John Sinclair 2354 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2354 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Das Erwachen war grausam. Pete "Porky" Russo hörte sich selbst stöhnen. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an, hinter den Schläfen pochte und wummerte es, das Gehirn schien in Watte gepackt.
So viel hatte er doch gar nicht getrunken. Nicht mal eine Flasche. Nur ein paar Schlucke für die nötige Bettschwere, auch wenn es schon ziemlich lange her war, dass Porky in einem richtigen Bett geschlafen hatte. Als Obdachloser durfte er, was seine Unterkünfte betraf, ohnehin nicht wählerisch sein. Da kam es schon mal vor, dass man sich am nächsten Morgen erst einmal sortieren musste.
Und dann waren da noch die grässlichen Schmerzen in Armen und Beinen. Russo hob die Lider. Und schloss sie gleich darauf wieder. Gleißendes Licht blendete ihn. Er blinzelte, hob den Arm, um die Augen abzuschirmen. Das heißt, er wollte ihn anheben. Doch das war nicht möglich. Alles, was sich bewegte, war der Stumpf, der von seinem rechten Arm übrig geblieben war ...


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Inhalt

Cover

Der Aufräumer von Hackney

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Der Aufräumervon Hackney

Von Ian Rolf Hill

Das Erwachen war grausam. Pete »Porky« Russo hörte sich selbst stöhnen. Seine Kehle fühlte sich rau und trocken an, hinter den Schläfen pochte und wummerte es, das Gehirn schien in Watte gepackt.

So viel hatte er doch gar nicht getrunken. Nicht mal eine Flasche. Nur ein paar Schlucke für die nötige Bettschwere, auch wenn es schon ziemlich lange her war, dass Porky in einem richtigen Bett geschlafen hatte. Als Obdachloser durfte er, was seine Unterkünfte betraf, ohnehin nicht wählerisch sein. Da kam es schon mal vor, dass man sich am nächsten Morgen erst einmal sortieren musste.

Und dann waren da noch die grässlichen Schmerzen in Armen und Beinen. Russo hob die Lider. Und schloss sie gleich darauf wieder. Gleißendes Licht blendete ihn. Er blinzelte, hob den Arm, um die Augen abzuschirmen. Das heißt, er wollte ihn anheben. Doch das war nicht möglich. Alles, was sich bewegte, war der Stumpf, der von seinem rechten Arm übrig geblieben war ...

Hätte ich zu Beginn dieses Falles geahnt, was mich und meine Freunde erwartete, wäre ich mit Sicherheit nicht so gelassen gewesen, als ich an diesem Montagmorgen das Büro betrat.

Allein, denn mein Freund Suko hatte auf Anweisung von Christina Dick einen Friedhof observiert, auf dem eine Gruppe Satanisten angeblich den Teufel beschwören wollte.

Damit wir nicht beide am Montagmorgen in den Seilen hingen, beziehungsweise den Vormittag freinehmen mussten, um unsere vorgeschriebenen Ruhezeiten einzuhalten, war ich auf Abruf zu Hause geblieben.

Dass Suko sich nicht alleine hatte die Nacht um die Ohren schlagen müssen, hatte er unserem Freund Chiefinspektor Tanner zu verdanken, der ihm Constable Fiona Garrett ausgeliehen hatte. Wir hatten bereits öfter mit ihr zusammengearbeitet, sie war eine fähige Ermittlerin und eine gute Polizistin. Ihr einziger Fehler, wenn man es denn so nennen wollte, war ihre nassforsche Art und ihre Skepsis gegenüber dem Übernatürlichen.

Mir ging sie bisweilen ein wenig auf die Nerven, aber Suko kam gut mit ihr aus. Deshalb war mein schlechtes Gewissen auch nicht zu ausgeprägt, als ich, bewaffnet mit einer Tasse von Glendas weltberühmten Muntermacher, unser gemeinsames Büro betrat.

Beim Öffnen der Tür vernahm ich bereits das charakteristische Klickern der Laptop-Tastatur. Suko, der alte Streber, saß vor seinem Schreibtisch und hämmerte den Bericht in die Tasten. Trotz der Müdigkeit, die ihm ins Gesicht geschrieben stand.

»Guten Morgen«, begrüßte ich ihn gut gelaunt.

Mein Partner reagierte kaum und murmelte nur irgendetwas Unverständliches in seinen nicht vorhandenen Bart. Seltsam, er war doch sonst nicht so ein Morgenmuffel. Andererseits musste er sich ansonsten auch nicht die Nacht um die Ohren schlagen. Für nichts und wieder nichts, denn hätte wirklich etwas hinter der Satanisten-Geschichte gesteckt, hätte ich längst davon erfahren.

Um des lieben Friedens willen beschloss ich, meinem Kollegen vorerst nicht mit meiner guten Laune auf den Wecker zu fallen, und ging zu meinem Platz.

Wie vor eine Wand gelaufen, blieb ich stehen. Den Anblick, der sich meinen Augen bot, musste ich erst einmal verdauen. Ähnlich wie beim Betreten meiner Wohnung, so hatten mich auch in meinem Büro schon viele mehr oder weniger unangenehme Überraschungen erwartet.

Es hätte mich daher nicht gewundert, wenn Fiona Garrett auf meinem Platz gesessen hätte, um Suko beim Verfassen des Berichtes zu helfen. Doch es war nicht Fiona.

Es sei denn, sie hätte sich in ein Huhn verwandelt.

Das Federvieh saß mit untergeschlagenen Beinen auf meinem Schreibtischstuhl und glotzte mich aus großen, starren Vogelaugen an.

Auf dem Tisch selbst, genauer gesagt, auf dem zugeklappten Laptop, stand eine Schale mit den Überresten eines trockenen Müslis.

»Suko?«

»Hm ...«

»Da sitzt ein Huhn auf meinem Stuhl!«

Er hob den Kopf und machte den Hals lang.

»Tatsächlich«, erwiderte er erstaunt. Langsam wandte er mir sein Gesicht zu, schüttelte leicht das Haupt und riss die Augen auf. »John! Wo kommst du denn so plötzlich her?«

»Von zu Hause, du Knalltüte«, erwiderte ich mürrisch. Ich ahnte, dass dieser Scherz auf meine Kosten ging. »Ich musste mit der Tube fahren, weil du unbedingt den Dienstwagen nehmen wolltest.« Ich fletschte die Zähne. »Wolltest wohl Eindruck schinden bei Garrett, wie?«

Doch so leicht ließ sich mein Freund nicht aus der Reserve locken.

»Sonderbar. Ich hätte schwören können, dass du schon seit einer Stunde im Büro bist. Und ich hatte mich schon gewundert, warum du so eifrig auf deinem Laptop herumgehackt hast. So bemüht fleißig bist du sonst ja auch nicht.«

»Hach, was sind wir wieder witzig am frühen Morgen.«

Mein Partner grinste wie ein Honigkuchenpferd. »Du musst aber zugeben, dass das Huhn deinen Büroschlaf mindestens ebenso perfekt beherrscht.«

»Außerdem legt es leckere Eier«, erklang hinter mir die Stimme unserer Assistentin Glenda Perkins. »Was man von dir übrigens nicht behaupten kann.«

Ich warf einen Blick über die Schulter. »Du also auch? Hätte ich mir ja denken können, dass du da mit drinsteckst. Kam mir gleich so verdächtig vor.«

»Was kam dir verdächtig vor?«

»Dass du so freundlich warst, als ich ins Büro gekommen bin. Sonst lächelst du ja auch nicht.«

»Schuft«, erwiderte Glenda. »Suko, legst du bitte bei Sir James ein gutes Wort für das Huhn ein? Vielleicht können wir es behalten. Anstelle von John.«

»Von mir aus«, antwortete mein Partner. »Kommt für mich auf dasselbe raus.«

»Ja, macht euch nur lustig über mich. Aber ihr kommt auch noch auf mein Scheißhaus Wasser trinken.«

»Zunächst einmal sollt ihr zu Sir James kommen«, sagte Glenda. »Und zwar sofort.«

»Na wunderbar«, murmelte ich. »Und das noch vor dem ersten Kaffee.«

»Den kannst du ja vorher herunterstürzen«, schlug Suko vor und deutete mit dem Kinn auf den Vogel. »Nimmst du bitte das Huhn mit?«

Entgeistert starrte ich meinen Freund an. »Wie bitte? Das ist ja wohl nicht dein Ernst.«

Suko seufzte und verdrehte die Augen. »Puh, von mir aus. Was sind wir heute wieder empfindlich.« Der Inspektor schnappte sich das Federvieh und wollte sich umdrehen. Mitten in der Bewegung verharrte er. »Wow, sieh dir das an, John! Es hat tatsächlich ein Ei gelegt.«

»Du spinnst doch. Das hast du vorher drunter gelegt, du Vogel.«

Grinsend drehte er sich zu mir um und hielt mir das Tier vor die Nase. Es glotzte und stupste mich mit dem Schnabel an.

»Ob du es glaubst oder nicht, aber in diesem Fall bin ich unschuldig.«

»Dann war es eben Glenda. Spielt doch keine Rolle. Ab in den Sack und Knüppel drauf ...«

»Untersteh dich«, rief Glenda. »Das arme Tier.«

»Ich sprach nicht von dem Huhn, sondern von euch beiden«, stellte ich klar. »Verratet ihr mir jetzt endlich, was dieses garstige Federvieh hier verloren hat?«

»Garstiges Federvieh?«, echote Suko und wandte sich an das Huhn. »Hör nicht auf den grantigen alten Mann. Du bist überhaupt nicht garstig, sondern ein niedliches, kleines ...«

Ein weißer Klecks landete auf Sukos Schuhspitze.

»... Mistvieh, das heute Abend in den Suppentopf kommt.«

Ich lachte. »Das kommt davon, wenn man seinen Kollegen unbedingt seltsame Streiche spielen will.«

»Das ist kein Streich!«, entgegnete mein Partner im Brustton der Überzeugung. »Dieses Tier ist ein wichtiger Zeuge.«

Suko schloss die Lider und hob die Nasenspitze an. Dann klemmte er sich das Huhn unter den Arm und machte sich auf den Weg zu unserem Vorgesetzten.

Kopfschüttelnd folgte ich meinem Freund. »Das hier ist doch ein Irrenhaus!«

»Mein lieber Inspektor, ich hoffe, Sie haben einen guten Grund dafür, ein Huhn mit in mein Büro zu bringen.«

Superintendent Sir James Powell starrte das Federvieh vor sich auf dem Schreibtisch an. Mindestens ebenso entgeistert wie ich kurz zuvor. Durch die eulenartig vergrößerten Augen hinter den dicken Brillengläsern wirkte die Szenerie noch absurder, als sie ohnehin schon war. Mit den starren Vogelaugen machte das Huhn den Eindruck, als wollte es unseren Chef imitieren.

»Selbstverständlich, Sir«, erwiderte Suko, der eben dabei war, sein Schuhwerk mit Hilfe eines angefeuchteten Taschentuchs vom Hühnerkot zu säubern.

Ich saß neben meinem Freund und Kollegen und genoss die ersten Schlucke von Glendas Kaffee, während ich Sukos Ausführungen lauschte. Froh, dass ich zur Abwechslung mal nicht derjenige war, der Rede und Antwort stehen musste.

»Commissioner Dick hat mich und Constable Garrett dazu abgestellt, einen Friedhof zu observieren, auf dem angeblich schwarze Messen stattfinden. Wir haben eine Gruppe jugendlicher Möchtegern-Satanisten daran gehindert, das Tier im Rahmen ihrer Teufelsbeschwörung zu opfern.«

»Und die Jugendlichen?«

»Entkommen. Die waren schneller weg, als John bei Feierband.«

Dafür hatte ich nicht mal ein müdes Lächeln übrig.

»Nun ja, bis auf einen. Constable Garrett hat einen der Satanisten gestellt«, fuhr Suko fort. »Der hat seine Freunde schon verpfiffen, bevor wir die erste Frage stellen konnten.«

»Und was hast du so lange getan, während Fiona den Jungen verhaftet hat?«

»Es war ein Mädchen, du Schlauberger. Und ich habe mich natürlich um das Huhn gekümmert. Das arme Tier stand völlig unter Schock.«

Ich zog eine Braue nach oben und hörte Sir James seufzen. »Also mal wieder falscher Alarm. Aber wie ich feststellen muss, tun Ihnen solche Einsätze nicht gut, Inspektor.«

»Offenkundig«, murmelte ich in den Kaffeebecher, bevor ich einen weiteren Schluck trank.

»Deshalb werde ich den Commissioner bitten, dass Sie in Zukunft solche Observierungen übernehmen, John!«

Prompt verschluckte ich mich. Sukos leises Lachen ging in meinem mittelschweren Hustenanfall unter.

Sir James wartete geduldig, bis ich mich wieder gefangen hatte. Leider war ich noch nicht in der Lage, mich verbal zu dieser Schnapsidee zu äußern.

»Da das nun geklärt wäre«, fuhr der Chef fort, »können wir ja nun zu meinem eigentlichen Anliegen kommen. Es geht um das Verschwinden mehrerer Obdachloser in Hackney. Ich nehme an, der Name sagt Ihnen etwas?«

»Sicher.« Suko nickte. »Ein Stadtteil von London. Nordöstlich der City gelegen. Galt lange Zeit als das Armenhaus von London. Als mit Beginn der Industrialisierung mehr und mehr Arbeiter nach London kamen und die Stadt immer weiter wuchs, wurde auch Hackney besiedelt. Vorher handelte es sich größtenteils um unbebautes Ackerland. Allerdings haben sich in Hackney nur die Ärmsten der Armen eingefunden. Im Zweiten Weltkrieg wurde Hackney dann größtenteils zerbombt und mit eingeschossigen Klinkerhäusern wieder aufgebaut. Lange Zeit blieb Hackney trotzdem weitestgehend unbeachtet. Von der Stadt selbst, aber auch von den Touristen. Hinzu kam, dass die Häuser lange Zeit als unverkäuflich galten, bis Künstler und Galeristen sie für sich entdeckten. Seitdem gehört Hackney zu den aufstrebenden Künstlervierteln und wird hinter vorgehaltener Hand sogar als das neue Montmartre von London bezeichnet.«

Sprachlos starrten Sir James und ich den Inspektor an. Nur das Huhn gackerte leise.

»Darf ich erfahren, weshalb Sie so gut über den Stadtteil informiert sind?«, erkundigte sich der Superintendent.

»Das möchte ich jetzt aber auch gerne wissen«, fügte ich hinzu.

Suko versuchte gar nichts erst, einen Hehl aus seinem Triumph zu machen.

»Ganz einfach, bei den Conollys fand vor Kurzem eine kleine Jubiläumsfeier zum erfolgreichen Bestehen der ›Stiftung zur Unterstützung der Opfer von schwarzmagischen Angriffen‹ statt.«

»Ist euch da nicht endlich ein etwas griffigerer Name eingefallen?«

Der Inspektor winkte ab. »Auf jeden Fall habe ich mich dort ein wenig länger mit Melody Swan unterhalten. Einige ihrer Klienten leben in Hackney.«

»Melody Swan«, murmelte Sir James. »Das ist doch diese Sozialarbeiterin mit den Ghouls, nicht wahr?«

»Die Streetworkerin, die uns auf eine Sippe von Ghouls aufmerksam gemacht hat«, präzisierte ich*. »Aber ja, das ist sie. Marisa war so pfiffig, sie für die Stiftung zu rekrutieren.«

»Mit der möchte ich mich bei Gelegenheit auch mal gerne unterhalten«, sagte Sir James. »Wie ich hörte, leistet Miss Douglas dort sehr gute Arbeit.«

»Das tut sie«, pflichtete Suko unserem Chef bei. Er hatte Marisa ein wenig unter seine Fittiche genommen. Er kannte sie deutlich besser als ich. Die beiden hatten damals einen teuflischen Tätowierer zur Strecke gebracht, während ich mit Jane Collins in der Slowakei Vampire gejagt hatte und mit dem Geist der Blutgräfin Erzsébet Báthory aneinandergeraten war.

»Was genau ist denn in Hackney vorgefallen, Sir?«, lenkte ich das Gespräch zurück auf das eigentliche Thema.

Bevor er antwortete, trank Sir James einen Schluck von seinem kohlensäurefreien Wasser.

»Es sind mehrere Obdachlose verschwunden. Wir kennen weder die genaue Anzahl, noch wissen wir, was genau mit ihnen passiert ist.«

»Also keinerlei Hinweise?«, hakte ich nach.

»Nein. Da wir nicht mal die Anzahl der Vermissten kennen, kann ich Ihnen auch nicht sagen, seit wann dort Menschen verschwinden.«

»Das heißt, es gibt keine offiziellen Vermisstenmeldungen?«

Sir James schüttelte den Kopf. »Sie wissen selbst, wie misstrauisch die Obdachlosen gegenüber der Polizei sind.«

Suko und ich wechselten einen knappen Blick. Mein Freund hatte das Huhn wieder auf seinem Schoß abgesetzt und streichelte gedankenverloren sein Gefieder.

»Bei allem Respekt, Sir. Aber wie kommen Sie dann darauf, dass das ein Fall für uns sein könnte?«, fragte der Inspektor. »Oder das überhaupt ein Verbrechen vorliegt?«

»Um ehrlich zu sein, wissen wir das auch nicht. Aber es gibt Gerüchte.«

»Was für Gerüchte?«

»Haben Sie schon einmal von dem Aufräumer von Hackney gehört?«

Ich hob die Brauen. »Aufräumer von Hackney? Wer soll das sein? Der neue Star am Influencer-Himmel? Ein Lifestyle-Coach, der den Leuten zeigt, wie sie zu Hause für Ordnung sorgen und ihre Socken platzsparend zusammenlegen können?«

»Wenn ja, dann sollte er mal bei dir vorbeischauen. Shao meinte ...«

»Nein, meine Herren«, unterbrach uns Sir James brüsk. Selbst das Huhn zuckte zusammen. »Der Aufräumer von Hackney ist, oder besser gesagt war, ein Serienmörder, der das Viertel von Obdachlosigkeit und Armut säubern wollte.«

»Indem er Obdachlose tötete?«

Sir James nickte.

»Und wann soll das gewesen sein?«

»Vor ziemlich genau achtzig Jahren.«

»Und jetzt glauben Sie, dass dieser Aufräumer von Hackney zurückgekehrt ist?«

»Ich glaube gar nichts. Aber wie gesagt, es gibt Gerüchte. Und zwar von einer Gestalt, die nach Leichen stinkt.«

Mit einem Schlag fiel sämtliche Nonchalance von uns ab. Plötzlich waren wir wie elektrisiert. Nach Leichen stinkende Gestalten, die im Zusammenhang mit spurlos verschwunden Leuten standen, deuteten auf eine ganz bestimmte Abart der Dämonen hin.

»Ein Ghoul!«, hauchte Suko.

»Eben das sollen Sie herausfinden. Sie erwähnten da eben diese Streetworkerin, Miss ...«

»Swan«, half ich aus.

»Genau, vielleicht kann Sie Ihnen helfen, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen.«

Ich verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Wieso ausgerechnet jetzt? Eben erzählten Sie uns noch, dass Sie keine Ahnung haben, wie viele Obdachlose überhaupt verschwunden sind, geschweige denn seit wann. Und plötzlich machen Sie so einen Wirbel?«

Sir James lächelte mokant. »Ich hatte gehofft, dass Sie das fragen. Oder wenigstens, woher diese Gerüchte überhaupt stammen. Aus einem Zeitungsartikel, der am Samstag erschienen ist. Dort wird auch zum ersten Mal die stinkende Gestalt erwähnt.«

»Im Zusammenhang mit diesem Aufräumer?«, vergewisserte sich Suko.

»So ist es«, bestätigte Sir James.

»Mit dem Burschen, der den Artikel verfasst hat, sollten wir mal ein ernstes Wörtchen reden. Wie heißt der Schmierfink?«

Das Lächeln des Superintendenten wuchs in die Breite. »Bill Conolly.«

Früher

Wo ist mein Arm?

Wie hypnotisiert starrte Pete Russo, genannt Porky, auf den Stumpf, der sich langsam auf und ab bewegte. Obwohl der dazugehörige Arm fehlte, schmerzte er höllisch. Doch er war zweifelsohne verschwunden. Auf mittlerer Höhe des Oberarms einfach abgeschnitten. Davon zeugte der weiße Verband, der um den Stumpf gewickelt war.

Ein leises Wimmern drang aus Porkys Mund. Warum hatte man das getan? Hatte er einen Unfall erlitten? Er konnte sich nicht erinnern. Das Letzte, woran er sich entsann, war das vorzügliche Essen in Mathildas Suppenküche. Es hatte ungarisches Gulasch gegeben, das wusste er noch. Eine Spende von einem unbekannten Wohltäter.

Gesättigt hatte er sich zu seinem Schlafplatz in einer Seitenstraße, direkt hinter einem Müllcontainer, begeben, gar nicht weit von den London Fields entfernt. Mit sich und der Welt zufrieden, hatte er seine letzte Flasche Wermut geöffnet und sich drei große Schlucke gegönnt. Kurz darauf hatte ihn bereits ein tiefer, traumloser Schlaf übermannt.

Und dann?

Dann war er hier in diesem Loch aufgewacht. Unter einer Lampe, auf einer harten und gleichzeitig doch auch irgendwie weichen Unterlage.

Wo war er? Was war mit ihm geschehen? Woher stammten die grässlichen Schmerzen?

Porkys Jammern wurde lauter. Tränen sickerten aus seinen Augen. Er wollte sie abwischen. Doch womit? Er hatte ja keine Hand mehr. Also versuchte er es mit der Linken – und winselte vor Qualen, als die Schmerzen wie Stromstöße durch den Arm pulsierten.

Er wandte den Kopf.

Seine Augen weiteten sich in grenzenlosem Entsetzen. Auch der linke Arm war fachmännisch amputiert worden.

»Nein«, winselte Russo. »Nein, das ... das muss ein Albtraum sein. Das ... Hilfe!!!«

Sein verzweifelter Schrei erstickte in einem trockenen Husten. Das Hämmern und Pochen hinter den Schläfen wurde mit jedem Herzschlag stärker. Er brauchte dringend etwas zu trinken, er brauchte Wasser. Nur einen winzigen Schluck.

Pete Russo versuchte, sich aufzurichten. Ruckartig bewegte er den Kopf. Dabei hoben sich auch die Beine, die mindestens genau so sehr wehtaten wie die Arme. Beziehungsweise das, was von seinen Beinen noch vorhanden war. Zwei mit weißen Verbänden umwickelte Stümpfe.

Alles, was von ihm übrig war, war ein arm- und beinloser Torso, der hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken lag.

Der Obdachlose greinte.

Warum? Warum hatte man ihm das angetan? Wer hatte ihm das angetan?

Hektisch bewegte Russo den Kopf von einer Seite zur anderen, doch er konnte einfach nichts von seiner Umgebung erkennen. Alles außerhalb des Tisches, auf dem er lag, verschwamm in diffuser Dunkelheit.

»O Gott, bitte! Bitte, so ... so hilf mir doch.«

Pete Russo konnte sich nicht daran erinnern, wann der das letzte Mal gebetet hatte, doch jetzt tat er es. Er wollte sogar die Hände falten. Als das nicht funktionierte und er stattdessen von neuen Schmerzen gemartert wurde, brachen bei Porky sämtliche Dämme.

Er schrie und weinte, warf sich von einer Seite zur anderen.

Und wenn er vom Tisch fiel, was machte das schon? Er war doch sowieso kein richtiger Mensch mehr. Er war ein Krüppel, der sich nicht mal selbst den Hintern abwischen konnte.

Es war grauenhaft. Dann lieber tot.

»Ich sagte doch, er ist wach!«