John Sinclair 2324 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2324 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

"Hast du das gehört, Jon?"
Nein, hatte Jon offenkundig nicht, denn er schnarchte ungerührt weiter. Helen musste ihn an der Schulter wachrütteln. Begleitet von einem unwilligen Grunzen schlug Jonathan Shaw die Augen auf und sah sich verdutzt um. Seine Frau hatte die Nachttischlampe eingeschaltet. Ihre von der Sonne gebräunte Haut war blass geworden. Das war deutlich zu erkennen, auch wenn eine Gesichtshälfte im Schatten lag.
"Was ... was ist los?", murmelte Jon, trunken vom Schlaf. "Warum weckst du mich mitten in der Nacht auf?"
"I...ich glaube, es ist jemand im Haus!"


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Inhalt

Cover

Sachmets Saat

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Sachmets Saat

von Ian Rolf Hill

»Hast du das gehört, Jon?«

Nein, hatte Jon offenkundig nicht, denn er schnarchte ungerührt weiter. Helen musste ihn an der Schulter wachrütteln. Begleitet von einem unwilligen Grunzen schlug Jonathan Shaw die Augen auf und sah sich verdutzt um. Seine Frau hatte die Nachttischlampe eingeschaltet. Ihre von der Sonne gebräunte Haut war blass geworden. Das war deutlich zu erkennen, auch wenn eine Gesichtshälfte im Schatten lag.

»Was ... was ist los?«, murmelte Jon, trunken vom Schlaf. »Warum weckst du mich mitten in der Nacht auf?«

»I...ich glaube, es ist jemand im Haus!«

Jonathan Shaw richtete sich auf und rutschte bis ans Kopfende zurück. Müde strich er sich mit beiden Händen durch das Gesicht.

»Natürlich ist jemand im Haus. Unsere Tochter Imogen. Helen, was soll das? Es ist ... halb drei Uhr morgens!«

Die letzten Worte sprach er aus, als könne er es selbst kaum glauben, doch die Anzeige seiner Smartwatch log nicht.

»Das weiß ich«, zischte Helen. »Aber Imogen würde doch nicht durch das Haus schleichen wie eine Diebin.«

Jonathan wollte etwas erwidern, hielt jedoch im letzten Moment inne und legte die Stirn in Falten. Er dachte kurz über Helens Worte nach, ehe er sich endlich zu einer Antwort durchrang.

»Wenn da jemand herumschleicht, wie konntest du ihn dann hören?«

Helen schüttelte den Kopf. »Ich ... ich glaube, es ist etwas umgefallen. Und dann habe ich das Knarren einer Tür gehört und leise Schritte auf den Dielen.«

Shaw lauschte. »Also, ich höre ...«

»Da!«, rief Helen aufgeregt. Sie legte ihrem Mann eine Hand auf die Schulter.

Jetzt konnte auch Jonathan das Knarren deutlich vernehmen. Allerdings nicht auf den Dielen des Flurs, sondern weiter entfernt, auf den Stufen der Treppe, die ins Erdgeschoss führte.

Jonathan schwang die Beine aus dem Bett und schlüpfte in die Pantoffeln, die direkt daneben auf dem Läufer lagen. Auf dem Weg zur Tür verlor er kein weiteres Wort.

Entschlossen, demjenigen Beine zu machen, der es wagte, mitten in der Nacht sein Haus zu betreten und seine Familie in Angst und Schrecken zu versetzen, riss Shaw die Schlafzimmertür auf und schaltete die Flurbeleuchtung ein.

Warmes Licht erfüllte den Korridor und fiel auch durch die halb geöffnete Tür, hinter der sich Imogens Zimmer befand.

Heiß fuhr Shaw der Schrecken durch die Glieder und vertrieb den Rest an Müdigkeit. Mit drei schnellen Schritten überquerte er den Flur, stieß die Tür auf und tastete nach dem Lichtschalter.

Der Anblick des leeren Bettes stürzte den Landwirt in noch tiefere Verwirrung. Die Wasserflasche, die stets in Griffweite am Boden stand, für den Fall, dass Imogen in der Nacht Durst bekommen sollte, lag auf der Seite.

Sie musste mit dem Fuß dagegen gestoßen sein.

Shaw atmete auf. Helen hatte mal wieder umsonst die Pferde scheu gemacht. Imogen wollte bestimmt nur auf Toilette.

Bloß, warum war sie dann hinunter ins Erdgeschoss gegangen? Seine Tochter neigte nicht zu irgendwelchen nächtlichen Fressattacken.

»Imogen?«

Das war Helen. Hastig verließ Shaw das Zimmer seiner Tochter. Seine Frau stand im Schlafanzug am oberen Treppenabsatz und spähte in die Tiefe.

Shaw schloss zu ihr auf, konnte aber nichts erkennen. »Was ist los?«

»Ich habe Imogen gesehen.«

»Und sie hat nicht reagiert?«

»Nein, sie ... sie schien mich überhaupt nicht gehört zu haben. Sie ist einfach weitergegangen.«

»Weiter? Wohin?«

»In Richtung Tür. Ich glaube, sie ist nach draußen gegangen.«

»Warum sollte sie das tun?«, fragte Jonathan grimmig.

Helen zuckte die Schultern. »Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat sie einen Freund?«

Wütend schüttelte Jon den Kopf. »Nicht meine Tochter. Imogen ist dreizehn!«

»Sie ist in der Pubertät.«

»Nicht – meine – Tochter«, beharrte Shaw und stapfte die Treppe herunter.

Seine Frau seufzte schwer. Er konnte geradezu hören, wie sie mit den Augen rollte. Er wusste, dass er seine Augen vor den Tatsachen verschloss. Und, ja, vielleicht war er überfürsorglich, aber das war schließlich auch kein Wunder. Nicht, nachdem sie fast gestorben wäre.

Jonathan schnaubte.

Von wegen, fast. Sie war gestorben. Er hatte ihren toten Körper selbst in den Händen gehalten und um seine Tochter getrauert. Bis ihre Katze Bastet erschienen war und Imogen wieder neues Leben eingehaucht hatte*.

Ein fantastischer und für ihn vollkommen unerklärlicher Vorgang, der ihm selbst heute noch wie ein Traum erschien. Dabei war die Wiedererweckung seiner Tochter Imogen nur einer von vielen fantastischen und unerklärlichen Vorgängen gewesen, die er und die Bewohner von Egloskerry in den vergangenen Jahren erlebt und durchlitten hatten.

Ein drückendes Gefühl bildete sich in seiner Magengrube. Sollte jetzt alles von Neuem beginnen?

Nein, alles, nur das nicht!

Jonathan Shaw zog die Haustür auf, die spaltbreit offenstand.

Kühle Nachtluft wehte in das Haus, das sein Großvater erbaut hatte. Dahinter erstreckte sich ein gepflasterter Hof, der von zwei großen Schuppen begrenzt wurde und nur nach einer Seite hin offen war. Dort befand sich das eiserne Tor, das das Grundstück von der Straße trennte.

Und dort, im Schein des Mondes, sah er sie. In ihrem hellen, zartrosafarbenen Pyjama sah sie aus wie ein Gespenst. Fehlte nur noch der Nebel, der geisterhaft zwischen den Straßen und Gassen waberte.

Shawn erschauerte. Er gab sich einen Ruck, ehe ihn die Erinnerungen an den gespenstischen Dunst, der das Dorf vor wenigen Jahren eingeschlossen hatte und in dessen Schutz ein Riese aus Avalon erschienen war, hätten überrollen können*.

»Imogen!«, brüllte Shaw, doch seine Tochter hörte noch immer nicht. Oder wollte nicht hören.

Mit zwei Sätzen überwand er die Stufen der kurzen Treppe und rannte, so schnell es die Pantoffeln zuließen, über den Hof auf das Mädchen zu, das eben das Tor erreichte. Mechanisch griff es nach der Klinke und zog die Pforte auf.

»Imogen!«, rief Helen vom Eingang her. »Bleib hier! Wo ... wo willst du denn hin?«

Das wollte auch Jonathan nur allzu gern wissen. Zum Glück hatte sie es nicht besonders eilig. Tatsächlich bewegte sie sich auffallend langsam, sodass es dem Landwirt keine Mühe bereitete, Imogen einzuholen.

Eben wollte sie sich durch den Spalt in der Pforte schieben und auf die Straße gehen, als Jon sie an der Schulter zu fassen bekam und herumzerrte.

»So, jetzt reicht es aber!«, schnauzte Shaw seine Tochter an. »Verrätst du mir mal, was ...«

Der Rest des Satzes blieb ihm im Halse stecken. Voller Entsetzen blickte er in Imogens ausdrucksloses Gesicht. Es war aschfahl und glänzte, als wäre es mit Öl eingerieben worden. Die Lider standen zur Hälfte offen und zitterten leicht.

Seine Tochter war vollkommen abwesend ... als wäre sie hypnotisiert worden.

»Imogen!«, rief Helen. Nach Luft schnappend erreichte sie Mann und Tochter. »Mein Gott, was ist ...? Pass auf, sie kippt um!«

Doch das hatte Jonathan bereits bemerkt. Geistesgegenwärtig fing er Imogen auf.

Selbst durch den Stoff des Schlafanzugs konnte er die Wärme ihres Körpers spüren. Mit angstgeweiteten Augen starrte er abwechselnd auf Imogen und seine Frau.

Helen trat näher an ihre Tochter heran und strich ihr über die Wangen.

»Imogen, komm zu dir! Was ...« Sie zögerte und legte dem Mädchen die Hand auf die Stirn.

Wie unter einem Stromschlag zuckte Helen Shaw zusammen. Ihr Blick suchte den ihres Mannes, in ihren Augen flackerte die Angst.

»Himmel, das Kind glüht ja förmlich! Rasch, wir müssen sie sofort ins Haus bringen und Doc Farnsworth anrufen!«

»Achtunddreißig acht«, murmelte Farnsworth zwanzig Minuten später.

Er hatte sich sofort auf den Weg gemacht, nachdem Shaw ihn angerufen hatte. Und da die Wege in Egloskerry nicht weit waren, hatten sie auch nicht lange zu warten brauchen, bis es an der Tür geklingelt hatte. Helen hatte die Zeit genutzt, um ihrer Tochter kalte Wickel zu machen.

Imogen hatte es widerstandslos über sich ergehen lassen, obwohl ihre Eltern nicht zu sagen vermocht hätten, ob sie schlief oder wach war.

Ihre Lider flatterten wie die Flügel eines Schmetterlings, die farblosen Lippen bewegten sich, als wollte sie etwas sagen, ohne dass zu verstehen gewesen wäre, was.

Farnsworth gab Helen das Fieberthermometer zurück.

»Das wissen wir«, schnappte Jon aufgeregt. »Was wir nicht wissen, ist, was sie hat.«

»Fieber«, murmelte der Mediziner phlegmatisch.

Es gab nicht viel, was den alten Landarzt aus der Ruhe bringen konnte. Schon gar kein aufgeregter Landwirt, selbst wenn er so groß und kräftig war wie Shaw.

In aller Seelenruhe griff Farnsworth nach dem Handgelenk seiner jungen Patientin und zog eine goldene Taschenuhr aus der Weste, die er sich zusammen mit Hose und Jackett eilig über den Pyjama gestreift hatte.

Über den Brillenrand hinweg betrachtete er stumm das Ziffernblatt. Schließlich klappte er die Taschenuhr zu und verstaute sie wieder in der Westentasche.

»Leicht erhöhter Puls. Nicht ungewöhnlich.« Der Arzttasche, die neben ihm auf dem Stuhl stand, entnahm er ein Stethoskop nebst Manschette. »Schauen wir mal, was der Blutdruck sagt.«

Der Wert war nicht besonders hoch, aber das war bei einem Mädchen von Imogens Statur auch nicht zu erwarten gewesen. Schließlich schob er ihr T-Shirt nach oben und die Hand mit dem Stethoskop darunter, um Herz und Lunge abzuhorchen.

»Imogen, kannst du mich hören?«, fragte Farnsworth.

Sie brummte zustimmend.

»Imogen, ich muss deine Lunge abhorchen, kannst du dich aufrichten?«

»Muss das sein?«, murmelte sie.

»Ja, muss es«, erwiderte der Landarzt und gab Jonathan ein Zeichen, damit er ihm half.

Der Landwirt nickte und tauschte mit Farnsworth den Platz. Der ältere Mann setzte sich auf die Bettkante, legte das Stethoskop auf Imogens Rücken und klopfte ihn schließlich ab.

»Tut da irgendetwas weh?«, fragte er sie.

Das Mädchen verneinte brummend. Farnsworth nickte Jon zu, der den Kopf seiner Tochter vorsichtig auf das Kissen zurücksinken ließ, nachdem der Arzt aufgestanden war. Er ging zu seiner Arzttasche und verstaute das Stethoskop.

»Was machen wir jetzt?«, fragte Helen, die während der Untersuchung stumm neben dem Bett gestanden hatte. »Ich meine, wir müssen doch irgendetwas unternehmen. Sollen wir sie ins Krankenhaus bringen?«

»So weit sind wir noch nicht«, meinte Farnsworth. »Wo war Imogen heute?«

»In der Schule und danach bei Timmy.«

»Timmy Patterson?«

»Ja, sicher«, knurrte Jon. »Wie viele Timmys kennen Sie denn? Die beiden haben zusammen Hausaufgaben gemacht und danach noch 'nen Film geguckt.«

»Und dann?«

»Dann ist sie nach Hause gekommen. Wir haben zu Abend gegessen, und sie ist auf ihr Zimmer gegangen und hat gelernt. Oder gelesen.«

»Oder gechattet und Serien gestreamt«, fügte Helen hinzu.

»Spielt das eine Rolle?«, rief Jon erregt.

»Wohl kaum«, meinte Farnsworth ruhig. »Was gab es denn zu essen?«

»Hackbraten«, antwortete der Landwirt. »Soll Helen Ihnen ein Stück aufwärmen?«

»Das wird nicht nötig sein. Sie beide fühlen sich wohl?«

Jetzt erst schien Jon zu begreifen, worauf der Arzt hinauswollte. Er warf Helen einen knappen Blick zu, die langsam nickte.

»Hat Imogen über irgendwelche Beschwerden geklagt? Brennen beim Wasserlassen oder so?«

»Nein«, erwiderte Helen. »Das hätte sie mir auf jeden Fall gesagt. Sie hatte schon mal eine Blasenentzündung.«

»In Ordnung. Ich werde Imogen eine Novalmin-Injektion geben, um das Fieber zu senken. Sollte es nicht besser werden, gebt ihr ihr noch ein Zäpfchen. Ich werde morgen früh noch einmal vorbeikommen und Blut abnehmen.«

Farnsworth entnahm der Arzttasche ein Fläschchen und eine Spritze nebst Kanüle.

»Und wenn das Fieber weiter steigt?«, fragte Jonathan ängstlich.

Der Arzt richtete ich auf und drehte sich zu dem Landwirt um. Streng schaute Farnsworth Imogens Vater an, der den Doktor um Haupteslänge überragte.

»Dann ruft ihr den Rettungsdienst! Sofort! Ohne mich vorher anzurufen.«

»Machen wir«, versprach Helen ernst.

Farnsworth nickte zufrieden und setzte die Injektion. Jonathan hielt Imogens Arm fest, musste jedoch den Blick abwenden, als die Nadel sich in die Ellenbeuge seiner Tochter bohrte.

Der Arzt lächelte. »Ein Kerl wie ein Baum, aber kann keine Spritzen sehen.«

»Sehen schon, nur eben nicht, wie sie sich durch Haut und Fleisch bohren.«

»Regen Sie sich nicht auf, Jon. Ist doch schon vorbei.« Farnsworth drückte einen Tupfer auf die Einstichstelle. »Halten Sie mal?«

Shaw tat wie ihm geheißen. Farnsworth verstaute die Spritze in einem schmalen, durchstichsicheren Abwurfbehälter und reichte dem Landwirt ein Pflaster, das er seiner Tochter in die Ellenbeuge klebte.

James Farnsworth verschloss die Arzttasche und nickte den Eltern zu. »Mehr kann ich im Moment nicht für Imogen tun.«

»Ich begleite Sie noch nach draußen, Doc«, sagte Jonathan.

»Warten Sie«, rief Helen leise und gab den Männern ein Zeichen, hinaus auf den Flur zu gehen. Imogen war längst wieder in tiefen Schlag gefallen. »Hast du ihm erzählt, wie wir sie gefunden haben?«

Shaw schüttelte mit dem Kopf. »Nein, das ... das hab ich in der Aufregung wohl vergessen.«

»Was soll das heißen?«, fragte Farnsworth. »Wie haben Sie ...?«

Das Poltern aus Imogens Zimmer schnitt ihm das Wort ab. Helen entgleisten die Züge. Sie war als Erste an der Tür und stieß sie auf.

»Imogen!«, entfuhr es ihr.

Das Mädchen stand vor dem Fenster, das weit offenstand. Ein Buch, das auf der Fensterbank gelegen hatte, war heruntergefallen. Imogen Shaw schob sich eben mit dem Hintern auf die Ablage, um die Beine ins Freie zu schwingen. Dahinter ging es knapp vier Yards in die Tiefe.

Mit einem Schrei auf den Lippen stürmte Jonathan auf seine Tochter zu. Dass er dabei seine Frau und den Arzt beiseite rempelte, scherte ihn in nicht.

Der Landwirt packte Imogen an den Hüften und wollte sich mit ihr herumwerfen, doch die klammerte sich mit beiden Händen am Fensterrahmen fest.

Aus ihrem Mund drangen unartikulierte Laute, die in einem monotonen Knurren endeten, das tief aus ihrer Kehle kam.

Farnsworth' Augen weiteten sich. Wäre er nicht selbst Zeuge dieses Vorfalls geworden, er hätte geschworen, dass die Laute nicht von einem Menschen stammten.

Sie hörten sich vielmehr an wie das sonore Knurren einer Katze, kurz bevor sie die Krallen ausfuhr. Genau das passierte zwei Sekunden später, als Helen sich dicht an ihrer Tochter vorbei beugte, um nach deren Beinen zu greifen.

Urplötzlich packte Imogen zu, grub ihre Finger in Helens Haare und riss daran. Die Frau stolperte nach vorne, als Jon seine Tochter zurück ins Zimmer zog. Ruckartig löste sich der Griff des Mädchens. In der geballten Faust hingen nun Haarsträhnen ihrer Mutter.

Imogen strampelte mit den Beinen. Ein Tritt traf Helen an der Schulter, ein zweiter seitlich am Kiefer. Die Frau wurde zurückgestoßen, und das war ihr Glück. So verfehlten die Fingernägel ihrer Tochter das Auge um wenige Millimeter, zogen jedoch eine blutige Spur über die Wange.

Helen schrie auf und schlug sich instinktiv die Hand vor das Gesicht.

Jon aber warf sich mit Imogen herum, schleuderte sie auf die Matratze und fixierte sie mit seinem Gewicht, wobei er noch ihre Unterarme festhielt. Währenddessen fauchte und spuckte das Mädchen. Es gebärdete sich wie eine Wahnsinnige.

James Farnsworth war in der Zwischenzeit nicht untätig geblieben. Er zog ein schnell wirkendes Beruhigungsmittel auf, trat seitlich an Vater und Tochter heran und zog der Dreizehnjährigen die Schlafanzughose herunter, bis ein Teil ihres Gesäßes frei lag, und setzte dort hinein die zweite Spritze.

Imogen Shaw tobte noch ungefähr eine Minute, ehe sie sich langsam beruhigte. Sechzig endlos lange Sekunden, in denen Helen mit angezogenen Knien vor dem Fenster kauerte und ihre Tochter anstarrte, die mehr Tier als Mensch zu sein schien.

»Ist Imogen früher schon geschlafwandelt?«, fragte Farnsworth später, während er Helens Kratzer desinfizierte.

Reflexartig wollte sie den Kopf schütteln. Gerade noch rechtzeitig merkte sie, dass das wohl keine so gute Idee war, und beschränkte sich auf eine verbale Antwort. »Nein, nie!«

Sie saß im Badezimmer auf dem Wannenrand, Farnsworth hatte sich einen Hocker herangezogen. Jonathan war bei Imogen geblieben, nur für den Fall, dass sie trotz des Sedativums weiterhin versuchte, aufzustehen.

»Hm«, machte der alte Landarzt.

»Was ... was ist da gerade passiert, Doktor? Was fehlt meiner Tochter?«

Helen Shaw klang verständlicherweise verzweifelt, sodass Farnsworth gar nicht anders konnte, als ihr die Wahrheit zu sagen. »Ich weiß es nicht!«

»Sie ist durchgedreht.« Die Stimme der Frau zitterte. »Wie eine Wahnsinnige. Oder als ob sie besessen wäre.«

Farnsworth hob ruckartig den Kopf, doch Helen bemerkte es gar nicht. Ihr Blick war ins Leere gerichtet, während sie weitersprach. »Vielleicht ... vielleicht wäre es wirklich das Beste, sie ins Krankenhaus zu bringen.«

»Ich weiß nicht, ob das das Richtig für Imogen wäre«, erwiderte der Arzt.

Helen suchte Blickkontakt mit Farnsworth. »Wie können Sie so etwas sagen?«, zischte sie. »Wo Sie mir eben noch ins Gesicht gesagt haben, dass Sie keine Ahnung hätten, was meiner Tochter fehlt. Sie waren doch dabei!« Mit jedem Wort hob sie ihre Stimme, stieß sich vom Wannenrand ab. »Sie haben doch gesehen, wie sich meine Tochter aufgeführt hat. Als ob sie ein wildes Tier wäre.«

Farnsworth nickte. »Ja, ganz genau. Ein wildes Tier«, entgegnete er besonnen. »Das ist der springende Punkt.«

Helen schüttelte verwirrt den Kopf. »Wie meinen Sie das?«

Der Landarzt warf den blutigen Tupfer in den Mülleimer und entnahm der Arzttasche eine Rolle Heftpflaster.

»Haben Sie die Geräusche, die Imogen produziert hat, nicht an etwas erinnert?«

Verwirrt schaute sie den Arzt an.

Farnsworth verzog die Lippen und fuhr fort: »Haben sich die Laute für Sie nicht auch wie das Knurren einer Katze angehört?«

Jede andere, dem Farnsworth so etwas gesagt hätte, hätte ihm einen Vogel gezeigt und angenommen, er würde sich etwas zusammenspinnen. Doch Helen war dabei gewesen, als ihre Tochter von einer Katze wieder ins Leben zurückgeholt worden war.

Daher reagierte sie auf gänzlich andere Weise, als man es von einer Mutter in ihrer Situation normalerweise erwartet hätte. »Doc, wollen Sie mir etwa sagen, dass sich meine Tochter in eine Katze verwandelt?«