John Sinclair 2374 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2374 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Wir hatten eine herbe Niederlage hinnehmen müssen, doch alles drohte noch viel schlimmer zu werden! Denn noch während die Ärzte in Cornwall um das Leben unserer Freundin Laura Patterson kämpften, schlug eine Feindin, fast ebenso stark und mächtig wie Asmodis, in Deutschland zu!
Lilith, die finstere Große Mutter, und ihre verderblichen Engel der Unzucht bereiteten sich in Deutschland, in Johanngeorgenstadt, auf ihr großes Comeback vor! Auf dem berühmten Rabenberg raubten sie Kindern die Seelen, um diese in die Körper von Raben zu bannen! Das sollte ihnen zu unglaublicher Macht verhelfen!


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Seitenzahl: 136

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Inhalt

Cover

Rabenkinder

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Rabenkinder

Von Ian Rolf Hill

»Ich sage dir, mit dem Jungen stimmt was nicht! Wir müssen ihn ins Krankenhaus bringen. So schnell wie möglich!«

Florian Bernwald nahm das Smartphone in die andere Hand, winkte seiner Kollegin Astrid kurz zu und verließ das Büro, um im Aufenthaltsraum ungestört telefonieren zu können.

Die Stimme seiner Frau zitterte vor Angst. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein. Und zwar mit Gregor, seinem Sohn.

»So, Liese! Und jetzt noch mal in Ruhe ...«

»Nein!«, schrie seine Frau. »Nicht in Ruhe! Du musst sofort kommen. Gregor ist ...«

Was Gregor war, sollte Florian nicht mehr erfahren. Ein schrilles Kreischen drang aus dem Hörer. Dem jungen Vater gefror das Blut in den Adern. Das war seine vierjährige Tochter Lotte. Sie brüllte, als würde ihr jemand furchtbar wehtun.

Und dazwischen erklangen abgehackte, bellende Laute, die eindeutig von Gregor stammten und trotzdem nicht zu einem Menschen passten.

Eher zu einem Raben!

»Als Elisabeth Bernwald das Kinderzimmer ihrer Tochter Lotte betrat, stand Gregor vor seiner jüngeren Schwester und hackte auf sie ein.«

»Er hackte auf sie ein?«, wiederholte Dagmar Hansen mit krächzender Stimme. »Womit? Mit einem Messer oder ... oder einem Beil?«

Flüchtig schaute sie ihren Partner Harry Stahl an, der neben ihr im Büro von Ernst Becker saß, ihrem direkten Vorgesetzten beim BKA.

»Weder noch«, beantwortete dieser Dagmars Frage. »Er tat es mit seinem Kopf.«

»Wie bitte?«, fragten Harry und seine Partnerin wie aus einem Munde.

Becker sah aus, als hätte ihm jemand Essig in den Kaffee gekippt. »Sie haben schon richtig gehört. Gregor Bernwald hackte mit dem Kopf auf seine Schwester ein. Wie ... wie ein ... nun ja, Vogel.«

Dagmar und Harry wechselten einen verständnislosen Blick. Schließlich hatte sich die rothaarige Ermittlerin wieder gefangen. »Ich gehe davon aus, dass wir nicht hier sitzen würden, wenn der Junge früher schon solche Verhaltensauffälligkeiten gezeigt hätte.«

»Scharf kombiniert«, bemerkte Becker. »Tatsächlich trat die Veränderung ziemlich abrupt auf. Aber nicht unbedingt grundlos. Gregor Bernwald war unmittelbar davor erst zu seiner Familie zurückgekehrt, nachdem er für genau einen Tag verschwunden war.«

»Also muss in dieser Zeit etwas passiert sein, dass den Jungen so verändert hat«, schloss Harry. »Ist er verletzt oder misshandelt worden?«

»Körperlich war der Junge vollkommen unversehrt. Nicht mal dehydriert oder so. Und für eine Unterernährung war er nicht lange genug fort.«

»Wo genau ist er denn verschwunden?«

»In der Nähe von Johanngeorgenstadt, nahe der tschechischen Grenze.«

»Das ist in Sachsen«, sagte Harry. »Von der Verhaltensauffälligkeit mal abgesehen, wie kommen Sie darauf, dass dies ein Fall für uns sein könnte?«

»Weil Gregor Bernwald nicht der einzige Junge aus Johanngeorgenstadt ist, der sich sonderbar verhalten hat.« Becker beugte sich vor und schlug einen Schnellhefter auf. »Otto Grundmann, fünf Jahre alt. War ebenfalls für fast vierundzwanzig Stunden verschwunden, bevor er wieder bei seinen Eltern auftauchte. Körperlich unversehrt, allerdings vollkommen wesensverändert. Wie Gregor Bernwald sprach auch Otto Grundmann kein einziges Wort mehr. Er brachte nur noch unartikulierte Laute zustande. Noch am selben Tag sprang er aus einem Fenster im ersten Stock seines Elternhauses. Seine Eltern berichten, dass es aussah, als ob er wegfliegen wollte.«

»Mein Gott!«, stieß Dagmar hervor. »Ist dem Jungen was passiert?«

»Nur ein paar Prellungen und Hautabschürfungen. Ein Rhododendron hat den Sturz abgefangen«, erläuterte Becker. »Otto Grundmann ist mit dem Schrecken davongekommen.«

»Oder auch nicht«, merkte Harry an. »Irgendeine Ursache muss es schließlich geben, dass sich die Kinder binnen kürzester Zeit derart verändert haben.«

»Ganz genau.« Becker schlug den Schnellhefter zu, schnappte sich noch einen weiteren und reichte beide seinen Ermittlern. »Und diese Ursache zu finden, ist ab sofort Ihr Job. In den Akten steht alles, was Sie wissen müssen. Unter anderem auch die Adresse einer psychiatrischen Einrichtung in Chemnitz. Dorthin wurden Otto Grundmann und Gregor Bernwald überwiesen. Ich schlage vor, dass Sie mit Ihren Ermittlungen dort beginnen.«

Dagmar und Harry nahmen die Schnellhefter entgegen und erhoben sich.

»Ach, und ehe ich's vergesse ...«, fügte Becker hinzu.

Hansen und Stahl drehten sich noch einmal um und schauten ihren Vorgesetzten fragend an.

»Versuchen Sie diesen Fall zur Abwechslung mal ohne ausländische Hilfe zu lösen. Ansonsten könnte der Eindruck entstehen, dass wir gar nichts mehr allein geregelt kriegen.«

»Wir bemühen uns«, versicherte Dagmar knapp.

Ihr Partner Harry begnügte sich mit einem Nicken.

Schweigend durchquerten sie den Flur. Erst als sie ihr eigenes Büro erreichten, ließ sich der ehemalige Kommissar aus Leipzig zu einem Kommentar hinreißen.

»Arschloch!«

Dagmar warf die Schnellhefter auf den Schreibtisch. »Was willst du? Von Beckers Warte aus betrachtet hat er nicht ganz unrecht.«

»Auf welcher Seite stehst du eigentlich?«

»Auf deiner, das solltest du wissen. Aber wir arbeiten nun einmal als Sonderermittler für eine staatliche Behörde. Und wenn diese Sonderermittler in fünfzig Prozent ihrer Fälle Amtshilfe anfordern, wird man an höherer Stelle schon mal aufmerksam.«

»Du meinst, Becker hat Druck bekommen hat?«

»Ich glaube jedenfalls nicht, dass diese Bemerkung aus heiterem Himmel gekommen ist.«

»Wir haben John Sinclair nie ohne Grund angerufen. Ohne ihn wären viele Fälle nicht einmal ansatzweise so glimpflich verlaufen. Und dass er dir bei der Sache mit dem Totenmoor vor ein paar Wochen zur Seite stand, lag auch daran, dass ich zu dieser Zeit krank im Bett gelegen habe.«1

»Also?«, fragte Dagmar.

»Also was?«

»Essen wir vorher noch etwas, bevor wir uns auf den Weg machen?«

»Von mir aus können wir fahren. Der Appetit ist mir vorläufig vergangen.«

Florian Bernwald hatte sich krankschreiben lassen.

Er war einfach nicht in der Verfassung zu arbeiten. Außerdem musste jemand auf Lotte aufpassen, während Liese bei Gregor in Chemnitz weilte.

Seine Frau hatte es sich nicht nehmen lassen, ihren Sohn zu begleiten. Es bestand zwar nicht die Möglichkeit, in der Klinik selbst zu übernachten, doch in der Nähe gab es eine günstige Herberge, die oft von Eltern oder Angehörigen genutzt wurde, um ihre Kinder zu besuchen.

Die behandelnde Ärztin hatte nichts dagegen, dass Liese bei den Untersuchungen dabei war. Sie begrüßte es sogar, denn die Anwesenheit eines Elternteils konnte auf das Kind eine beruhigende Wirkung haben. Von der Hilfe bei der Anamnese-Erhebung ganz zu schweigen.

Ergebnisse gab es bislang keine, doch das war nach einem Tag auch nicht zu erwarten.

Seit einem Tag und einer Nacht bewachte Florian nicht nur seine Tochter Lotte, sondern auch das Smartphone, gefangen zwischen Furcht und Hoffnung.

Der Hoffnung, dass es sich bei Gregors Aussetzer bloß um einen vorübergehenden Ausnahmezustand gehandelt hatte. Ihr gegenüber stand die Angst vor einer schweren Hirnschädigung.

Florian vergrub das Gesicht in den Händen.

Er hatte keine Ahnung, wie er damit umgehen würde, sollte Gregor ernsthaft psychisch erkrankt sein. Konnten sie ihn dann überhaupt noch zu Hause wohnen lassen?

»Guck ma! Papa, guck ma!«, rief seine Tochter Lotte, die auf dem Wohnzimmerteppich saß und mit ihren Wachsmalstiften spielte.

Florian hob den Kopf. Mit müden Augen spähte er über die Hände hinweg auf seine Tochter, die aufgesprungen war und auf ihn zu rannte. Sie hielt ein Blatt Papier, auf dem sie bis eben herumgekritzelt hatte.

Ihr rechtes Augenlid war noch immer geschwollen und dunkelblau angelaufen. Dort hatte sie Gregor mit dem Kopf getroffen, als er auf sie eingehackt hatte.

Lotte hatte Glück gehabt. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wäre ihre Mutter nicht rechtzeitig zur Stelle gewesen, um Gregor von seiner Schwester wegzuzerren.

»Was ... was ist das?«, fragte Florian, als ihm Lotte das Bild überreichte.

»Hab ich für dich gemalt!«

»Das ist lieb von dir.« Er nahm es entgegen und betrachtete das Kunstwerk.

Lotte hatte für ihr Alter ein erstaunlich gutes Auge für Details und Perspektiven. Sie malte auf einem deutlichen höheren Niveau als viele Gleichaltrige. Behaupteten zumindest die Betreuerinnen im Kindergarten.

Und auch Florian hatte keine Mühe zu erkennen, was seine Tochter mit ihren Wachsmalstiften gezaubert hatte: Ihr Haus mit dem grünen Rasen davor. Rechts oben in der Ecke leuchtete die Sonne in einem strahlenden Gelb. Lotte hatte ein paar Strahlen angedeutet, der Sonne aber kein Gesicht gemalt.

Neben dem Haus standen ein Mann und eine Frau, eindeutig Liese und er. Daneben ein Mädchen mit blonden Haaren, in einem blauen Kleid. Das war Lotte.

Nur Gregor hatte sie nicht gemalt. Stattdessen hockte ein schwarzer Vogel neben ihr im Gras, vielleicht ein Rabe oder eine Krähe.

Florian lächelte verkrampft. »Wo ist denn Gregor?«

»Na da!«, rief Lotte, drängte sich seitlich an ihren Vater und deutete auf das Bild in seinen Händen. Mit dem Finger tippte sie auf den Raben.

Bernwald runzelte die Stirn. »Das ist nicht Gregor, das ist ein Vogel!«

Lotte schüttelte den Kopf. »Das ist Gregor. Hat er mir selbst gesagt!«

»Gregor hat gesagt, dass er ein Vogel ist?«

Sie nickte bestimmend, wie es nur Kinder taten. Selbstbewusst und sich ihrer Sache absolut sicher.

»Und wann hat er dir das erzählt?«

»Heute Morgen.«

Florian gefror das Lächeln auf den Lippen. Ein beklemmendes Gefühl ergriff von ihm Besitz.

»Das kann nicht sein«, sagte Bernwald. »Gregor ist gestern mit Mama nach Chemnitz gefahren, das weißt du doch.«

»Er war bei mir. Heute Morgen«, behauptete sie.

Das bimmelnde Smartphone unterbrach die Diskussion zwischen Vater und Tochter. Florians Hand schnappte den Apparat wie eine zustoßende Klapperschlange die Maus.

›Liese‹ stand über dem Anrufsymbol.

»Wir reden gleich weiter, Liebes. Das ist Mama. Ich muss kurz mit ihr sprechen. Mal doch noch was Schönes.«

Er drückte seine Tochter an sich, dann erhob er sich von der Couch und ging in die Küche, Lottes Bild weiterhin in der Hand. Er betrachtete es nachdenklich, während er das Gespräch annahm.

»Hi, gibt's was Neues?«

Liese kam sofort zur Sache. »Gregor hatte wieder einen Anfall. Er hat zwei Kinder und eine Krankenschwester angegriffen und wird jetzt isoliert.«

Florian schloss für Sekunden die Augen. Ihm wurde schwindelig. »Mein Gott. Und was sagen die Ärzte?«

Lieses Stimme klang schrill, fast hysterisch. »Das ist es ja. Sie haben keine Erklärung für Gregors Zustand. Zweimal haben sie seinen Kopf geröntgt, ihm Blut abgenommen und einen Ultraschall gemacht. Morgen wollen Sie eine Probe seines Rückenmarks entnehmen.«

Bernwald schnürte sich die Kehle zu.

»Dr. Thiemann meint, seine Symptome ähneln dem von Autisten. Sie sagte auch was von Schizophrenie und posttraumatischer Belastungsstörung. Aber das klingt für mich alles nach billigen Ausreden. Angeblich kommen nachher noch zwei Spezialisten vorbei.«

»Psychologen, oder was?«

»Nein, sie arbeiten Sie für das BKA.«

»Das Bundeskriminalamt? Was haben die denn damit zu tun?«

»Gregor ist nicht der einzige Junge, der mit solchen Symptomen hier eingeliefert wurde. Erinnerst du dich an Otto? Otto Grundmann?«

»Äh, der geht doch mit Gregor in denselben Kindergarten.«

»Er ist aus dem Fenster gesprungen. Seine Eltern sagten, er hätte sich für einen Vogel gehalten.«

Florian Bernwald starrte auf das Bild in seiner Hand, die anfing zu zittern.

»Bist du noch dran?«, fragte Liese besorgt.

Er wollte bejahen, doch ein Klopfen an die Fensterscheibe hielt ihn davon ab. Bernwald hob den Kopf.

Hinter der Scheibe des Küchenfensters hockte ein Rabe auf der Fensterbank und klopfte mit dem Schnabel gegen das Glas. So als wollte er, dass Florian das Fenster öffnete.

»Florian, so ... so sag doch was!«

»Ja«, krächzte er mit belegter Stimme. »Ja, ich bin noch dran.« Er legte die Zeichnung auf den Küchentresen und griff nach einer Speisezwiebel, die neben ihm im Gemüsekorb lag.

»Ich hab Angst, Florian.«

»Ich auch«, erwiderte er und warf die Zwiebel. Sie prallte gegen die Scheibe.

Der Rabe hüpfte auf dem Fensterbrett zur Seite, flog aber nicht davon. Stattdessen klopfte er weiter gegen das Glas.

»Was machen wir, wenn die Ärzte nichts finden?«, fragte seine Frau.

»Sie werden etwas finden«, versicherte ihr Florian und zog die Schublade mit den Küchenutensilien auf. »Du musst ihnen nur mehr Zeit lassen.«

Eine gusseiserne Pfanne stach ihm ins Auge. Er griff danach und zog sie heraus.

Als er sich aufrichtete, war der Rabe verschwunden.

»Und wenn nicht?«, beharrte Elisabeth. »Ich habe nachgedacht, Florian. Vielleicht sollten wir einen Pastor ...«

»Gregor ist nicht besessen, verdammt noch mal!«, rief Bernwald aufgebracht.

»Woher willst du das wissen?«, schrie seine Frau. »Du ... du hast auch keine Ahnung!«

»Irgendwelche Exorzisten auf ihn loszulassen, wird das Problem nicht lösen!«

»Das Problem? Du sprichst von unserem Sohn. Ich habe nie behauptet, dass ich einen Exorzisten holen will. Nur dass ich mit einem Pastor sprechen will.«

»Lass uns später darüber sprechen, okay?«

»In Ordnung. Wie geht es, Lotte?«

»Gut, sie malt.« Er stellte die Pfanne auf den Tresen und griff wieder nach dem Bild. Mit Lottes Kunstwerk in der Hand machte er sich auf den Weg zurück ins Wohnzimmer. »Willst du mit ihr sprechen?«

»Nein, lass mal. Ich glaube, da kommt jemand. Könnten diese Spezialisten vom BKA sein. Ich melde mich später.«

Und ehe Florian noch etwas sagen konnte, hatte seine Frau bereits aufgelegt.

Bernwald aber betrat das Wohnzimmer, aus dem ihm ein kalter Luftzug entgegenwehte. Er fröstelte – und blieb wie angewurzelt stehen.

Lotte hatte die Terrassentür geöffnet.

Sein Blick saugte sich an seiner Tochter fest, die vor der Tür kniete und den Raben streichelte, der eben noch an die Scheibe des Küchenfensters geklopft hatte.

»Lotte!«, stieß der Mann hervor, unfähig sich zu rühren.

Die Angst, der Vogel könnte seiner Tochter etwas antun, wenn er sich bedroht fühlte, lähmte ihn.

Der Rabe reichte ihr weit über die Knie, fast bis zum Becken.

Das Mädchen wandte den Kopf. »Papa, sieh mal, wer hier ist!«

»Lotte!«, würgte Florian hervor. »Geh ... geh weg von dem Vieh! Los! Sofort!«

»Aber ...«

»Tu es!«, brüllte er.

Erschreckt zuckte Lotte zusammen und verzog das Gesicht, als wollte sie anfangen zu weinen.

Doch nicht sie war es, die sich bewegte, sondern der Rabe. Er schritt auf Bernwald zu, öffnete den Schnabel und stieß abgehackte Laute hervor. Florian rieselte es kalt über den Rücken.

Das Tier produzierte nicht nur irgendwelche kehligen Laute. Der Rabe sprach mit ihm!

Und es war immer dasselbe Wort, das aus dem Schnabel drang.

»Pa-pa! Pa-pa! Pa-pa!«

»Frau Hansen! Herr Stahl! Es freut mich, dass Sie so schnell gekommen sind.«

Das Lächeln der sympathischen Ärztin wirkte ansteckend auf die beiden Sonderermittler.

Sabine Thiemann war Ende dreißig, hatte blonde Haare, in die sich bereits erste graue Strähne mischten, und ein offenes Gesicht. Die Falten an den Augen zeugten davon, dass die Kinderpsychiaterin das Lachen trotz ihres aufreibenden Berufes nicht verlernt hatte.

Allein dadurch fühlte sich Dagmar mit ihr verbunden. Schließlich wurden sie als Polizisten im Allgemeinen und speziell als Sonderermittler des Bundeskriminalamtes auch meistens mit den Schattenseiten des Lebens konfrontiert.

Da sie zeitig aufgebrochen waren, waren sie bereits am frühen Nachmittag in Chemnitz eingetroffen. Trotz zahlreicher Baustellen, die die Nerven der Autofahrer, vor allem der Pendler, auf eine Zerreißprobe stellten.

»Fast wie bei uns, nicht wahr?«, hatte Harry irgendwann gesagt. »Sobald eine Baustelle geschlossen wird, öffnen sich an anderer Stelle zwei neue.«

»Um ehrlich zu sein, wundert es mich ein wenig, dass sie sich so schnell an das BKA gewandt haben«, sagte Harry nun.

Dr. Thiemann hatte sie am Empfang abgeholt und in ihr Büro geführt, das im Hochparterre des dreistöckigen Hauses lag, in dem die Kinderpsychiatrie des Klinikums Chemnitz untergebracht war. Die Fassade war weiß verputzt, die Giebel unter roten Dachschindeln im Fachwerkstil.

»Wäre nur ein Kind betroffen, hätte ich das sicherlich nicht.« Sabine Thiemann hob die Schultern. »Aber wir sind mit unserem Latein am Ende.«

»Was nicht erklärt, weshalb Sie ausgerechnet uns angefordert haben«, hakte Dagmar nach. »Normalerweise werden mysteriöse Vorkommnisse der örtlichen Polizei gemeldet, die den Fall an das zuständige Landeskriminalamt weiterleitet. Dort wird dann ein Antrag auf Amtshilfe an das BKA gestellt. Sie aber haben sich direkt an uns gewendet.«

Dr. Thiemann lächelte. »Das haben Sie einer gemeinsamen Bekannten von uns zu verdanken.«

Dagmar hob die Brauen, und auch Harry Stahl zeigte sich überrascht. »Von wem sprechen Sie?«

Das Lächeln wurde breiter. »Von Nadia. Entschuldigen Sie, von Dr. Reza. Sie ist Ärztin in der Charité Berlin. Sie haben bereits zweimal mit ihr zusammengearbeitet.«

Harry nickte. »Dr. Reza hat nicht nur mit uns zusammengearbeitet, sie hat meiner Partnerin praktisch das Leben gerettet.«

Das stimmte, auch wenn sich Dagmar nicht gerne an die Episode mit Nocturna erinnerte.2

»Nadia und ich kennen uns noch aus dem Studium«, fuhr Dr. Thiemann fort. »Wir haben beide an der Charité unsere Famulatur absolviert. Anschließend haben sich unsere Wege getrennt, doch wir haben uns nie aus den Augen verloren. Und wir tauschen uns auch regelmäßig über schwierige Fälle aus. Als ich ihr von Otto Grundmann und Gregor Bernwald berichtete, hat sie mir geraten, das BKA einzuschalten.«

»Konnten Sie denn in der Zwischenzeit irgendetwas Neues herausfinden?«