John Sinclair 2362 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2362 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Seit ihrer schrecklichen Begegnung mit dem Aufräumer von Hackney plagten Marisa schlimme Albträume. Sie fühlte sich hilflos und ausgeliefert, ihre verlorenen Gliedmaßen waren in ihren Phantomschmerzen noch immer präsent.
Doch dann ergab sich eine neue Hoffnung: ein Reha-Zentrum an der abgelegenen Ostküste, geleitet von Dr. Lucius Caine, der mit revolutionärer Gentechnik menschliche Extremitäten klonen konnte.
Marisa wagte es, wieder an ein normales Leben zu glauben. Doch sie ahnte nicht, dass Caine finstere Pläne hegte, denn er war Der grausame Wissenschaftler ...


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Seitenzahl: 146

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Inhalt

Cover

Der grausame Wissenschaftler

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Der grausame Wissenschaftler

von Ian Rolf Hill

Marisa Douglas rannte um ihr Leben. Sie wusste, dass sie verloren war, wenn ihr Verfolger sie einholte. Er würde sie eiskalt umbringen. Gnade kannte er nicht, denn er war kein Mensch. Er war überhaupt kein Lebewesen, sondern eine gewissenlose Tötungsmaschine.

Zweige schlugen ihr ins Gesicht. Die Bäume und Sträucher standen so eng beieinander, dass ihre Sicht kaum zwei Meter reichte. Und mit jedem Schritt wurde der Bewuchs dichter, verfilzter.

Der verrottete Stamm tauchte wie aus dem Nichts auf. Er war mit Moos und Flechten überwachsen und lag quer vor ihr am Boden. Marisa trat mit solcher Wucht dagegen, dass ihr rechtes Bein zersplitterte. Sie brüllte vor Schmerzen!

Marisa flog über den Stamm hinweg. Sie versuchte noch, sich mit dem linken Arm abzustützen, doch er knickte weg wie ein Streichholz.

Schreiend wälzte sie sich auf den Rücken, hob den Arm, aus dessen blauschwarzem Fleisch die bleichen Knochen ragten. Die Qualen waren unerträglich. Marisa wimmerte.

Der Boden erbebte unter den näher kommenden Schritten ihres Verfolgers. Die Äste und Zweige zitterten. Bäume und Sträucher wurden zur Seite gedrückt, umgeknickt und entwurzelt.

Ein gigantischer schwarzer Schatten schob sich aus dem Dickicht, haushoch ragte er aus Marisas Perspektive vor ihr auf. Ein schwerfälliges Ungetüm in einem dunkelblauen Overall mit schneeweißer Totenschädelmaske.

Jede Bewegung wurde von surrenden Geräuschen begleitet, als würden die Gliedmaßen von zahlreichen Servomotoren betrieben.

Marisa wollte rücklings vor dem Monstrum wegkriechen, das trotz seiner Größe und Schwerfälligkeit viel schneller als die verletzte Studentin war, deren rechtes Bein ins Leere trat. Was auch kein Wunder war, denn es war verschwunden. Vollständig zersplittert.

Ein Fuß senkte sich auf Marisas Brust, presste sie auf die Erde. Sie bekam keine Luft mehr. Mit weit aufgerissenen Augen, zu völliger Tatenlosigkeit verdammt, musste sie zusehen, wie sich der Unhold zu ihr hinunterbeugte, die Hände nach ihr ausstreckte.

Hände? Nein, das waren keine Hände, sondern mechanische, wie skelettiert aussehende Klauen.

Erbarmungslos packte das Monster ihre Arme, riss sie ihr mit einem einzigen brutalen Ruck aus den Schultergelenken.

Marisa brüllte vor Schmerzen.

Aber das Monster war noch nicht fertig. Erst als es ihr auch das linke Bein herausgerissen hatte, ließ es von ihr ab. Wie eine Trophäe legte es sich das Ungeheuer über die Schulter und stapfte den Weg zurück, den es gekommen war.

Marisa blieb liegen. Wehrlos den Tieren des Waldes ausgeliefert. Ihr Blick glitt zum Himmel, der zwischen den Kronen der Bäume hindurchschimmerte.

»Emma?«, schluchzte Marisa. »Emma, bitte hilf mir. Emma!«

Doch ihre Freundin erhörte sie nicht. Dafür tauchte am Himmel ein Schatten auf. Wild mit den Flügeln flatternd senkte er sich auf sie herab, landete auf Marisas Brust.

Es war ein Rabe.

Mit kehligem Krächzen verhöhnte er sie. Marisa wollte ihn verscheuchen. Unbeholfen fuchtelte sie mit ihren Stümpfen herum. Der Rabe ließ sich davon nicht einschüchtern, hüpfte höher, auf ihr Gesicht zu. Sein Kopf ruckte nach vorne, die Schnabelspitze hackte in ihre Wange, ihr Auge.

Marisa schrie ...

... und hob ruckartig die Lider.

Sie lag in völliger Dunkelheit. In einem Bett mit viel zu weicher Schaumstoffmatratze, die einen nicht unerheblichen Teil dazu beitrug, dass sich die Wärme unter der Bettdecke staute und Marisa in Schweiß badete. Das T-Shirt klebte wie eine zweite Haut an ihrem Oberkörper.

Ihr Atem ging schwer und schnell. Der Puls raste.

Gott sei Dank, es war bloß ein Traum gewesen. Ein Albtraum. Hoffentlich hatte sie Emma nicht geweckt. Unwillkürlich tastete sie dorthin, wo ihre Freundin für gewöhnlich schlief. Links von ihr.

Brennende Schmerzen, wie bei einem extrem ausgeprägten Muskelkater, begleiteten jede ihrer Bewegungen. Doch ihre Finger ertasten weder den warmen Körper ihrer Freundin noch die weiche Matratze. Sie spürten gar nichts. Da waren nur die Schmerzen, die jetzt auch auf ihr rechtes Bein übergriffen.

Marisa keuchte.

Ihr Blick streifte die Tür mit dem gelben Lichtstreifen darunter. Wieso befand sich da überhaupt eine Tür? Dort hätte eigentlich das Fenster sein müssen. Die Tür lag doch auf der anderen Seite ...

Marisa wandte den Kopf. Ihre Augen hatten sich weit genug an die Dunkelheit gewöhnt, um den fahlblauen Lichtschein auszumachen, der seitlich am Rollo vorbei in das Zimmer sickerte, das nicht ihr Eigenes war. Und auch nicht das von Emmas Wohnung im Londoner Stadtteil Brixton, die sich ihre Freundin mit deren Schwester Cathy teilte.

Wo, zur Hölle, war sie?

Marisa wollte den Blick bereits vom Fenster abwenden, als ihr der massige Schatten in der Dunkelheit dahinter auffiel. Er reichte fast bis an die Decke, hatte menschliche Umrisse mit einem weißen Kopf, dessen Gesicht an die Fratze eines Totenschädels erinnerte ...

Und da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Der Aufräumer von Hackney!

Das Monster. Die Menschmaschine. Der Wahnsinnige, der ihr ...

Marisa schlug mit der rechten Hand um sich, fegte das Wasserglas vom Nachttisch. Mit einem dumpfen Laut fiel es auf den Boden. Die Finger der Studentin fanden den Lichtschalter der Nachttischlampe.

Ihr Schein erhellte das Zimmer, vertrieb den Schatten des Ungeheuers. Stattdessen kam ein hellbrauner Kleiderschrank zum Vorschein. Und davor, direkt neben dem Fußende des Bettes stand der Rollstuhl. Marisas einzige Möglichkeit, um sich noch aus eigener Kraft fortzubewegen.

Sein bloßer Anblick genügte, um Schauer des Entsetzens über ihren Körper laufen zu lassen. Denn er erinnerte sie daran, dass der Aufräumer von Hackney kein Albtraum gewesen war.

Er mochte ihr zwar nicht sämtliche Gliedmaßen ausgerissen haben, tatsächlich hatte er ihr lediglich den Unterarm gebrochen. Doch sein Schöpfer beziehungsweise einer der an seiner Erschaffung beteiligten Männer hatte ihr nicht nur den linken Arm amputiert, sondern auch das rechte Bein.*

Er hatte sie verstümmelt. Zum Krüppel gemacht ...

Sobald sie die Augen schloss, sah sie die weiße Totenschädelmaske des Aufräumers vor sich. Das blutverschmierte, von Wahnsinn gezeichnete Antlitz von Dr. Gerald Brack. Den arm- und beinlosen Torso des Obdachlosen, dessen Gehirn er freigelegt hatte. Sechs Wochen lag das nun schon zurück. Sechs endlos lange Wochen, die für Marisa die Hölle gewesen waren. Sowohl in körperlicher als auch in seelischer Hinsicht.

Es war nicht allein die Tatsache, dass man ihr einen Arm und ein Bein genommen hätte, was schon grausam genug gewesen wäre. Es war das Gefühl der völligen Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins, das seitdem ihr ständiger Begleiter war.

Hinzu kamen die Phantomschmerzen, die ihr vorgaukelten, dass die verlorenen Gliedmaßen noch vorhanden waren. Dabei hatte man sie längst entsorgt. Vernichtet.

Die Ärzte hatten versucht, ihr Bein zu retten. Vergebens.

Ihre Freunde hatten sie täglich im Krankenhaus besucht. Allen voran Emma. Auch Melody Swan, die Streetworkerin, die John Sinclair bei den Ermittlungen in Hackney unterstützt hatte. Der Geisterjäger hatte ebenfalls vorbeigeschaut, sofern es sein Job erlaubte. Ebenso wie Suko, der sich noch immer schwere Vorwürfe machte.

Aber auch Shao, Sheila und Bill Conolly, Cathy und Johnny, ja, sogar Hannah ... sie alle waren gekommen, um ihr zu zeigen, dass sie für sie da waren. Selbst Sir James Powell war erschienen, um ihr seine Unterstützung zuzusichern.

Es war schrecklich gewesen.

Marisa war klar, dass sie von all der Anteilnahme hätte gerührt sein müssen. Tatsache war jedoch, dass die Besuche für sie von Tag zu Tag unerträglicher geworden waren.

Das galt selbst für Emma!

So sehr sie die junge Frau auch liebte, so sehr fühlte sie sich von ihrem Mitgefühl und ihrem Beistand erdrückt. Ihre Freundin war einer der liebevollsten und empathischsten Menschen, die Marisa kannte, aber genau dort lag das Problem, denn sobald Emma den Raum betrat, wurde sie daran erinnert, was sie verloren hatte. Nicht bloß ein Arm und ein Bein, sondern ihre gesamte Unabhängigkeit. Wie sollten sie jemals eine normale Beziehung führen?

Sicher, es gab Prothesen. Sie hatte darüber bereits mit Dr. Peterson gesprochen, doch spätestens abends im Bett würde sie sie ablegen müssen. Und dann war sie wieder der Freak, der Krüppel.

Würde Emma sie jemals wieder anfassen wollen?

Für Marisa kam es fast einer Erlösung gleich, als Dr. Peterson ihr vorgeschlagen hatte, sie in ein Reha-Zentrum an die Ostküste zu verlegen. Die Klinik von Dr. Lucius Caine war auf die Behandlung traumatisierter Unfallopfer spezialisiert.

Laut Dr. Peterson war das Verfahren, das Caine entwickelt hatte, einzigartig. Das Stichwort lautete Gentechnik. Caine war es gelungen, menschliche Extremitäten zu klonen. Bislang war so etwas vor allem mit Ohren und Nasen, die auf Laborraten wuchsen, gemacht worden, Caine aber ging noch einen Schritt weiter. Er benutzt das körpereigene Erbgut, um verlorene Gliedmaßen und Organe zu züchten.

Ein sehr zeitaufwändiges und kostspieliges Verfahren. Nun, Marisa hatte alle Zeit der Welt und dank der Conollys brauchte sie sich auch keine Gedanken, um das Geld zu machen. Bill und Sheila hatten darauf bestanden, die Kosten zu übernehmen.

Marisa hätte möglicherweise dennoch abgelehnt, doch dafür hatte ihr die Kraft gefehlt.

Und die Alternative wäre gewesen, in London zu bleiben, täglich den mitleidigen Blicken ihrer Freunde und Bekannten ausgesetzt.

Und so hatte sie schließlich zugestimmt.

Und lag jetzt in einem Einzelzimmer von Dr. Caines Zentrum für Gesundheit und Rekonvaleszenz in Cromer, an der Nordküste der Grafschaft Norfolk.

Es war die dritte Nacht, die sie hier verbrachte. Die ersten Untersuchungen lagen bereits hinter ihr, ebenso wie das Gespräch mit Dr. Caine und seiner Assistentin Samantha Jones, einer unterkühlten Ärztin, die nichtsdestotrotz einen professionellen Eindruck machte.

Das Personal war freundlich, aber nicht aufdringlich. Von den übrigen Patienten hatte Marisa bislang kaum welche zu Gesicht bekommen. Und die Wenigen waren an einer Konversation ebenso wenig interessiert gewesen wie sie.

Sie wusste zwar, dass es half, mit anderen Betroffenen über das eigene Schicksal zu sprechen, immerhin basierte auf dieser Annahme ihr gesamtes Therapiekonzept der Stiftung zur Unterstützung der Opfer schwarzmagischer Angriffe.

Doch wie viele von den Patienten waren wohl einem Cyborg in die Hände gefallen, der von einem Wahnsinnigen mit Hilfe von Gehirnimplantaten konditioniert worden war?

Abgesehen davon fehlte Marisa momentan schlicht und ergreifend die Kraft, um mit anderen Menschen längere Gespräche zu führen. Und das Letzte, was sie zurzeit gebrauchen konnte, war jemand, der seinen emotionalen Ballast auf sie abwälzte.

Also blieb sie größtenteils allein. Bis auf die Stunden natürlich, die Emma zu Besuch kam. Ihre Freundin hatte sich in Cromer ein Zimmer genommen. Trotz der Abschlussprüfungen, für die sie sich vorbereiten musste.

Marisa hatte darauf bestanden, dass Emma lieber für die Prüfungen büffeln sollte, woraufhin ihre Freundin in ihrer unvergleichlich positiv-pragmatischen Art erwidert hatte, dass sie das nirgendwo besser könnte als hier in Norfolk.

Dummerweise hatte sie damit sogar recht.

Die Landschaft war wunderschön, die salzige Meeresluft eine Wohltat. Dazu die Ruhe, die lediglich vom Kreischen der Möwen gestört wurde, nicht von lärmenden Nachbarn, heulenden Sirenen und dem nie enden wollenden Rauschen des Verkehrs.

Marisa hätte sich gewünscht, dass sie schon früher mit Emma hergekommen wäre. Als sie noch ein vollständiger Mensch gewesen war. Aber so war das eben mit der menschlichen Natur. Sie lernte die Dinge erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr vorhanden waren.

Das galt im besonderen Maße für die Gesundheit, die für viele Menschen, insbesondere die Jüngeren, als Selbstverständlichkeit hingenommen wurde. Nichts, wofür man dankbar sein musste.

Die Zukunft schien endlos. Bis es zu spät war.

»Fuck!«

Marisa wollte den wachsenden Kloß in ihrem Hals herunterschlucken und erlitt einen mittelschweren Hustenanfall. Ihre Kehle war völlig ausgetrocknet.

Und ausgerechnet heute musste sie das Wasserglas vom Tisch fegen.

Sie stemmte sich mit dem rechten Arm in eine sitzende Position, dann schlug sie die Decke zur Seite. Der Anblick des Stumpfes, der aus dem Saum ihrer mausgrauen Shorts ragte, versetzte ihr einen Stich. Sie würde sich niemals daran gewöhnen.

Aber vielleicht musste sie das ja auch gar nicht. Deshalb war sie schließlich hier.

Also stell dich gefälligst nicht so an. Anderen Menschen geht es viel dreckiger als dir. Stell dir vor, du wärst querschnittsgelähmt. Oder hättest eine tödliche Krankheit wie ALS, Krebs oder weiß der Teufel was noch.

Vielleicht sollte ich ja einfach dankbar dafür sein, dass man mir nur einen Arm und Bein abgesägt hat, dachte Marisa zornig. Dennoch verschwamm ihre Sicht hinter Tränen. Mit dem Handrücken wischte sie sie weg, bevor sie nach der Wasserflasche griff, die ihrer Fuchtelei glücklicherweise entgangen war.

Sie war leer.

Marisa fluchte und erinnerte sich daran, dass sie gestern Abend den Rest ins Glas geschüttet und vorgehabt hatte, die Flasche am Morgen mit hinauszunehmen.

Nun, dann würde sie das eben jetzt tun. Sie konnte ohnehin nicht mehr einschlafen, obwohl die Uhr auf ihrem Handy gerade mal drei Uhr dreißig anzeigte.

Trinken musste sie auf jeden Fall, und anschließend konnte sie gleich auf Toilette. Das Bad war groß genug, um mit dem Rollstuhl direkt vor die Schüssel zu fahren.

Marisa legte die Flasche neben sich aufs Bett und rückte an den Rollstuhl heran, dessen rechtes Seitenteil hochgeklappte war, sodass sie nur mit dem Hintern hinüberrutschen musste.

Nachdem sie das geschafft hatte, dachte sie ernsthaft darüber nach, das heruntergeworfene Wasserglas aufzuheben. Doch ohne zweiten Arm, mit dem sie sich abstützen konnte, war ihr das Risiko, den Halt zu verlieren, zu groß.

Sie würde Simon darum bitten. Der junge Pfleger hatte Nachtschicht und litt vermutlich ohnehin an Langeweile.

Die Klingel zu betätigen kam für Marisa nicht infrage. Der sogenannte Schwesternruf war für Notfälle. Nicht für leere Wasserflaschen oder heruntergefallene Gläser.

Marisa stellte die Flasche zwischen ihre Schenkel. Als sie mit dem Stumpf Druck ausübte, schossen neue Stiche durch das nicht mehr vorhandene Bein und erinnerten sie daran, sich bei der Gelegenheit gleich noch ein paar Schmerztropfen abzuholen.

Vielleicht half ihr das Tramadol dabei, noch einige Stündchen zu schlafen.

Sie klappte das Seitenteil nach unten. Am Ende der Armlehne befand sich die Steuerung, die sich bequem per Daumen bedienen ließ. Bevor sie jedoch das Zimmer verließ, wollte sie das T-Shirt wechseln. Marisa rollte an den Schrank heran.

Sie hielt den Atem an, halb damit rechnend, dass sich der Aufräumer von Hackney aus dem Dunkel auf sie stürzte. Das war natürlich Nonsens. Selbst wenn der Cyborg hier gewesen wäre, hätte er in dem schmalen Schrank kaum genug Platz gefunden.

Marisa zog sich das klamme Shirt über den Kopf und legte es in den Schoß, zog ein neues heraus und schüttelte es aus. Zuerst schob sie den rechten Arm durch den entsprechenden Ärmel, dann stülpte sie sich den Kragen über den Kopf und zog den Saum nach unten.

Auf dem Weg zur Tür machte sie beim Wäschekorb Halt und warf das verschwitzte Shirt hinein.

Die Tür selbst ließ sich automatisch durch einen Schalter an der Wand öffnen.

Beinahe lautlos schwang sie auf. Dahinter erwartete Marisa ein breiter Flur, von dem insgesamt sechs Zimmer abzweigten. Drei davon auf jeder Seite. Die Türen lagen in Nischen, zwischen denen Pflanzen in wuchtigen Kübeln aufragten. Ein hellblauer Teppich dämpfte die Geräusche.

Indirekte Beleuchtung sorgte für eine beruhigende Atmosphäre.

Am Ende des Flurs stand ein Aquarium. Das leise Blubbern der Pumpe, die das Wasser mit Sauerstoff anreicherte, war das einzige Geräusch, ansonsten herrschte absolute Stille.

Marisa kam sich vor wie in einem Hotel oder Sanatorium, aber gewiss nicht wie in einem Krankenhaus. Selbst im Dienstzimmer brannte nur gedämpftes Licht. Das war trotz verschlossener Tür zu sehen, da der Raum auf einer Seite verglast war, um freien Blick auf die Stationstür zu haben.

Es gab vier solcher Stationen, die Klinik bot also insgesamt vierundzwanzig Patienten Platz, doch Marisa bezweifelte, dass alle Betten belegt waren.

Links neben der Stationstür und schräg gegenüber vom Dienstzimmer lag die Küche, die um diese Zeit verschlossen war. Davor ein Dreietagenwagen mit Soda, Säften und Tee. Heißes Wasser, Kaffee und sogar Kakao konnten rund um die Uhr aus einem Automaten gezogen werden.

Obst und Joghurt standen zur Verfügung, um den kleinen Hunger zu stillen. Darauf verzichtete Marisa. Sie schob die leere Wasserflasche in die bereitstehende Kiste für das Leergut und nahm sich eine neue vom Wagen, ehe sie sich auf den Rückweg machte.

Neben der Stationstür blieb sie stehen und klopfte.

Manchmal kam es vor, dass das Personal die Tür schloss, wenn es telefonierte oder sich im Gespräch mit einem Patienten befand. Gut möglich, dass Marisa nicht die Einzige war, die ein Medikament benötigte.

Nur leider öffnete niemand die Tür. Das war zwar ärgerlich, aber nicht ungewöhnlich.

Auch Pflegende mussten schließlich mal auf Toilette. Es kam sogar vor, dass sie auf eine der Nachbarstationen gingen, um die Pause mit den Kollegen zu verbringen.

Das war keineswegs gegen die Vorschriften, immerhin waren die Pflegekräfte über ihr Mobiltelefon überall erreichbar. Selbst die Notrufklingel wurde auf die Apparate umgeleitet.

Marisa fuhr zu dem Stationsapparat, der neben der Tafel mit den Aushängen an der Wand hing. Es war ein Haustelefon, mit dem man nur innerhalb der Klinik telefonieren konnte.

Die Studentin nahm den Hörer ab und klemmte ihn zwischen Hals und Schulter. Sie wollte eben die vierstellige Nummer wählen, da hallte ein gellender Schrei durch das Haus.

Simon Rowland klopfte das Herz bis zum Hals.

Er arbeitete zwar erst seit zwei Wochen hier, doch die hatten ausgereicht, um nicht nur sein Misstrauen zu wecken, sondern den Verdacht zu nähren, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zuging.

Rowland war Journalist und spezialisiert auf Krankenhäuser und andere medizinische Einrichtungen. Seine Berichte über pflegerische und ärztliche Missstände, katastrophale Arbeitsbedingungen sowie die Veruntreuung staatlicher Fördergelder waren gleichermaßen gefürchtet wie beliebt.

Natürlich schrieb er diese unter Pseudonym, ansonsten hätte der gelernte Krankenpfleger seinen Job längst an den Nagel hängen können. Sowohl den des Journalisten als auch den des Pflegers.

Auf Dr. Caines Zentrum für Gesundheit und Rekonvaleszenz war er mehr durch Zufall aufmerksam geworden. Die Behandlungsmethode des renommierten Genetikers sorgte in der Fachwelt für Aufsehen.