John Sinclair 2393 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2393 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Diese Biester fressen uns bei lebendigem Leibe!
Dieser Gedanke schoss Pearl Waters nicht zum ersten Mal durch den Kopf, seit sie vor drei Wochen in den Dschungel von Südamerika aufgebrochen waren. Auf der Suche nach einem der letzten unkontaktierten Völker, die im Urwald von Brasilien vermutet wurden.
Eine einmalige Gelegenheit, die sich die Studentin auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen wollte. So eine Chance bekam sie nur einmal im Leben.
Vor allem an der Seite eines der renommiertesten Anthropologen dieser Zeit, Professor Doktor Geoffrey Marks.
Dafür nahm sie sogar die Entbehrungen des Dschungels in Kauf. Und auch die Moskitos, die in Schwärmen über sie herfielen.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte Pearl Waters noch nicht, dass nicht nur die Moskitos sie fressen wollten ...


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Inhalt

Cover

Königin der Kannibalen

Jason Dark's Leserseite

Vorschau

Impressum

Königin der Kannibalen

von Ian Rolf Hill

Diese Biester fressen uns bei lebendigem Leib!

Dieser Gedanke schoss Pearl Waters nicht zum ersten Mal durch den Kopf, seit sie vor drei Wochen in den Dschungel von Südamerika aufgebrochen waren. Auf der Suche nach einem der letzten unkontaktierten Völker, die im Urwald von Brasilien vermutet wurden.

Eine einmalige Gelegenheit, die sich die Studentin auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen wollte. So eine Chance bekam sie nur einmal im Leben.

Vor allem an der Seite eines der renommiertesten Anthropologen dieser Zeit, Professor Doktor Geoffrey Marks.

Dafür nahm sie sogar die Entbehrungen des Dschungels in Kauf. Und auch die Moskitos, die in Schwärmen über sie herfielen.

Zu diesem Zeitpunkt ahnte Pearl Waters noch nicht, dass nicht nur die Moskitos sie fressen wollten ...

Marks war sich sicher, dass sie in den nächsten Tagen Erfolg haben würden.

Woher er diese Gewissheit nahm, war Pearl jedoch schleierhaft. Sie wusste ja nicht mal genau, ob sie sich noch in Brasilien oder bereits in Venezuela aufhielten.

Nachdem die zwölfköpfige Expedition von Manaus aus in einem klapprigen Propellerflugzeug Richtung Norden gestartet war, immer dem Flusslauf des Rio Negro folgend, waren sie in Santa Isabel auf dem dortigen Flughafen gelandet. Mitten in der Pampa, wie man so schön sagt.

Von dort aus war es mit dem Boot über den Negro weiter in Richtung Westen gegangen. Bis zur Mündung des Rio Marauiá, einem Strom im Nordwesten Brasiliens, der aber noch lange nicht die Endstation gewesen war.

Cucco, Mitglied des Yanomami-Volkes, einem der größten Stämme des brasilianischen Regenwaldes mit immerhin neunzehntausend Angehörigen, war in Santa Isabel als Führer zu ihnen gestoßen. Der dreizehnte Krieger, wie David Dunn scherzhaft kommentiert hatte. Zum Glück war niemand von ihnen abergläubisch.

Eine Woche waren sie den Fluss hinaufgefahren. Teilweise war der Strom so schmal geworden, dass Pearl nur die Arme hatte auszustrecken brauchen, um die Äste der Bäume beider Flussufer zu berühren. An anderen Stellen war er so breit, dass sie das gegenüberliegende Ufer nur anhand des Waldes erkennen konnten.

Wirklich gefährlich geworden war es bisher nicht, obwohl es schon unheimlich gewesen war, als mehrere Krokodile aus dem Dickicht ins Wasser geglitten und den beiden Booten neugierig gefolgt waren. Laut Cucca in der Hoffnung, dass es sich um Fischerboote handelte, von denen der eine oder andere Leckerbissen für sie abfiel.

Ein anderes Mal hatte eine Anakonda ihren Weg gekreuzt. Behauptete zumindest Bianca. Pearl war sich sicher, dass es sich bloß um einen Baumstamm oder eine Ranke aus verfilzten Pflanzenresten gehandelt hatte.

Sie fragte sich ernsthaft, wie es Bianca geschafft hatte, einen der wenigen Plätze in der begehrten Expedition zu ergattern. Gerüchten zufolge hatte sie was mit Marks laufen, doch das bezweifelte Pearl.

Außerdem war Bianca wirklich nicht hübsch. Ihr weißblondes Haar war strähnig, die helle sommersprossige Haut war inzwischen von der Sonne gerötet, die hellblauen Augen blickten wässerig, und ihre Figur war knabenhaft.

Andererseits waren manche Männer nicht besonders wählerisch, wenn es um Frauen ging.

Zu denen gehörte Geoffrey Marks jedoch sicherlich nicht. Er war Anfang fünfzig, schlank und durchtrainiert. Die sonnengebräunte Haut sah aus wie gegerbtes Leder, das grau melierte Haar fiel bis auf die Schultern. Hier im Dschungel trug er es meistens zurückgebunden, was sein Gesicht noch ha‍gerer aussehen ließ und ihm einen as‍ketischen Ausdruck verlieh.

Er hatte sich einen Bart wachsen lassen. Im Dschungel konnte man sich den Luxus, sich jeden Tag zu rasieren, nicht leisten. Außerdem schützte der Bartwuchs wenigstens einen Teil des Gesichts vor den nach Blut dürstenden Moskitos.

Für Pearl war alles, was Geoffrey von sich gab, wie das Evangelium für einen Christen.

Bianca und Melissa hielten sich dagegen mehr an Marks Assistenten Robert, allerdings aus gänzlich anderen Gründen. Wahrscheinlich war er schuld daran, dass Bianca überhaupt mit von der Partie war.

Pearl wünschte sich, ihre Kommilitoninnen würden sich mehr um David, Spencer und Chip kümmern. Seit sie zu dieser Expedition aufgebrochen waren, scharwenzelten die drei Nerds um sie herum und gingen ihr tierisch auf die Nerven.

Wobei Melissa natürlich die Finger von Chip lassen würde. Der war nämlich ihr jüngerer Bruder und gerade mal neunzehn. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, ständig Pearls Nähe zu suchen.

Geoffreys Sohn Till war da schon eher nach ihrem Geschmack. Aber der ernste junge Mann kam ganz nach seinem Vater und interessierte sich mehr für sein Fachgebiet und die Forschung als für irgendwelche Techtelmechtel. Aber gerade das fand Pearl so anzie‍hend an ihm.

Pablo Esteban und Mario Simoné, die beiden Studenten aus Manaus, tickten da zwar ähnlich, waren aber eben nicht die Söhne des Expeditionsleiters.

Der wiederum schien nur Augen für Mafalda Navarro zu haben, Professorin für Anthropologie an der UFAM, der staatlichen Universität von Manaus.

Pearl konnte es ihm nicht mal verdenken. Die knapp fünfzigjährige Wissenschaftlerin verfügte über jene einzigartige Schönheit und Anmut, wie sie außer den lateinamerikanischen Frauen wohl nur den Spanierinnen und Mexikanerinnen zu eigen war. Das dichte schwarze Haar trug sie hochgesteckt, was ihren schlanken Hals noch länger erscheinen ließ. Kirschrote Lippen, schmale Wangen und dunkle Augen unter fein geschwungenen Brauen.

Sie teilte sich ein Zelt mit ihrer As‍sistentin Melissa, was wiederum be‍deutete, dass sich Pearl am Abend bis in die Nacht Biancas Gejammer anhören musste.

Die schlief jetzt endlich. Pearl hätte das gerne genutzt, um selbst etwas Schlaf zu finden, doch sie war mit Melissa zur ersten Wache eingeteilt. Danach blieben ihr gerade noch vier Stunden, dann würden sie frühstücken und wieder aufbrechen.

Laut Professorin Navarro würden sie vielleicht schon morgen auf ein isoliert lebendes Volk treffen, das angeblich am Grund einer tiefen Schlucht zwischen gigantischen Tafelbergen lebte. Die Anthopologin hatte in Briefen und Tagebuchaufzeichnungen spanischer Konquistadoren erstmals von der möglichen Existenz dieses Volkes erfahren und sich mit Professor Marks aus Cambridge in Verbindung gesetzt. Der war sofort Feuer und Flamme gewesen und hatte binnen kürzester Zeit eine Expedition auf die Beine gestellt.

Mafalda Navarro hatte ihre Kontakte zu den Yanomami spielen lassen, und jetzt, knapp zwei Monate später, standen sie kurz davor, Geschichte zu schreiben. Allein das hätte Pearls Laune eigentlich bis in schwindelerregende Höhen schießen lassen müssen.

Aber nachts, um zwölf, umschwirrt von Moskitos in einem stickigen Dschungel, war es schwer, optimistisch zu sein ...

Klatsch!

Der nächste Moskito zerplatzte unter Pearls Hand. Zu spät, wie sie unschwer an dem blutigen Brei erkannte, der von dem blutsaugenden Insekt übrig geblieben war. Angewidert wischte Pearl die Hand an der Hose ab.

»Warum stechen die Biester eigentlich dich nicht?«, wollte Pearl von der Studentin aus Manaus wissen. Melissa stammte aus den USA, genau genommen aus Kansas, studierte aber in Brasilien, um ihrem Steckenpferd näher zu sein, indigene Völker des Regenwaldes.

Die schlaksige Melissa zuckte mit den Achseln und grinste schief. »Anscheinend schmeckt dein Blut besser als meins.«

»Ha, ha«, machte Pearl. »Gib's zu, du hast irgendein spezielles Spray oder 'ne Salbe. Oder irgendwas gegessen, das die Viecher fernhält.«

»Nö, aber rate mal, warum ich mich genau entgegen der Windrichtung vor das Feuer gesetzt habe? Der Qualm vertreibt die Moskitos.«

»Vielen Dank, dass du mir das erst jetzt sagst.«

»Du hast ja nicht gefragt. Hat euch niemand erklärt, wie ihr euch im Dschungel zu verhalten habt?«

»Die Lehrstunde über Moskitos muss ich wohl verpasst haben. Es hieß nur, dass wir genügend Mückenspray einpacken sollten.«

Melissa kicherte. »Toller Ratschlag. Das hilft vielleicht für die Biester bei euch zu Hause, die Dschungel-Moskitos lachen höchstens darüber.«

»Wie machen das eigentlich die Eingeborenen?«

»Da solltest du am besten Cucca fragen. Bis dahin ...«

Ein Keckern im Dickicht ließ Me‍lissa abrupt verstummen.

»Was war das?«, zischte Pearl.

»Ein Affe«, murmelte die Amerikanerin. »Irgendetwas muss ihn aufgescheucht haben.«

»Und was?«

»Ein Raubtier, schätze ich mal.«

»Und da bleibst du so ruhig?«

Melissa schürzte die Unterlippe. »Das Raubtier hat es auf den Affen abgesehen, nicht auf uns.«

»Bist du sicher?«

»Ziemlich. Aber wenn du dich si‍cherer fühlst, gehe ich mal nachschauen.« Die Studentin beugte sich vor und zog einen brennenden Ast aus dem Feuer.

Pearl hielt das für einen schlechten Scherz, doch Melissa ergriff auch die Machete und trat selbstbewusst zwischen den Zelten hindurch auf das Dickicht zu, in dem das Geräusch erklungen war.

Pearl zog ebenfalls einen Ast aus den Flammen und folgte ihrer Kommilitonin. Sie überlegte gerade, ob sie Robert oder Marks wecken sollte, da fegte ein kräftiger Windstoß über die Lichtung und brachte das Feuer zum Flackern.

Pearl hielt den Atem an. Das war kein Wind gewesen, da war etwas über sie hinweggeflogen. Etwas Großes. Ein Vogel? Oder ein Flughund? Quatsch, die lebten doch gar nicht in Südamerika. Und die gefürchtete Vampirfledermaus war kaum größer als ein Spatz.

Ein dumpfer Laut, der einem erstickten Schrei ähnelte, hallte über den Zeltplatz.

Die Studentin drehte sich um. »Melissa!«

Doch ihre Kommilitonin war verschwunden.

»Melissa!«, keuchte Pearl erschreckt.

Sie lief auf die Stelle zu, an der ihre Kommilitonin eben noch gewesen war. Dort lag nur noch der brennende Ast.

Nach zwei Schritten blieb Pearl abrupt stehen. Nein, entschied sie, es war besser, sie weckte Marks. Und Cucca. Der wusste bestimmt, was hier vor sich ging.

Auf dem Absatz machte sie kehrt ...

Und stieß einen lauten Schrei aus.

Keine zwei Schritte vor ihr stand Mafalda Navarro. »Was ist passiert?«, fuhr sie die Studentin an. »Warum schreist du hier so herum?«

»Da ... da ist was gewesen!«

»Wo ist etwas gewesen?«

»Ich ...« Pearl schaute sich um. »Ich weiß es nicht. Zuerst war es bloß der Schrei eines Affen. Melissa wollte nachschauen und ...«

»Allein?«

»J-ja! A-aber dann ... Ich wollte ihr hinterher, aber dann fiel mir ein, dass wir uns nicht vom Feuer entfernen sollten. Und dann ... dann war da ... dieses Geräusch.«

»Was für ein Geräusch?«

»Ein Rauschen und Flattern. Wie von einem großen Vogel. Er muss ganz dicht über uns hinweggeflogen sein.«

Pearl legte den Kopf in den Nacken und schaute in den sternenklaren Nachthimmel, in der Erwartung, dort den Schatten des Tieres zu Gesicht zu bekommen.

Doch das Firmament blieb leer. Leer bis auf die zahllosen Sterne und den zunehmenden Mond, der wie ein halb geschlossenes Auge auf sie herabblickte.

Pearl senkte den Kopf – und zuckte zusammen.

Mafalda grinste.

»Was ... was finden Sie denn daran so lustig? Glauben Sie, ich ... ich hätte mir das bloß eingebildet?«

»Hauch mich mal an!«

Die Studentin wurde wütend. »Ich habe nicht getrunken. Das ist kein Scherz, verdammt! Melissa ist wirklich verschwunden!«

Der Reißverschluss des am nächsten stehenden Zeltes wurde aufgezogen. Es war ihr eigenes, das sie sich mit Bianca teilte. Deren blonder Schopf schob sich ins Freie. »He, was ist denn da los?«

»Nichts!«, entfuhr es Pearl. »Geh wieder schlafen!«

»Das hörte sich aber nicht nach nichts an.«

Pearl lag bereits eine scharfe Erwiderung auf der Zunge, doch sie schluckte sie hinunter. Was, wenn sich Melissa tatsächlich bloß einen dummen Scherz erlaubte?

Weitere Zelte wurden geöffnet. Palbo und Mario krochen heraus. Als sie hörten, was geschehen war, schüttelten sie nur grinsend die Köpfe.

Pearl schoss das Blut in den Kopf. Sie kam sich auf den Arm genommen vor.

Mafalda Navarro klatschte in die Hände. »So, ihr hattet euren Spaß. Mario, Pablo. Ihr bleibt hier und übernehmt die nächste Wache! Pearl, leg dich hin!«

Die Studentin zögerte. Trotz der Wut musste sie an das Geräusch und den Windstoß denken. Egal, ob sich Melissa nun einen Scherz erlaubte oder nicht, sie wusste, was sie gehört hatte.

»Und was ist mit Melissa?«, fragte sie daher.

Mafalda Navarro winkte ab. »Die taucht schon wieder auf.«

Doch Melissa blieb verschwunden.

Pearl brauchte lange, um in den Schlaf zu finden. Als ihr endlich die Augen zufielen, wurde sie von einem Schrei geweckt.

Das war definitiv kein Affe gewesen.

Pearl schnellte in die Höhe.

Ein Licht blendete sie. Bianca hatte ihre Taschenlampe eingeschaltet und hielt den Strahl genau in Pearls Gesicht.

»Verdammt, halt das Ding woanders hin!«

»Hast du das auch gehört?«, flüsterte das Mädchen.

»Bin ja nicht taub.« Plötzlich musste sie an das Geräusch von vorhin denken. An das Flügelschlagen und den Windstoß.

»He, wo willst du hin?«, rief sie, als Bianca auf den Zelteingang zukroch.

»Nachsehen, was denn sonst?«, lautete die leicht genervte Antwort.

Bevor Pearl etwas erwidern konnte, zog Bianca den Zelteingang auf.

Im selben Moment erklang der nächste Schrei.

Das war weder ein Affe, noch ein Studentenwitz. Der Schrei war in höchster Not ausgestoßen worden, daran zweifelte Pearl keine Sekunde.

Pearl brach der kalte Schweiß aus, eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken, ihr Puls raste.

»Bianca, was ...?«

Plötzlich wurde die blonde Studentin von einer unvorstellbaren Kraft aus dem Zelt gerissen.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte Pearl auf den Zelteingang. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, doch nur einer blieb hängen.

Ein Raubtier!

Dasselbe Raubtier, das Melissa geschnappt hatte. Es war zurückgekehrt.

Weitere Schreie folgten.

»Was geht denn hier draußen vor sich?«, hörte sie Geoffrey Marks rufen. »Wer ...«

Die Frage endete in einem lang gezogenen Schrei.

»Haut ab!«, brüllte Spencer. »Verschwindet, ihr Drecksviecher!«

Ein dumpfer Schlag. Feuer prasselte. Spencer Burke kreischte, als würde er am Spieß stecken.

Pearls Augen füllten sich mit Tränen. Sie war unfähig, sich zu rühren.

Das Feuer draußen vor dem Zelt loderte hoch empor. Ein Schatten bewegte sich darauf zu. Ein Tier? Aber was für ein Tier? Pearl vermochte es nicht zu sagen. Das Ding bewegte sich halb gehend, halb hüpfend.

Ein Kopf auf einem langen dürren Hals pendelte von einer Seite zur anderen, zuckte nach unten. Spencers Kreischen verstummte, als hätte jemand einen Schalter umgelegt.

Ein weiterer Schatten tauchte vor dem Zelt auf, verdunkelte den Schein des Feuers. Pearl hielt den Atem an, ihre Unterlippe zitterte. In ihrem Schädel hallte immer wieder dasselbe Mantra wider.

Bitte, geh weg. Bitte, geh weg. Bitte ...

Lange, dünne Spinnenbeine, nackt und unbehaart, schoben sich durch den Spalt in das Innere des Zelts. Erst als sie sich krümmten und die Hälften zur Seite drückten, begriff Pearl, dass es Finger waren. Finger mit sichelförmig gebogenen Krallen.

Nein, keine Finger, das waren Zehen. Die Klaue eines riesigen Vogels.

Pearl wimmerte.

Eine schwarz befiederte Schwinge tauchte auf. Pearl erwartete, den mit Federn bewachsenen Körper eines gewaltigen Vogels zu erblicken. Sofort dachte sie an einen Geier. Aber trieben die sich nicht eher in den Anden herum?

Pearls Gedanken rissen ab. Das war kein Vogelkörper, der sich in das Zelt schob. Die bleiche Haut war nackt. Brust und Bauch erinnerten an den Rumpf eines Menschen, der aber so verwachsen war, dass die Kreatur kaum aufrecht gehen konnte. Arme und Beine stammten hingegen eindeutig von einem riesigen Greifvogel, einem Gänsegeier oder Kondor vielleicht.

Zwischen den Schultern wucherte ein dichter Kragen aus schmutzigweißen Federn. Ein langer grauer Hals ragte daraus empor. Er krümmte sich, damit das Wesen seinen Schädel in das Zelt schieben konnte.

Pearl Waters glaubte, den Verstand zu verlieren.

Das war nicht der Kopf eines Geiers, sondern der eines Menschen. Eines Mannes mit strähnigem schwarzem Haar und jettschwarzen Augen. Die Lippen verzogen sich zu einem Grinsen und entblößten zwei Reihen gelblich schimmernder Reißzähne.

Endlich löste sich Pearls Starre. Die Studentin schrie. Sie schrie wie noch nie zuvor in ihrem Leben.

Sie schrie auch noch, als sich die Zähne in ihre linke Wade bohrten und sie vom Feldbett gezerrt und aus dem Zelt geschleift wurde.

Doch es war niemand mehr da, der sie hören oder ihr zu Hilfe eilen konnte.

Der internationale Flughafen von Manaus gehört zu den fünf größten und am meisten frequentierten des Landes Brasilien. Was durchaus bemerkenswert ist, da die meisten ausländischen Fluggesellschaften ausschließlich die großen Flughäfen in den Metropolen Sao Paulo und Rio de Janeiro ansteuern.

Es lag schon einige Jahre zurück, dass ich in Brasilien oder allgemein in Südamerika zu tun gehabt hatte. Dass ich mal wieder nach Brasilien gereist war, lag vor allem an einer Person: Morgana Layton.

Ja, Morgana Layton, die Herrin der Wölfe, hatte mich angerufen und um Hilfe gebeten. Hätte mir jemand vor drei Jahren gesagt, dass dies passieren würde, hätte ich denjenigen für verrückt erklärt. Schon allein deshalb, weil die Werwölfin zu diesem Zeitpunkt tot gewesen war. Ich selbst hatte sie damals in Bulgarien mit einer geweihten Silberkugel erschossen.