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Eine Burg im Norden von London - hier sollte eine Vampir-Party stattfinden, inszeniert von einer großen Model-Agentur. In Wirklichkeit aber steckte die blonde Bestie Justine Cavallo hinter dem Event. Alle Gäste sollten zu Blutsaugern werden, und an diesem Abend würde sich auch das Schicksal von Denise Curtis entscheiden, der ehemaligen Werwölfin, die zu unserer Freundin geworden war. Und ebenso erfüllte sich die Bestimmung von Justine selbst, denn sie trank das Blut von Babylon.
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Seitenzahl: 154
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Inhalt
Das Blut von Babylon
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Impressum
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
von Ian Rolf Hill
»Du kannst gehen, Cherie.« Lonny Drake seufzte. »Ich glaub, da kommt niemand mehr.«
»Bist du sicher?«, fragte seine Assistentin. »Sie hat doch gesagt, um Mitternacht. Und jetzt ist es gerade mal halb eins. Du weißt doch, wie diese Models so drauf sind. Alles Diven.«
»Ja, genau«, knurrte Lonny. »Aber ich habe keine Lust, mich zum Narren halten zu lassen, Cherie. Wenn die beim ersten Bewerbungsgespräch schon nicht pünktlich ist, wie soll das erst werden, wenn sie unter Vertrag steht? Nein, Cherie, da mache ich nicht mit. Ich hätte mich nie auf diesen Blödsinn einlassen dürfen.«
»Gut, wie du meinst.« Seine Assistentin beugte sich vor, legte das Klemmbrett mit den Aufnahmeformularen auf den Glastisch und erhob sich von der Sitzgarnitur.
Lonny brachte sie zur Tür, ging noch einmal zur Toilette und dann zurück ins Büro, um den Laden dichtzumachen.
Wie angewurzelt blieb er auf der Schwelle stehen.
Hinter seinem Schreibtisch saß, die Füße lässig auf der Platte, eine blonde Schönheit mit puppenhaften Gesichtszügen.
»Na endlich«, säuselte sie, während sie mit einer Strähne ihres hellblonden Haars spielte. »Ich dachte, die Kleine verschwindet nie.«
»Was ...? Wie kommen Sie hier rein?«, krächzte Lonny. Aber noch während er die Frage stellte, ging ihm ein Licht auf. »Ah, ich verstehe. Cherie hat Sie reingelassen, während ich auf Toilette war. Sie sind doch Miss Cavallo, oder etwa nicht?«
»Sicher.« Die Blonde nahm die in Stiefeletten steckenden Füße von der Platte, erhob sich und kam um den Schreibtisch herum auf Lonny Drake zu.
Sie trug schwarze Hosen aus weichem Kunstleder, ein tief ausgeschnittenes Bustier und einen langen, altmodischen Mantel mit gelbem Innenfutter, der von einer Brosche in Form einer scheußlichen Dämonenfratze gehalten wurde.
Dicht vor Lonny blieb sie stehen und musterte ihn.
»Meine Freunde nennen mich Justine.« Sie streckte die Hand aus und fuhr mit den Fingern über das Revers seines Jacketts. »Und ich hoffe doch, dass wir Freunde sein werden.« Sie leckte sich über die Lippen. »Sehr gute Freunde, wenn du verstehst, was ich meine.«
Lonny Drakes Wut über die Unverfrorenheit dieser Person verpuffte mit einem Schlag.
Von der Blonden ging etwas Unheimliches, Bedrohliches aus.
Es war nicht allein ihr Blick, obwohl der schon ausgereicht hätte, um empfindsamen Gemütern Schauer des Entsetzens über den Rücken zu jagen. Die Blonde starrte ihn an wie die Schlange ein Kaninchen, das sie zu fressen beabsichtigt.
Gleichzeitig verströmte sie eine eisige Kälte, die Lonny unwillkürlich frösteln ließ. Diese Frau war eiskalt, und das nicht nur im übertragenen Sinne!
Er wich zurück und entzog sich ihrem Griff. »S-sorry, Ma'am.«
»Justine«, erinnerte ihn die Cavallo.
»Von mir aus. Aber ich habe Cherie nicht ohne Grund gebeten, unserem Treffen beizuwohnen. Allein schon aus Sicherheitsgründen, Sie verstehen.«
Die Blonde schürzte die Unterlippe. »Nein, das verstehe ich ganz und gar nicht.«
Lonny lachte hysterisch. Wollte die Cavallo ihn verschaukeln?
»Hören Sie, Miss. Erst bitten Sie um ein Treffen mitten in der Nacht ...«
»Ich bin nun einmal eine Nachteule.«
»... und dann warten Sie, bis ich allein bin, um in mein Büro einzudringen und sich an mich heranzumachen.«
»Na und? Gefalle ich Ihnen etwa nicht?«
»Scheiße, Sie sehen fantastisch aus. Und das wissen Sie auch. Nur an Ihrem Modegeschmack müssen wir noch dringend arbeiten.«
»Was stimmt denn mit meinem Outfit nicht?«
»Oh, es ist perfekt. Sofern Sie zu einer Halloween-Party wollen. Oder einem Treffen der Gothic-Fetischisten. Und dann Ihr Haar.«
»Was ist mit meinem Haar?«
»Es ... es ist viel zu hell für Ihre blasse Haut. Vielleicht passt es zu einem spitzen- oder rüschenbesetzten Kleid im viktorianischen Stil, aber nicht zu so einem alten Dracula-Fetzen. Und dann auch noch mit gelbem Innenfutter. Ich bitte Sie!«
Je länger Lonny redete, desto sicherer fühlte er sich. So war es schon immer gewesen. Wenn er nervös war, plapperte er nun einmal gern. Am liebsten über sein Steckenpferd: Mode!
»Okay, das reicht jetzt!«, zischte die Blonde. »Ich bin nicht meinetwegen hier.«
»Nicht?« Jetzt war Lonny doch ein wenig überrascht. So sehr, dass er über den Rand seiner getönten Brille hinwegschaute, die sowieso nur ein modisches Accessoire war.
»Nein. Und ich bin auch nicht hier, um Sie zu verführen und hinterher mit Missbrauchsvorwürfen zu erpressen. Also entspannen Sie sich!«
»Äh, okay ...«
Diese Justine Cavallo wurde ihm mit jeder Minute, die er mit ihr verbrachte, unheimlicher.
»Es geht um drei ... Freundinnen von mir.«
»Drei? Puh, das wird schwierig. Der Markt ist hart umkämpft, müssen Sie wissen. Aber ich ... ich kann ja mal einen Blick auf sie werfen. Haben Sie einen Katalog dabei? Oder ...«
Justine lächelte. Es sah aus, als würde ein Wolf die Zähne fletschen.
Lonny zuckte zusammen, als er die verlängerten Eckzähne bemerkte. Diese Cavallo war anscheinend tatsächlich auf dem Gothic-Trip.
»Viel besser«, sagte sie. »Ich habe meine Freundinnen gleich mitgebracht!«
»Wie bitte?«
Justine klatschte in die Hände. »Ihr könnt reinkommen!«
Lonny hörte Schritte auf dem Parkett vor der Tür, die nach seiner Rückkehr ins Büro nicht wieder ins Schloss gefallen war.
Langsam drehte er sich um und traute seinen Augen kaum, als er die dralle Schönheit mit dem lackschwarzen Haar erblickte, die sich als Erste in den Raum schob. Ihre Haut war weiß wie Schnee, die Lippen blutrot geschminkt, die dunklen Augen glichen tiefen, schmutzigen Teichen.
Oh, diese Frau wusste genau, was sie wollte. Das spiegelte sich auch in ihrer Kleidung wider, einem blutroten Kleid aus wallendem Brokat, das sie aussehen ließ wie die Wiedergeburt der Blutgräfin Erzsébet Báthory.
Die Frau, die ihr folgte, war zierlicher, aber nicht weniger faszinierend. Die Haut schimmerte bronzefarben, allerdings nur, weil sie entsprechend gepudert war. Doch das tat ihrer Erhabenheit keinen Abbruch.
Das blauschwarze Haar umgab ihr Gesicht wie ein Helm und betonte das kleine spitze Kinn und die hochstehenden Wangenknochen.
Oh ja, so musste Kleopatra ausgesehen haben. Dazu passte auch das ärmellose weiße Gewand, das von einem goldenen Gürtel gehalten wurde. Die Füße steckten in Sandalen.
Und dann war da noch die Dritte im Bunde.
Eine schlanke hochgewachsene Frau mit raspelkurzem Haar und fahler bläulich-grauer Haut. Die nubische Herkunft stand ihr ins Gesicht geschrieben. Sie war am modernsten gekleidet und trug einen maßgeschneiderten Hosenanzug, der den androgynen Eindruck, den sie verströmte, noch verstärkte.
Bei ihrem Anblick musste Lonny Drake sofort an die junge Grace Jones denken. Eine Frau, die auf ihn stets eine magische Anziehungskraft ausgeübt hatte, obwohl er sich ansonsten nicht viel aus Frauen machte. Zumindest nicht in sexueller Hinsicht.
»Nun?«, fragte Justine hinter ihm. »Habe ich zu viel versprochen?«
Lonny schüttelte den Kopf.
»Das dachte ich mir.« Die Blonde trat neben ihn und deutete auf die Schönheit im roten Kleid. »Darf ich vorstellen? Lilitu!«
Die ausgestreckte Hand wanderte zu der ägyptischen Prinzessin.
»Igereth!«
Und weiter zu Grace Jones.
»Machalath!«
Lonny schüttelte erneut den Kopf. »Was sind das denn für Namen?«
»Sumerische. Beziehungsweise babylonische.«
»Um Himmels willen«, entfuhr es Lonny. »Das kann sich ja kein Mensch merken. Da fällt uns doch bestimmt was Besseres ein.«
»Ich fürchte, sie bestehen auf diese Namen.«
»Wenn sie für meine Agentur arbeiten wollen, dann brauche ich auch Namen, die vermittelbar sind.«
Justine warf den Kopf in den Nacken und lachte schallend. »Was? Oh, Sie dachten, wir wollen für Sie arbeiten? Nein, nein, mein Freund, es verhält sich genau andersherum. Sie werden für uns arbeiten.«
Lonny glaubte, sich verhört zu haben. »Wie bitte?«
»Zeigt es ihm!«
Ein animalisches Fauchen wehte ihm entgegen. Die Härchen in seinem Nacken sträubten sich. Die drei Frauen hatten ihre Münder geöffnet und stießen Laute aus, die an Raubkatzen erinnerten.
Fingerlang ragten die dolchspitzen Eckzähne aus den Oberkiefern.
»Scheiße, ihr habt ja alle diesen Blödsinn im Mund. Okay, Mädels, der Spaß ist vorbei. Das hier ist eine professionelle Modelagentur und keine Geisterbahn. Also ...«
Lonny Drake kassierte einen derben Stoß in den Rücken, der ihn auf die drei Frauen zutrieb.
Sie fingen ihn auf, hielten ihn fest.
Drake brach der kalte Schweiß aus. Die Körper dieser Frauen waren ebenfalls eiskalt.
»Amüsiert euch ein bisschen«, zischte Justine.
Das ließen sich die Vampirinnen nicht zweimal sagen. Wie ausgehungerte Wölfe stürzten sie sich auf Lonny.
Mitleidlos blickte Justine Cavallo auf ihre drei neuen Schwestern, die ihrem Opfer die Kleider vom Leib rissen.
Lonnys Schreie erstickten in einem feuchten Gurgeln, als ihm die hinter ihm stehende Lilitu die Zähne in den Hals schlug.
Igereth schmiegte sich an seine linke Seite und vergrub die Hauer in der entsprechenden Halsschlagader. Nur Machalath suchte sich eine andere Stelle. Sie zerrte Drake die Hose herunter und vergrub ihr Gesicht zwischen seinen Schenkeln.
Er stöhnte.
Bis der ehemalige Engel der Unzucht und Hurerei den Kopf in den Nacken warf und ihre Zähne in der Oberschenkelarterie versenkte. Wie ein hungriger Wolf zerrte sie daran, dann spritzte ihr das Blut in einem dicken Strahl in den Rachen.
Engel der Unzucht und Hurerei. Das waren Lilitu, Machalath und Igereth einst gewesen, bevor sie von Lilith verschlungen worden waren. Kurz nachdem Asmodis, der Fürst der Finsternis, eine empfindliche Niederlage hatte einstecken müssen und fast von Sinclair mit dem Engelstöter vernichtet worden war.*
Justine Cavallo hatte das Finale nicht miterlebt. Sie war von der Großen Mutter in eine nahe gelegene Höhle gelotst worden, wo sie den Zaubermantel ihrer früheren Verbündeten Assunga gefunden hatte. Die Schattenhexe war von Matthias, dem ersten Diener Luzifers, vernichtet worden.
Justine hatte den Mantel an sich genommen und war in die Hexenwelt zurückgekehrt, die Schauplatz einer mörderischen Schlacht geworden war.
Und dort hatte sie ihre neue Bestimmung erfahren.
Justines Erinnerungen
Justine Cavallo materialisierte in den Trümmern von Caversheen.
Mehr war von dem Hexendorf, das außerhalb der Zeit, in einer anderen Dimension, existierte, nicht übrig geblieben, nachdem Luzifer und seine Heerscharen in diese Welt eingefallen waren.
Sie waren auf der Suche nach dem Engelstöter gewesen, jenem sagenumwobenen Schwert, mit dem der Erzengel Michael Luzifer einst aus dem Himmel verbannt und in die Verdammnis gestoßen hatte. Mit diesem Schwert wollte sich der gefallene Engel nun an seinen Brüdern rächen.
Dabei war er es, dem es an den Kragen gehen sollte. Für den Lilith das magische Schwert erobert hatte.
Justine schritt durch die schwelenden Ruinen.
Von den Bewohnerinnen fehlte jede Spur. Schwer zu sagen, ob einigen die Flucht gelungen war. Die meisten hatten wohl den Tod gefunden.
Sie selbst hatte gegen Baals Leichenvögel gekämpft, die zuerst in diese Welt eingedrungen waren. Sie waren die Vorhut von Luzifers Streitmacht gewesen, angeführt von ihrem Götzen Baal, der von Lilith in seine Schranken gewiesen worden war.
Kurz darauf war sie von der Großen Mutter auf eine neue Mission geschickt worden. In Südfrankreich hatte sie Baphomet beschwören sollen, den Dämon mit den Karfunkelaugen, damit John Sinclair ihn vernichten konnte.
Der Plan war gescheitert, nicht zuletzt wegen des Geistes von Maria Magdalena, der in Sophie Blanc steckte, der Frau des Templerführers Godwin de Salier.
Trotzdem hatte Lilith am Ende gesiegt. Justine aber war mit einem Hubschrauber nach Deutschland geflogen. Nur um festzustellen, dass sie zu spät gekommen war.
Und jetzt lag Caversheen in Trümmern, und Assunga, die Schattenhexe, war nur noch Staub und Asche.
Gedankenverloren strich Justine über den Zaubermantel, den Lilith angeblich aus der Haut eines Schamanen hergestellt hatte. Er verlieh seinem Träger die Fähigkeit zur Teleportation. Nicht nur innerhalb einer Dimension, sondern auch über deren Grenzen hinaus und – angeblich – sogar durch die Zeit.
Letzteres hatte Justine noch nicht ausprobiert, sie wusste nur von Assunga, dass dies möglich war. Leider konnte sie sie nicht mehr fragen.
Nicht zum ersten Mal fragte sich die Vampirin, ob sie um ihre Verbündete trauerte.
Justine dachte an die vielen Stunden, die sie mit Assunga im Bett verbracht hatte. Doch das war bloß die pure Lust gewesen. Sie hatte keine Liebe für die Schattenhexe empfunden, dazu war sie als Untote gar nicht imstande. Alles, was sie für Assunga verspürt hatte, war ein Gefühl von Dankbarkeit. Dafür, dass sie ihr Obdach gewährt hatte, einen Rückzugsort, an dem sie ihre Kräfte sammeln konnte.
Doch damit war es nun vorbei.
Caversheen war zerstört!
»Justine!«
Die Vampirin horchte auf, als sie die vertraute Stimme vernahm. Sie drehte sich um und sah eine zierliche Gestalt, eingehüllt in ein vor Schmutz starrendes und in Fetzen hängendes lilafarbenes Samtkleid.
Lulu!
Die junge Hexe flog Justine entgegen und umarmte sie, drückte ihren warmen, zitternden Körper an die kalte Brust der Untoten. Lulu blutete aus zahlreichen Abschürfungen, Kratzern und Schnitten. Der Geruch des Blutes war betörend.
Obwohl Justine erst vor wenigen Stunden zwei Opfer bis auf den letzten Tropfen ausgesaugt hatte, spürte sie bereits neuen Durst.
Doch sie würde sich hüten, Lulu auszusaugen. Ihr Hexenblut war für sie ungenießbar. Auch wenn es verdammt verführerisch roch ...
Justine griff nach den Schultern der jungen Hexe und schob sie zurück. Lulus blasses Gesicht war verquollen. Sie musste viel geweint haben.
»Was ist passiert?«
»Es war furchtbar, Justine. Astaroth hat uns angegriffen. Hätte die Große Mutter nicht ihre Diener Eurynome und Amducias geschickt, wären wir alle draufgegangen.«
»Also sind noch mehr von euch entkommen?«
Lulu nickte und wischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht. »Nur ein paar. Die Dämonen haben uns bis in den Wald verfolgt.«
»Was ist mit Eleonore?«
»Tot! Und Giselle auch. Obwohl ...«
»Obwohl was?«
»Sie ... sie war nicht mehr sie selbst, verstehst du?«
»Nein, ich verstehe kein Wort. Was ist geschehen?«
»Mandragoro hat uns gerettet.«
»Mandragoro?«, murmelte Justine nachdenklich.
O ja, sie kannte Mandragoro. Der Pflanzen- und Umweltdämon hatte sie sogar schon mal in sein Reich entführt, ehe er sie, aus ihr bislang noch unerfindlichen Gründen, zurück in die Hexenwelt geschickt hatte.*
»Ja, er ... er hat gesagt, dass dies hier ab sofort seine Welt sei. Die Große Mutter hätte sie ihm geschenkt und ...«
»Das ist nicht ganz richtig!« Lulu wurde von einer weiteren Frauenstimme unterbrochen, die Justine ebenfalls kannte. »Eigentlich hat sie ihm schon vorher gehört.«
Justine drehte sich um, und da stand sie.
Eine spärlich bekleidete Frau von zierlichem Wuchs. Das lange Haar hing weit den Rücken hinunter, der fransige Pony reichte bis zu den Brauen, und darunter leuchteten eisgraue Augen. Die Lippen waren zu einem spöttischen Lächeln verzogen.
Sie trug hautenge Overknees aus blauem Schlangenleder, ein knappes Höschen bedeckte die Scham, eine Weste die kleinen Brüste.
»Das ist ja Isabell!«, entfuhr es Lulu.
Justine nickte langsam, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. »Du magst sie vielleicht unter diesem Namen kennen, doch in Wirklichkeit ist sie jemand anderes.«
»Und wer?«
»Die Große Mutter Lilith!«
Gegenwart
Cherie Walters mochte nicht immer die Letzte sein, die ging, aber sie war definitiv die Erste, die kam. Als Assistentin von Lonny Drake hielt sie die organisatorischen Fäden der Modelagentur in der Hand. Ihre Aufgabe war es nicht nur, die jungen Frauen und Männer bei Laune zu halten und dafür zu sorgen, dass niemand aus der Reihe tanzte, sondern in erster Linie die Terminkoordination.
Lonny war derjenige, der die Models auswählte, der die Kontakte knüpfte und die Deals mit den Designer-Büros, den Mode-Labels und den Werbeagenturen abschloss. Dafür hatte er ein gutes Gespür. Etwas, das in dieser Branche unabdingbar war, wenn man Erfolg haben wollte.
Nur gestern Abend schien ihn dieses Gespür verlassen zu haben. Noch jetzt konnte Cherie bloß ihren braunen Wuschelkopf schütteln, wenn sie an die sonderbare Anfrage dachte. Sicher, es war nicht ungewöhnlich, dass in einer Modelagentur bis spät in die Nacht gearbeitet wurde. Die Bewerbungsgespräche wurden allerdings zu normalen Bürozeiten durchgeführt.
Cherie warf einen Blick auf die Uhr. Sie musste sich sputen. Für zehn Uhr war ein Fotoshooting für zwei junge, vielversprechende Männer anberaumt, Lorenzo und Pascal. Zwei glutäugige, gut gebaute Latinos, die Cherie sicherlich auch nicht von der Bettkante gestoßen hätte.
Es gab nur zwei Probleme: Erstens waren Models für sie als Assistentin tabu – auch untereinander wurden Techtelmechtel nicht gerne gesehen –, und zum anderen war sie nicht der Typ, für den sich Kerle wie Lorenzo und Pascal interessierten. Sie hatte mindestens fünfzehn Kilo Übergewicht, und ihre Nase war viel zu knubbelig.
Beides nagte seit ihrer Jugend an ihrem Selbstbewusstsein.
Der Umstand, dass sie mit Anfang dreißig noch beziehungsweise schon wieder Single war und sich ihre Wohnung einzig mit einem Perserkater namens Jean-Baptiste teilte, machte die Sache nicht besser.
Davon abgesehen waren Beziehungen mit Models ohnehin nicht von langer Dauer. Die meisten von denen kreisten emotional nur um sich selbst.
Doch das bedeutete ja nicht, dass frau nicht mal träumen durfte.
Gedankenverloren öffnete Cherie die Tür, machte Licht und öffnete dann die Tür zu ihrer Linken. Dahinter lag die Garderobe, die gleichzeitig auch als Wartezimmer fungierte.
Cherie zog ihre dünne Strickjacke aus und hängte sie an den Haken. Die Tasche verstaute sie in einem der Schließfächer. Anschließend führte ihr Weg in die gegenüberliegende Küche. Ihre erste Amtshandlung war stets das Aufsetzen von Kaffee.
Ohne Koffein wäre die Modebranche längst den Bach runtergegangen, pflegte Lonny stets zu sagen, wenn sie sich mal wieder im Scherz darüber beklagte, dass sie ein wandelndes Klischee sei, dessen Funktion als Assistentin darin bestand, Kaffee zu kochen. Meistens fügte er dann noch völlig ernsthaft hinzu, dass sie die wichtigste Person in diesem Laden sei, ohne die gar nichts funktionieren würde, und manchmal glaubte sie ihm das sogar.
Sie mochte Lonny. Er war nicht nur ihr Chef, sondern auch ein guter Freund. Keiner von diesen affektierten, arroganten Fatzken, von denen es in der Branche nur so wimmelte.
Selbstverständlich kam der Kaffee auch hier aus einem Vollautomaten, aber im Gegensatz zu Lonny und allen anderen, die in der Agentur ein- und ausgingen, war Cherie die Einzige, die sich mit diesem Monstrum auskannte. Und das Schlimmste, was passieren konnte, war, dass die Maschine erst einmal einen Reinigungsdurchlauf machen oder Kaffee und Wasser nachgefüllt werden mussten. Also erledigte sie dies stets als Erstes.
Anschließend lüftete sie gut durch und schaltete die Computer ein.
Vor Lonnys Büro hielt sie verdutzt inne. Die Tür war bloß angelehnt, und ein seltsamer, süßlich-metallischer Geruch hing in der stickigen Luft. Die Fenster waren abgedunkelt.
Cherie runzelte die Stirn. Warum hatte Lonny das getan?
Sie drückte die Tür auf und übertrat die Schwelle. Sie wollte auf die Fenster zugehen, als sie die Schlieren auf dem Fußboden bemerkte.
Wahrscheinlich war Lonny beim Hinausgehen die Kaffeetasse runtergefallen.
Cherie seufzte und wollte die Plissees aufziehen, da vernahm sie das Poltern aus dem Waschraum, der hinter einer schmalen Tür in der Ecke von Lonnys Büro lag.
Noch während sie sich umdrehte, sah sie, wie die Tür aufschwang und eine Gestalt über die Schwelle torkelte.
»Nicht das Fenster aufmachen!«
Cherie Walters erschrak bis ins Mark.
»Lonny!«, entfuhr es ihr. »Wie ... wie siehst du denn aus?«
