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Es war einfach unfassbar: Ich, der Geisterjäger John Sinclair aus dem 21. Jahrhundert, stand der lebenden Legende Shimada gegenüber! Shimada, der im altertümlichen Japan Kaiser werden wollte - der erste Schritt zur Weltherrschaft! Gleichzeitig - nein, in einer ganz anderen Zeit! - hatten Suko, Shao und der Monsterdämon Xorron einen Pakt geschlossen und machten Jagd auf die Conollys, die sich in zwei zerstörerische Drachen verwandelt hatten. Und es war nicht auszuschließen, dass Bill und Sheila dies nicht überleben würden ...
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Seitenzahl: 138
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Inhalt
Die goldenen Drachen von Osaka
Grüße aus der Gruft
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Impressum
Cover
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsbeginn
Impressum
(Teil 2 von 2)
von Ian Rolf Hill
»Halt drauf, Kenji! Immer draufhalten!«
Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination starrte Abigail O'Hara auf das Tablet, auf dem die Bilder der Nachrichtendrohne in Echtzeit und absolut ruckelfrei übertragen wurden.
Was zunächst nach einer ganz gewöhnlichen Massenkarambolage ausgesehen hatte, hatte sich binnen kürzester Zeit als wahres Schreckensszenario entpuppt.
Irgendetwas war in dem Polizeirevier an der Hokko-dori vor sich gegangen. Etwas, das unmittelbar mit dem Unfall zu tun hatte, an dem ersten vorsichtigen Schätzungen zufolge vierzehn Fahrzeuge und siebenundzwanzig Personen beteiligt waren, darunter ein Riese mit milchig-weißer Haut.
Schüsse waren erklungen. Und dann waren die Drachen aufgetaucht, die jetzt wie Geckos an der Fassade des Polizeireviers emporkrochen.
Abigail O'Hara sah im Geiste schon die Schlagzeile vor Augen.
Die goldenen Drachen von Osaka – Terroranschlag oder Werbegag?
Tief in ihrem Inneren wusste Abigail, dass es falsch war, sich an dem Leid anderer Menschen derart zu ergötzen. Aber, verflixt noch mal, sie war nun mal Journalistin, und das hier konnte leicht zu der Story werden. Der Story ihres Lebens.
Die achtundzwanzigjährige Irin mit dem naturroten Haar, den Sommersprossen und den grünen Augen lebte seit vier Jahren in Osaka. Vor Kurzem hatte sie ihr Studium der Medienwissenschaften abgeschlossen und vom Fleck weg einen Job bei einem der renommiertesten Nachrichtenkanäle des Landes bekommen.
Das Gefühl, den absoluten Hauptgewinn gezogen zu haben – Jackpot, Baby! –, war schnell Ernüchterung gewichen.
Ihr war es egal, ob man sie wegen ihres Geschlechts eingestellt hatte oder weil sie mit ihrem roten Haar einen Hauch Exotik verbreitete – Hauptsache, sie konnte sich beweisen.
Nur wie sollte sie das tun, wenn sie bloß die Assistentin spielen oder für Mai-Lin einspringen durfte, wenn diese mal wieder erkrankt war?
Mai-Lin war die Wetterfee von TVO, ein graziles Geschöpf, bei dem man jederzeit befürchten musste, dass der nächste Windstoß es mit sich fortriss.
Nach den bislang ungeklärten Vorfällen auf der Weltausstellung, bei denen mehrere Menschen ums Leben gekommen waren, hatte Abigail sofort ihren Chef angerufen und sich angeboten, vor Ort zu berichten. Doch der hatte sie kalt abblitzen lassen.
Das sei keine Story für eine Anfängerin!
Einen Tag später war es zu diesem ›Unfall‹ gekommen.
»Hier, O'Hara«, hatte ihr Boss gesagt. »Darüber können Sie berichten. Zeigen Sie mal, ob Sie das Zeug für die großen Storys haben!«
Oh, und wie sie ihm das zeigen würde!
»Näher ran, Kenji! Ja, so ist's gut!«
»Verflixt, Abby!«, entfuhr es ihrem Kollegen. »Was sind das für Viecher? Sind ... sind die echt?«
»Sehen ziemlich echt aus. Du bist doch der Geek von uns beiden. Ich hatte gehofft, dass du mir sagen kannst, was das für Dinger sind.«
»Die ... die sehen ein bisschen aus wie King Ghidorah!«
»King wer?«
»King Ghidorah. Der dreiköpfige außerirdische Drache. Der Erzfeind von Godzilla!«
Godzilla hatte einen Erzfeind? Abigail lief rot an. Vier Jahre in Japan, und trotzdem hatte sie das Gefühl, nur einen Bruchteil der hiesigen Kultur zu kennen, zu der Godzilla definitiv gehörte, auch wenn sie den Filmen nie etwas hatte abgewinnen können.
Der Reiz, einem Typen im Gummikostüm dabei zuzusehen, wie er Modellstädte zertrampelte, hatte sich ihr nie erschlossen.
Vielleicht sollte sie Kenji besser zuhören, wenn er das nächste Mal einen seiner berüchtigten Monologe über Kaijus, Videospiele oder Mangas hielt.
Für einen Moment hatte sich Abigail dazu hinreißen lassen, sich einmal mehr in irgendwelchen sinnlosen Gedankenschleifen zu verlieren, doch dieser Moment genügte.
Plötzlich war das Bild weg.
»Was ist passiert?«
»D-d-das M-Monster hat d-die D-D-Drohne ...«
»Was?«
»Gefressen!« Kenji starrte sie mit seinen großen, haselnussbraunen Augen an, als hätte sie sich gerade selbst in solch ein Monster verwandelt. »D-der Drache hat sie gefressen!«
Die Nachricht rüttelte Abigail O'Hara endgültig wach.
Jetzt oder nie!
»Schnapp dir deine Kamera und komm mit!«, rief sie, griff sich das Mikro und stieß die Tür des Vans auf.
Wenn sie eine richtig gute Story haben wollte, musste sie auch etwas dafür tun.
»Ich will nicht gegen euch kämpfen. Wir haben denselben Feind. Also lasst ihn uns gemeinsam bekämpfen!«
Diese Worte hatte kein Geringerer als Xorron, der Herr der Zombies und Ghouls, ausgesprochen.
Suko verstand die Welt nicht mehr. Da stand er nun, gemeinsam mit seiner Partnerin Shao, mitten in Osaka, der drittgrößten Stadt Japans, vor einem Polizeirevier, aus dem soeben zwei goldene Drachen gekommen waren, die sich einen mörderischen Kampf mit ihrem Todfeind Xorron geliefert hatten.
Und eben dieser Todfeind wollte sich jetzt mit ihnen verbünden?
Das war der pure Irrsinn.
Wenn John das gehört hätte ...
Der Gedanke an seinen Freund, der spurlos verschwunden war, half Suko, sich zu besinnen. Das und die Schreie der umstehenden Menschen, die auf der Straße standen und nach oben glotzten, dorthin, wo die Drachen soeben über die Kante der Gebäudefassade auf das Dach krabbelten.
»In Ordnung!«, sagte Suko.
Was hätte er auch sonst sagen sollen? ›Nein, danke‹ und Xorron die Dämonenpeitsche um die Ohren hauen? Darüber konnte der Herr der Zombies und Ghouls bloß lachen. So wie über jede andere ihrer Waffen.
Seine Haut war unzerstörbar!
Sie widerstand Feuer, Säure und sogar Granatbeschuss. Xorron hätte wahrscheinlich selbst eine nukleare Detonation unbeschadet überstanden. Irdische Waffen konnten ihm nichts anhaben. Es gab aber welche, die ihm gefährlich werden konnten. Magische Waffen.
Leider standen sie Suko und Shao nicht zur Verfügung.
Sie hatten also die Wahl, sich gegen Xorron zu stellen und zu riskieren, dass er ein Massaker unter all den unschuldigen Menschen anrichtete, während die beiden goldenen Drachen weiterhin in Osaka wüteten – oder die dämonischen Geschöpfe gegeneinander antreten zu lassen.
Darüber musste Suko nicht lange nachdenken, um eine Entscheidung zu fällen.
Xorrons Antwort bestand aus einem Nicken. Er hatte nichts anderes erwartet. Und nicht zum ersten Mal beschlich Suko das Gefühl, als wäre dieser Koloss mit der milchig-weißen transparenten Haut, durch die grün ein menschliches Skelett schimmerte, weitaus weniger dumm, als er mitunter wirkte.
»Wir müssen aufs Dach!«
Shao war gedanklich schon einen Schritt weiter. Sie hatte die Zeit genutzt, um die Armbrust wieder schussbereit zu machen.
Vier Bolzen standen ihr noch zur Verfügung. Damit konnte man die Drachen zwar nicht töten, aber zumindest irritierte sie der Beschuss. Vielleicht hatte Shao auch noch nicht die richtige Stelle getroffen.
Im Laufschritt eilte sie auf die aufgebrochene Tür zu.
Xorron folgte ihr mit federnden Schritten. Das Beben unter seinen Füßen bildete sich Suko wohl bloß ein.
Der Inspektor wiederum folgte dem Herrn der Zombies und Ghouls. Pakt hin oder her, er würde diesem Ungeheuer bestimmt nicht den Rücken zuwenden.
Das Innere des Polizeireviers sah aus, als wäre drinnen eine Bombe explodiert. Ein Wunder, dass die verglaste Loge den Kampf der drei Ungeheuer fast unbeschadet überstanden hatte. Nur eine der schusssicheren Scheiben wies einen dicken Sprung auf.
Metalldetektor und Drehkreuz hatten dagegen nur noch Schrottwert.
Sie brauchten sich nicht lange zu orientieren und wandten sich nach rechts, dem Treppenhaus zu.
Shao hatte die erste Stufe eben erreicht, da bemerkte Suko eine Bewegung aus den Augenwinkeln. Jemand hatte sich in der Loge versteckt.
Jetzt sprang der junge Beamte mit gezückter Waffe hervor und legte auf Suko an.
Der Mann war bleich wie die Wand, mit weit aufgerissenen und vor Schock starren Augen glotzte er die Neuankömmlinge an. Obwohl er die Pistole mit beiden Händen hielt, zitterte der Lauf.
»K-keine Bewegung!«, brüllte er auf Japanisch.
Selbst wenn Suko die Worte nicht verstanden hätte, die Botschaft wäre unmissverständlich gewesen.
Suko blieb stehen und hob die Arme.
»Nicht schießen!«, rief er auf Englisch, da ihm auf die Schnelle die japanischen Vokabeln nicht einfielen.
Zum Glück war Shao versierter.
»Wir wollen Ihnen nichts tun!«, sagte sie. »Wir wollen nur helfen.«
Als Zeichen ihres guten Willens spreizte sie die Arme. Die Armbrust hielt sie in der rechten Hand, während sie mit der linken nach der Halbmaske griff.
Der Polizist ließ es zu, dass sie die Maske abnahm und ihm ihr Gesicht zeigte.
»Nehmen Sie die Waffe runter, bitte!«, sagte Shao eindringlich.
Sukos Herz klopfte bis zum Hals. Sie vergeudeten hier bloß wertvolle Zeit. Er überlegte bereits, ob er nah genug stand, um den Knaben zu überwältigen, als Xorron reagierte.
Knurrend stampfte er auf den Mann zu.
»Xorron, nicht!«, rief Shao, doch da war es schon zu spät.
Die Waffe in der Hand des jungen Mannes krachte, doch die Kugeln konnten dem Herrn der Zombies und Ghouls nichts anhaben. Als gefährliche Querschläger jaulten sie in alle Richtungen davon. Suko duckte sich und wich zurück, während Xorron unbeirrt weiterging.
Den Beamten verließ der Mut. Er ließ die leer geschossene Waffe fallen, wirbelte herum und gab Fersengeld.
Xorron nickte zufrieden. Hätte nur noch gefehlt, dass er sich die Hände abstaubte.
Langsam drehte er sich zu seinen neuen Verbündeten um.
»Weiter!«, sagte er, mehr nicht.
Suko deutete mit dem Kopf auf die Treppe. »Nach dir!«
Xorron bleckte sein mörderisches Gebiss, setzte sich aber in Bewegung. Acht Treppen und vier Stockwerke später stoppten sie vor einer stählernen Tür.
»Abgeschlossen«, rief Shao.
»Weg da!«, sagte Xorron nur.
Shao gehorchte.
Der Herr der Untoten trat auf Höhe des Schlosses gegen das stählerne Blatt.
Es dellte sich ein, sprang aber nicht auf. Der Riegel saß zu fest im Rahmen, der in den Beton eingelassen war.
Xorron brüllte vor Wut, zog den Kopf zwischen die Schultern und stürmte auf die Tür zu. Mit seinem gesamten Gewicht warf er sich dagegen, und schon flog Xorron samt Tür und Rahmen, den er einfach aus dem Beton gebrochen hatte, ins Freie.
Er stolperte, hielt sich aber auf den Beinen und richtete sich auf.
Suko huschte hinter ihm auf das Dach, Shao bildete die Nachhut.
Von den Drachen war nichts zu sehen, dafür aber zu hören. Es war ein tiefes, kehliges Fauchen, schräg über und zugleich hinter ihnen.
Suko rieselte es kalt über den Rücken. Er fuhr herum.
Sie klammerten sich über ihnen an den Aufbau, der wie ein Schornstein rechts aus dem Gebäude ragte. Vermutlich diente er nicht bloß als Erweiterung des Treppenhauses, sondern beherbergte auch die Klimaanlage.
Die beiden Drachen waren bis an die Spitze gekrochen. Eine der goldenen Echsen hing kopfüber an der schiefergrauen Betonmauer, hob den Schädel und brüllte. Die mörderischen Fangzähne blitzten im Sonnenlicht, die Barteln am Unterkiefer zitterten.
Suko fürchtete, das Monster könne Feuer speien, da riss Shao bereits die Armbrust hoch und schoss.
Der Bolzen schnellte von der Sehne und fuhr dem Ungeheuer tief in den Rachen. Blut spritzte.
Der Drache klappte das Maul zu und – stieß sich ab.
Der Inspektor erwartete den Angriff. Seine Hand glitt unter das Sakko, wo der Stab des Buddha steckte. Aber noch bevor er das magische Wort rufen und die Zeit für fünf Sekunden anhalten konnte, geschah etwas, mit dem wohl keiner von ihnen gerechnet hatte.
Das Monster entfaltete zwei gewaltige Schwingen.
Die Flughäute blähten sich im Wind, der urplötzlich auffrischte und den Drachen in die Höhe riss.
Genau in dem Augenblick, als Xorron mit einem gewaltigen Satz in die Höhe sprang, um das Monster am Schweif zu packen.
Seine Finger verfehlten den Drachen um Haaresbreite, und das Reptil schraubte sich hoch hinauf in den abendlichen Himmel.
Gleichzeitig sprang der zweite Drache in die Tiefe.
Suko stürzte an den Rand des Dachs.
Mit einem Aufschrei warf er sich nach hinten, als die Bestie auf einmal aus der Häuserschlucht aufstieg, an Suko vorbeiraste und dann seinem Artgenossen folgte, der längst außer Reich- und Schussweite war.
Ein Schatten fiel über Suko.
Xorron!
»Ihr habt versagt!«, grollte der Herr der Ghouls und Zombies. Seine Stimme klang verächtlich.
Dem Inspektor lag schon eine geharnischte Antwort auf der Zunge, doch er schluckte sie herunter, als sich Xorron abwandte und auf das Treppenhaus zuging. Der dämonische Riese war an keiner Diskussion interessiert.
Sukos Blick begegnete dem von Shao, die blass geworden war. Er konnte sich denken, weshalb. Schließlich waren sie nicht wegen der Drachen hergekommen. Auch nicht wegen Xorron. Sie waren gekommen, um ihre Freunde Sheila und Bill Conolly zu suchen, die angeblich hier in diesem Gebäude festgehalten wurden.
Plötzlich bekam Suko Angst um seine Freunde!
Vor mir saß Shimada, die lebende Legende!
Ich war mir sicher, dass er es war, auch wenn er anders aussah, als ich ihn in Erinnerung hatte.
Aber Shimada wurde ja nicht nur die lebende Legende genannt, sondern auch der Herr der tausend Masken.
Bereits seine Stimme war mir vage bekannt vorgekommen, auch wenn es Jahre zurücklag, seit ich sie zuletzt gehört hatte, denn in der Zeit, aus der ich kam, war Shimada längst vernichtet.
Ob seine Seele im Reich des Spuks dahinvegetierte oder die Götter für ihn eine andere Strafe auserkoren hatten, war mir nicht bekannt. Es spielte momentan auch keine Rolle für mich, da ich mich nun einmal nicht länger in meiner Zeit aufhielt, sondern in die Vergangenheit katapultiert worden war.
Zu verdanken hatte ich das vermutlich Kataya, einem Dämon der chinesischen Mythologie, der das Urböse und gleichzeitig auch das Gute verkörpert.
Ich hatte mich darauf vorbereitet, gemeinsam mit Suko und Shao nach Japan zu fliegen, wo meine Freunde Bill und Sheila auf unseren Todfeind Xorron getroffen waren. Ausgerechnet auf der Weltausstellung in Osaka, wo der Herr der Zombies und Ghouls zusammen mit Hel, der Totengöttin der nordischen Mythologie, aufgetaucht war.
Um besser gerüstet zu sein, hatte ich die Ninja-Krone mitnehmen wollen. Noch in der Asservatenkammer des Yards war mir Pandora erschienen – Xorrons frühere Herrin, die ebenfalls in Japan aufgetaucht war. Pandora hatte mich in ihr Reich entführen wollen, um mich an Xorron auszuliefern. Der Herr der Zombies und Ghouls hasste mich aus tiefstem Herzen, schließlich war ich es gewesen, der ihn vor Jahren getötet hatte.*
Übrigens mit dem Schwert des Ninja-Dämons Shimada, der Xorrons Todfeind gewesen war.
Allein deshalb glaubte ich nicht an einen Zufall, dass es mich ausgerechnet in eine Zeit verschlagen hatte, in der der Dämon noch existierte.
Erkannt hatte ich ihn an seinen blauen Augen, deren Blick ich wohl nie vergessen werde. Er ähnelte dem von Luzifer oder seinem mittlerweile vernichteten Diener Matthias. Auch Lilith und der ehemalige Erzdämon Belphégor hatten sich durch dieselbe Augenfarbe ausgezeichnet.
Dennoch war Shimadas Blick irgendwie anders.
Er war kalt und gnadenlos, keine Frage, aber er war nicht so abgrundtief böse.
Wenn ich nur an die Augen von Luzifer oder Lilith dachte, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ihre Blicke fraßen sich wie Säure in die Seelen der Menschen, höhlten sie aus und hinterließen leere Hüllen. Sie löschten alles Gute aus, bis nur noch das Böse übrig war.
In Shimadas Augen indes spiegelte sich eine beängstigende Teilnahmslosigkeit.
Die lebende Legende ging bedenkenlos über Leichen. Shimada ergötzte sich nicht am Leid seiner Opfer, er schlachtete sie mit erschreckender Kaltblütigkeit ab.
Das hatte er offenbar auch jetzt wieder vor, immerhin hatte er die Gestalt des hiesigen Kaisers angenommen. Davon ging ich zumindest aus.
Ich hatte gehofft, Antworten zu erhalten, indem ich mein Gegenüber in ein Gespräch verwickelte, doch Shimada hatte mich durchschaut und der Lüge bezichtigt.
Für einen Moment war ich vor Schreck wie gelähmt.
Shimada war ein mächtiger Dämon, dem ich es ohne Weiteres zutraute, dass er meine Gedanken las. Wie würde er reagieren, wenn er von seiner eigenen bevorstehenden Vernichtung erfuhr?
»Verzeih, mein Kaiser«, erwiderte ich devot. Ich senkte sogar das Haupt, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte. »Ich weiß nicht, wovon Ihr sprecht.«
»Wirklich nicht?« Shimada griff neben sich und hob einen Beutel an, den ich kannte.
In diesem Beutel hatte der Shogun des Heerlagers meine wenigen Habseligkeiten gesammelt, darunter auch meine Waffen: das Kreuz, die Beretta und den silbernen Nagel.
Der Ninja-Dämon griff hinein.
Ich hielt den Atem an. Was würde geschehen, wenn Shimada meinen Talisman berührte?
Das Kreuz, das von dem Propheten Hesekiel im babylonischen Exil gefertigt worden war, zählte zu meinen mächtigsten Waffen. Vor ihm hatte selbst der Teufel Respekt gehabt.
Mächtige Dämonen waren schon zu Staub zerfallen, wenn sie es nur berührt hatten.
Und Shimada?
Lächelnd zog er das Kreuz aus dem Beutel. Es rutschte aus seiner Hand und blieb an der Kette hängen, die Shimada zwischen Daumen und Zeigefinger hielt.
Der grüne Schein des Höllenfeuers, das Shimada in einer Schale entfacht hatte, die zwischen uns am Boden stand, reflektierte auf dem Silber, in das zahlreiche Symbole der weißen Magie eingraviert waren. Darunter die Initialen der vier Erzengel, das Allsehende Auge des Osiris und sogar die heilige Silbe der indischen Mythologie.
Nur die japanische beziehungsweise ostasiatischen Mythologien hatte Hesekiel nicht berücksichtigt beziehungsweise berücksichtigen können. Und daher machte Shimada die Berührung auch nicht das Geringste aus. Das geweihte Silber allein war zu schwach, um dem Dämon zu schaden.
