, die bei ihr ihm Zimmer stand. Sie kannten sich seit der Schule und hatten sich seitdem nie aus den Augen verloren. Gemeinsam waren sie durch Höhen und Tiefen gegangen.

Clive dagegen hatte Jessica erst vor fünfzehn Jahren kennengelernt.

Und ehe sie sich versah, ließ sie den Tränen freien Lauf. Sie schämte sich ihrer nicht. Nicht vor Cleo, die an sie herantrat und sie in den Arm nahm.

»Schon gut, Liebes. Lass es raus.«

Minutenlang standen sie eng umschlungen in dem Raum, der früher einmal Jessicas Kinderzimmer gewesen war. Nachdem sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, war sie gar nicht erst nach Hause zurückgekehrt, sondern direkt zu ihren Eltern nach Elstree gezogen.