John Sinclair 2348 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2348 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Das furchterregende Gebrüll riss Lykke aus der Meditation. Langsam hob sie die Lider und blickte in die schwelende Glut, aus der betörende Dämpfe stiegen. Derlei Geräusche waren Lykke viel zu sehr vertraut, als dass sie sich davon hätte aus der Ruhe bringen lassen. Sie hatte selbst schon auf diese Weise gebrüllt. Immer dann, wenn sie sich in einen stattlichen Braunbären verwandelte, denn sie war eine Berserkerin.
Seit dem Tod ihrer Mutter sogar noch mehr, nämlich Schamanin und Anführerin der Bärenhäuter. Und als solche musste sie wenigstens nach der Ursache für den Aufruhr forschen ...


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Inhalt

Cover

Blutige Fährte

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Blutige Fährte

Von Ian Rolf Hill

Das furchterregende Gebrüll riss Lykke aus der Meditation. Langsam hob sie die Lider und blickte in die schwelende Glut, aus der betörende Dämpfe stiegen. Derlei Geräusche waren Lykke viel zu sehr vertraut, als dass sie sich davon hätte aus der Ruhe bringen lassen. Sie hatte selbst schon auf diese Weise gebrüllt. Immer dann, wenn sie sich in einen stattlichen Braunbären verwandelte, denn sie war eine Berserkerin.

Seit dem Tod ihrer Mutter sogar noch mehr, nämlich Schamanin und Anführerin der Bärenhäuter. Und als solche musste sie nach der Ursache für den Aufruhr forschen ...

Zumal es nicht bei einem Bären blieb. Immer mehr Berserker fielen in das Gebrüll mit ein, in das sich nun auch das Schreien von Kindern mischte.

Mit einem Satz war Lykke auf den Beinen. Etwas zu schnell, wie sie feststellte. Schwindel erfasste sie. Lykke taumelte, überwand den Moment der Schwäche und stürmte ins Freie.

Ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Das Lager der Berserker hatte Besuch erhalten.

Der Tod war gekommen ...

Lykkes Hände tasteten nach der Kapuze des Bärenfells, mit dessen Hilfe sie sich verwandeln konnte. Das Entsetzen schlug in grimmige Wut um. Wie konnte diese Person es wagen, hierherzukommen? Nach allem, was sie Lykke und den Berserkern angetan hatte?

Sie hatte das Lager von einer Riesin verwüsten lassen, Fehild umgebracht und die kleine Rebecca entführt. Und jetzt ritt sie, nur mit einem fleckigen Totenhemd bekleidet, auf dem Rücken ihres Höllenhundes Garm in das Lager, als wäre nichts geschehen.

Die rechte Körperhälfte leuchtete schneeweiß im Licht der aufgehenden Sonne. Glich dem einer blutjungen und ebenso blutleeren Frau. Die linke Seite jedoch war schwarz verfärbt.

Verwesendes, schwärendes Fleisch hing an dem Gerippe, dessen Gebein stellenweise durch das nekrotische Gewebe schimmerte.

Es war Hel, die nordische Göttin des Todes. Tochter des Loki und Schwester von Fenris, dem Götterwolf.

Die Riesin Modgud hatte in ihrem Auftrag das Lager der Berserker verwüstet, der Drache Nidhogg die Kolonie der Werwölfe attackiert.

Hel war grausam, skrupellos und unberechenbar.

Vor allem aber war sie unerwünscht, was die Berserker ihr auch deutlich zu verstehen gaben, die ihre Feindseligkeit offen zur Schau stellten. Wer konnte, hatte sich verwandelt. Und noch bevor Lykke eine Entscheidung fällen konnte, ob sie es ihren Stammesschwestern und -brüdern gleichtun sollte, stürmte der unbeherrschte Rango vorwärts.

Er war ein imposanter Bär. Kraftvoll und grimmig. In seiner Tiergestalt konnte es der Krieger mit jedem heimischen Grizzly aufnehmen. Nur eben nicht mit Hel, die nicht einmal den Kopf wandte, als sie Rango mit einer beiläufigen Handbewegung zurückschleuderte.

Die Luft zwischen der Totengöttin und dem heranstürmenden Berserker flimmerte, dann wurde Rango von der magischen Entladung getroffen, wie von der Faust der Riesin Modgud. Gleich einem Geschoss jagte der massige Bär dicht über den Boden hinweg, schlug wie ein Komet in eine der Jurten, die über ihm zusammenfiel und den Krieger unter sich begrub.

Asbirg und Jolante konnten gerade noch zur Seite springen. Sie schienen unschlüssig, ob sie ebenfalls angreifen sollten. Rangos männliche Gefährten legten dahingehend weniger Zurückhaltung an den Tag und stürzten sich zu zweit von der anderen Seite auf die Totengöttin und ihren kalbsgroßen Höllenhund. Und auch sie wurden von Hel hinweggefegt, ohne dass Garm im Schritt innezuhalten brauchte. Schnurstracks trottete er auf Lykkes Jurte zu, was ihre Ahnung bestätigte, dass es Hel allein auf sie, die Schamanin, abgesehen hatte.

Das zeigte schon allein ihr Blick, der förmlich an Lykke zu kleben schien. Die Lippen hatte die Totengöttin zu einem faunischen Grinsen verzogen. Selbst ihr Gebiss war zweigeteilt. Eine Hälfte bestand aus beige und braun verfärbten Zahnstummeln, die andere war annähernd makellos, abgesehen von dem frischen Blut, das die Zwischenräume füllte.

Noch trennten Hel und Lykke knapp zehn Schritte, als ein weiterer Angriff auf die Totengöttin erfolgte. Von einer Seite, die selbst die Schamanin nicht erwartet hatte, obwohl sie es hätte ahnen müssen. Eine zierliche, in Pelze gehüllte Gestalt versperrte Hel und ihrem Höllenhund den Weg.

Das schwarze Haar flatterte wie eine Fahne im Wind, das Gesicht eine Miene grimmiger Entschlossenheit, in den Händen hielt sie einen Speer.

Katta!

Letzten Sommer erst elf Jahre alt geworden und noch sieben Jahre und einen Berserkergang davon entfernt, eine echte Bärenhäuterin zu werden, weshalb ihre Kleidung auch aus Karibu-Pelzen bestand. Was sie nicht davon abhielt, Garm die Spitze ihres Speeres dicht vor die Nase zu halten.

Mit dem, was daraufhin geschah, hätte selbst Lykke nicht gerechnet.

Garm blieb stehen.

Und fletschte die Zähne.

Katta erwiderte die Geste, indem sie ihr kindliches Gebiss bleckte – und Garm die Spitze ihres Speers in die empfindliche Nase rammte.

Der Höllenhund heulte, bäumte sich auf und warf den Kopf in den Nacken. Feuer und Schwefeldampf stoben aus Rachen und Nüstern.

»He, wohl verrückt geworden, wie?«, ließ sich Hel vernehmen, die Mühe hatte, sich auf dem Rücken ihres Reittieres zu halten.

Garm schickte sich an, Katta umzureißen, doch die ging bereits zum nächsten Angriff über und setzte nach. Als der Höllenhund zuschnappte, stand das Mädchen längst nicht mehr an Ort und Stelle. Geduckt huschte es an der Flanke der Bestie vorbei und rammte ihr den Speer in den linken Hinterlauf.

Das Ergebnis war ein schmerzvolles Jaulen.

Garm tat einen Satz zur Seite. Katta wurde der Speer aus den Händen gerissen. Das Mädchen strauchelte, doch der Höllenhund bekam keine Gelegenheit, sich auf das Kind zu stürzen. Asbirg und Jolante richteten sich auf und hieben mit den Pranken zu.

Hel brachte sich mit einem Sprung in Sicherheit. Lykke konnte der Bewegung kaum mit den Augen folgen, so schnell zog die Totengöttin die Beine an, stieß sich mit ihren nackten Füßen ab und katapultierte sich von dem Rücken des Höllenhundes.

Wie von der Sehne geschnellt, raste sie in den wolkenlosen Himmel, vollführte einen Salto und prallte dicht vor Lykke auf den Boden. Die Erde erzitterte, und es gab keinen Berserker, egal ob Mensch oder Bär, der sich noch auf den Beinen halten konnte.

Selbst Lykke wurde zu Boden geworfen.

Katta war am schnellsten wieder auf den Beinen. Mit einem Ruck riss sie ihren Speer aus Garms Hinterlauf, der von Asbirg und Jolante festgehalten wurde und sich nicht rühren konnte. Das Mädchen aber wirbelte herum und schleuderte den Speer auf Hel, die nur den Arm auszustrecken brauchte, um die Waffe abzufangen, die in ihrer Faust zersplitterte.

Katta indes wurde von einer unsichtbaren Kraft angehoben und flog wie an der Schnur gezogen in Hels Arm. Langsam drehte sich die Totengöttin zu Lykke um, strich dem Mädchen mit der verfaulten Hand durch das Haar. Katta verzog vor Abscheu das Gesicht.

Die restlichen Berserker, schon im Begriff, sich geschlossen auf Hel zu stürzen, hielten in der Bewegung inne. Auch, weil Lykke beschwichtigend die Arme hob.

»Lass Katta gehen!«

Hel neigte den Kopf, um das Profil des Mädchens zu betrachten. »Kommt drauf an.«

»Worauf?«

»Ob wir jetzt endlich in Ruhe reden können.«

Lykke beugte sich vor. »Ich wüsste nicht, was wir zu besprechen hätten, Totengöttin!«

Hel zog eine Grimasse. »Selbstverständlich nicht, denn dann hätte ich mir den Weg ja sparen können, weil ... ach, vergiss es. Ich bin hier, weil ich deine Hilfe gebrauchen könnte.«

»Du? Erwartest Hilfe? Von uns? Indem du Katta als Geisel nimmst und unser Lager verwüstest?«

»Ich habe mich nur verteidigt. Wäre ich zum Kämpfen hier, hätte ich meine Sense mitgebracht, und ihr alle wärt längst tot. Außerdem halte ich Katta nicht als Geisel, ich verhindere bloß, dass mir der kleine Kampfzwerg in den Rücken fällt.«

»Lass mich los, und ich zeige dir, wer hier der Zwerg ist!«

»Ist sie nicht entzückend?« Hel zerwühlte Katta das Haar. Schmutzig weiße Maden blieben darin hängen. Das Mädchen würgte. »He, nicht auf mein Totenhemd reihern. Los, verzieh dich.«

Die Totengöttin stellte Katta ab und gab ihr einen Klaps auf den Hintern. Mit geballten Fäusten wirbelte das Mädchen herum.

»Katta!«, ermahnte Lykke. »Lass uns allein!«

»Aber ...«

»Sofort!«

»Na gut, aber wenn sie was Dummes anstellt, zieh ich ihrem Köter das Fell über die Ohren.«

Zornig stapfte sie von dannen.

Hel blickte ihr nach, dann wandte sie sich wieder an Lykke. »Die Kleine ist mutig. Oder bloß dämlich? Weißt du, an wen sie mich erinnert?«

»Interessiert mich nicht. Nenn mir nur einen Grund, weshalb ich dir helfen sollte.«

»Kein Problem. Ist dieselbe Antwort wie auf meine vorherige Frage.«

»Wie lautet sie?«

»Denise Curtis.«

Einige Zeit zuvor, in einer anderen Welt

Kein Sonnenstrahl durchbrach die neblige Finsternis.

Hier, an diesem Ort, herrschte ewige Dunkelheit, lediglich erhellt vom fahlen Schein der Irrlichter die zwischen den knorrigen schwarzen Bäumen tanzten. Das wenige Laub, das an ihren weitestgehend kahlen Ästen hing, war dunkelbraun und faulig. Ebenso wie der matschige Boden, in dem die vermoderten Überreste menschlicher Leichen ruhten. Tot aber nicht leblos.

Sobald jemand den Wald betrat, begannen sich die Toten zu regen, wühlten sich aus dem vergammelten Laub und tasteten nach den ungebetenen Besuchern, um sie zu sich in ihr dunkles, feuchtes Reich zu ziehen und sich an ihrem warmen Fleisch zu laben.

Wie jetzt auch.

Nur mit dem Unterschied, dass das Fleisch dieser Besucherin alles andere als warm war. Was die knöcherne Klaue jedoch nicht davon abhielt, sich einer Fußangel gleich um den nackten weißen Knöchel zu schließen und zuzudrücken.

Ein halb vermoderter Schädel, an dessen Gebein noch die lappigen Überreste verwesenden Fleisches hafteten, schob sich aus dem Boden. In den Augenhöhlen tummelten sich die Maden. Das schrundige Gebiss öffnete sich, um sich in das Fleisch seines vermeintlichen Opfers zu wühlen.

Dazu sollten es jedoch nie kommen.

Die gekrümmte, rasiermesserscharfe Klinge einer Sense, auf der sich der Schein eines Irrlichts brach, fuhr herab und bohrte sich durch die Schädeldecke in den Kopf des Untoten, der aufbrach und innerhalb von Sekunden zu stickender Schlacke zerfiel.

Hel rümpfte die Nase und schüttelte die Reste der Totenhand von ihrem Bein. Was ein zweiter Zombie zum Anlass nahm, nach ihrem linken zu Fuß zu tasten.

»Und schon weiß ich wieder, warum ich so selten in den Wald gehe«, murmelte die Totengöttin, lehnte die Sense an einen Baum und zog stattdessen ihr Messer Sultr aus der Gürtelscheide.

Hel bückte sich, griff in das dünne Haar des Untoten und stach ihm die milchig weißen Augen aus, ehe sie sie den Kopf mit einem Streich abtrennte, in die Höhe warf und mit einem gezielten Tritt in die Dunkelheit beförderte.

Dann rief sie erneut nach dem vermaledeiten Balg. »Komm schon, Kindchen. Komm zu Mama!«

Hel blieb stehen, schob Sultr zurück in Scheide und stemmte die Fäuste in die Hüften.

Auf eine Antwort wartete sie vergebens. Natürlich. Aber sie war ja nicht allein. Abgesehen von ihrer Magd Ganglot und ihrem Knecht Ganglati, die einige Dutzend Meter entfernt durch das Unterholz stapften und dabei grunzten und schnauften wie eine Rotte Wildschweine, befand sich noch Garm in der Nähe.

Der Höllenhund fand die durch das Erdreich kriechenden Zombies aber offenbar viel interessanter als das verschwundene Kind, das sie Lykaons Tochter aus dem Wanst geschnitten hatte. Garm lag mit der Brust auf dem Boden, in dem der massige Kopf des Höllenhundes fast gänzlich verschwunden war. Nur das Hinterteil ragte in die Höhe, die Rute peitschte wild hin und her, was nur wegen seines schmutzig weißen Pelzes zu erkennen war.

Garm knurrte und zerrte schließlich einen zappelnden Zombie aus dem Erdreich, den er mit wenigen Bissen zermalmte.

Hel schnaubte. »Ich hab dich nicht zum Spielen mitgenommen, du räudiges Vieh! Such das Balg! Los!«

Ihr vierbeiniger Begleiter zögerte, richtete sich auf und blickte abwechselnd von dem zerbissenen Kadaver zu Hel und wieder zurück zu dem Zombie.

»SOFORT!«, schrie die Totengöttin.

Garm winselte und jagte los. Schon nach wenigen Sätzen blieb er stehen, stemmte sich mit den Vorderpfoten an die rissige Borke eines Baumes mit üppig verzweigter Krone und bellte.

Hel schulterte die Sense, trat näher und legte den Kopf in den Nacken.

Sie verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. Kroch da nicht etwas Helles durch das Geäst? Wie eine nackte Spinne von der Größe eines Kürbisses.

Das Knacken von Ästen und Zweigen – oder Knochen? – erklang hinter der Totengöttin. Ganglot und Ganglati stapften aus dem Dickicht und gesellten sich zu ihrer Herrin, die sie beinahe um doppelte Körperlänge überragten. Ganglot, ein runzeliges Weib mit verfaulten Zähnen und eitrigen Geschwüren, grunzte.

Hel nickte. »Ja, schätze schon, dass er es ist. Oder sie. Ach, was soll's?« Sie trat dichter an den Baum heran. »Hey, Kindchen. Komm zu Mama!«

Das verdammte Balg dachte nicht mal im Traum daran. Es brabbelte vergnügt vor sich hin, während es auf allen vieren auf einen Ast kroch, von dem aus es bequem die Nachbarkrone erreichen konnte.

»Oh nein«, zischte Hel. »So haben wir aber nicht gewettet. Ganglati!«

Blitzschnell huschte die Totengöttin unter den Ast, rammte die Sense mit dem Griff voran ins Erdreich und streckte die Arme fangbereit aus. Gerade rechtzeitig, denn soeben traf Ganglatis wuchtiger Tritt den Stamm. Der Baum erzitterte, die Krone schüttelte sich, doch das Kind blieb oben.

Selbst ein zweiter und dritter Tritt vermochten es nicht aus dem Geäst zu schütteln.

»Das darf ja wohl nicht wahr sein!«, zischte Hel, packte die Sense, und wandte sich zu dem Stamm um. »Weg da!«, knurrte sie ihren Knecht an, der bereits zu einem weiteren Tritt ausgeholt hatte.

Als er seine Herrin mit der Sense auf sich zukommen sah, überlegte er es sich anders und gesellte sich zu Ganglot. Nur Garm sprang aufgeregt um Hel herum, bis sie ihn mit einem scharfen Befehl zur Räson brachte. Durch einen Blick über die Schulter vergewisserte sie sich, dass das Balg noch an Ort und Stelle war, dann schlug sie zu.

Das Sensenblatt fuhr, begleitet von einem singenden Geräusch, durch den meterdicken Stamm wie durch Butter. Langsam glitt der Baum die schräge Schnittfläche entlang, neigte sich nach vorne und krachte zwischen zwei weiteren Stämmen zu Boden.

Das Balg kreischte und schoss wie ein geölter Blitz aus der Krone, krabbelte in Windeseile auf den nächstgelegenen Baum zu.

Hel grinste schief. »Garm! Fass!«

Der Höllenhund schien auf diesen Befehl nur gewartet zu haben. Geifernd spurtete er los. Das Kind versuchte zu entkommen. Zwei Sekunden später zappelte es zwischen den Kiefern Garms, der knurrend den Kopf schüttelte.

»Garm! Aus!«

Wieder gehorchte der riesige Hund aufs Wort. Er ließ das Baby fallen und setzte sich auf die Hinterläufe. Das Balg aber wälzte sich benommen im Dreck.

An einem Bein zog Hel es in die Höhe und reichte es Ganglot. »Bring es zurück nach Eljudnir und sperr es ein.«

Die Magd grunzte.

»Dann muss der Käfig eben stabiler sein als der letzte. Kann doch nicht so schwer sein, verflixt noch mal.«

Ganglot nickte. Sie ergriff das kopfüber in Hels Hand hängende Balg. Deutlich waren seine Geschlechtsorgane zu sehen, die es als Hermaphroditen kennzeichneten, als Zwitter. Die Haut des Wesens war blassgrau, durchzogen mit schwarzroten Äderchen, der Kopf übergroß, die milchig trüben Augen, traten weit hervor. Sämiger Schnodder rann aus Mund und Nase.

»Wärst du nicht so ein niedlicher Schnuckiputz, würde ich dich einfach hier irgendwo verbuddeln. Oder Garm als Kauknochen überlassen.«

Hel wandte sich eben ihrem Hund zu, da heulte Ganglot qualvoll auf. Die Totengöttin seufzte, drehte sich um und sah, wie sich ihre Magd die blutende Hand hielt. Der Hermaphrodit zappelte in Ganglatis Pranken, an dessen derber Lederhaut er sich sprichwörtlich die Zähne ausbiss.

Allzu viele hatte das Balg ja noch nicht. Auch wenn die wenigen, die sich bisher zeigten, nicht zu unterschätzen waren.

»Sieh an. Da zeigt sich wohl endlich der nächste Schneidezahn. Wurde aber auch Zeit.«

Ganglots Missgeschick und die erfolgreiche Jagd auf den Hermaphroditen sorgten dafür, dass Hels Laune sich schlagartig besserte. Summend ritt sie auf Garm zurück nach Eljudnir, ihrer Festung, deren Form dem Schädel eines gigantischen Drachens glich.

Das Summen verstummte abrupt, als sie sah, dass das Fallgitter Fallandaforad nicht geschlossen war. »Warte mal. Ich bin mir sicher, dass du hinter uns zugefallen bist!«

Fallandaforad, die fallende Gefahr, schüttelte sich. Es schepperte, rasselte und klirrte. Hel schwante Übles. Ihre dunkle Ahnung fand sich kurz darauf bestätigt, als sie den Hauptsaal der Festung betrat, der von dem Tisch Hungr dominiert wurde. Im Kamin prasselte ein Feuer, die Fackeln an den Wänden hinterließen bizarre Schatten an dem groben Mauerwerk.

Auf dem Thron aus ineinander verschlungenen Leibern toter Menschen saß eine Gestalt, deren schwarzblauer Körper beinahe mit den zuckenden Schatten verschmolz. Die schwarzen Haare bewegten sich mit leisem Knistern, als führten die Strähnen ein Eigenleben. Sie waren das Einzige an dieser Gestalt, das erkennen ließ, dass Hel es nicht mit einer Statue zu tun hatte.

Die Lider hingegen waren geschlossen.

Schlief die ungebetene Besucherin?

Hel glitt von Garms Rücken, der unwillkürlich zurückwich und ein leises Winseln ausstieß. Die Totengöttin packte seine Schnauze und legte den Finger an die Lippen. Dann wedelte sie aufgeregt mit der Hand. Ganglot und Ganglati schlurften hinterdrein in die Festung.

Während Ganglati sich des Kleinkindes angenommen hatte, trug Ganglot Hels Sense. Als sie die Besucherin erblickten, erstarrten sie, nur um gleich darauf annähernd lautlos weiterzugehen.

»Ich lasse dir eine Menge durchgehen, meine Tochter. Aber halte mich nicht zur Närrin!«

Hel versteinerte regelrecht bei dem klirrenden Klang der Worte, die aus dem Mund der Besucherin drangen. Dann hatte sich die Totengöttin wieder im Griff.

»Willkommen in meinem Reich, Große Mutter!«

Die Fackeln flackerten, als sich Lilith erhob und um den Tisch herumglitt, der aufgeregt mit den Beinen stampfte, was womöglich an dem tiefen Kratzer lag, den der gekrümmte schwarze Nagel der Großen Mutter im hölzernen Fleisch der Tafel hinterließ. Umgehend füllte er sich mit schwarzrotem Blut. Wie alles in Helheim, so war auch Hungr auf eigentümliche Art und Weise am Leben.

Aus dem Augenwinkel bemerkte Hel, wie Ganglot, Ganglati und Garm vor Lilith zurückwichen. Nur sie selbst blieb stehen. Mühelos hielt sie dem eiskalten Blick aus den gletscherblauen Augen stand.

»Wie ich sehe, entwickelt sich das Kind prächtig!«

»Das Kind ist eine scheußliche Plage. Hätte ich gewusst, wie aufmüpfig es ist, hätte ich mich niemals darauf eingelassen.«

Lilith lachte leise. Es hörte sich an wie das Zischeln hunderter Schlangen.

»Es ist ein Hermaphrodit. Überaus machtvoll.«

»Überaus nervtötend trifft es eher. Aber deshalb wirkt meine Magie wohl auch nicht bei ihm.«

»Du hast es erfasst. Was glaubst du, weshalb ich ihn dir und nicht einem meiner Engel der Unzucht und Hurerei anvertraut habe.«

»Aha, darum geht es also. Es ist eine Bestrafung. Darf ich fragen, wofür?«

Die Große Mutter glitt um Hel herum und legte ihrer Tochter von hinten die Hände auf die Schultern. Die Fackeln erloschen, nur das Feuer im Kamin brannte weiter. Von den Bediensteten und Garm fehlte jede Spur.

»Keine Bestrafung, mein Kind. Eine Erinnerung. Daran, wem du Loyalität schuldest.«

Lilith brachte ihre Lippen dicht an Hels weißes, unversehrtes Ohr. Die Totengöttin erschauerte und die Große Mutter fuhr fort: »Darüber hinaus ist es aber auch ein Vertrauensbeweis. Wenn das Kind irgendwo vor den Nachstellungen von Pandora, dem Spuk und Luzifer sicher ist, dann doch wohl hier. Unter der Weltenesche Yggdrasil.«