John Sinclair 2467 - Ian Rolf Hill - E-Book

John Sinclair 2467 E-Book

Ian Rolf Hill

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Beschreibung

Nach dem Tod ihres Lebensgefährten Chris Ainsworth steht Jane Collins vor den Trümmern ihres Lebens. Doch die Detektivin ist fest entschlossen, den Mörder zur Strecke zu bringen - auch wenn es sich dabei um Asmodis handelt, den Teufel persönlich! Als ein junger Mann in der Bretagne behauptet, durch ein uraltes keltisches Ritual mit den Toten sprechen zu können, schöpft Jane Hoffnung. Kann sie durch den sogenannten "Grabschläfer" ein letztes Mal Kontakt zu Chris aufnehmen?

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Seitenzahl: 140

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhalt

Cover

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Der Grabschläfer

Grüße aus der Gruft

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Impressum

Cover

Inhaltsverzeichnis

Inhaltsbeginn

Impressum

Der Grabschläfer

von Ian Rolf Hill

»Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?«

1. Korinther 15:55

   

»Ich vermisse ihn so sehr!«

Camille wischte sich mit dem Ärmel über die Augen und verschmierte dadurch den schwarzen Lidschatten. Nicht, dass es noch einen Unterschied gemacht hätte. Das Make-up war durch das Weinen ohnehin schon hoffnungslos zerlaufen, sodass Camille aussah, als trüge sie eine bizarre Harlekin-Maske.

Ihrer ätherischen Schönheit tat dies jedoch keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Jules' Empfinden nach hatte sie nie schöner ausgesehen.

Es war das erste Mal, dass er sie weinen sah. Vielleicht war er sogar der erste Mensch überhaupt, der dies tat, denn Camille galt allgemein als unnahbar, kalt und distanziert.

Doch das, so wusste Jules jetzt, war bloß Fassade. Für ihn war es der ultimative Vertrauensbeweis, und ihm wurde klar, dass er dieses Mädchen, dieses junge, wunderschöne Geschöpf, aus tiefstem Herzen liebte.

»Ich tu es, Camille! Ich werde heute Nacht am Grab deines Vaters schlafen!«

»Wirklich?«

Jules Baptiste nickte. Seine geliebte Camille so zu sehen, so traurig und voller Gram, machte ihm das Herz schwer.

Nur aus diesem Grund hatte er sich entschieden, dieses sonderbare Ritual durchzuführen.

Er hatte schon häufiger auf Gräbern geschlafen, nur nie auf denen fremder Menschen. Und hätte Camille ihn heute nicht mit auf den Friedhof genommen, um ihm das Grab ihres Vaters zu zeigen, hätte er sich wohl kaum dazu hinreißen lassen.

Doch jetzt, da er die Hoffnung in ihren großen dunklen Augen sah, wusste er, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

»Ja«, murmelte er.

Sein Blick glitt über das sorgfältig gepflegte Grab, bepflanzt mit Primeln, Stiefmütterchen und Vergissmeinnicht. Vor dem Grabstein stand eine gerahmte Fotografie von Louis Petit, die ihn zusammen mit seiner Tochter zeigte.

Es war am Tag ihrer Einschulung gewesen, und das kleine Mädchen, das kaum Ähnlichkeit mit der jungen Frau an seiner Seite hatte, strahlte übers ganze Gesicht.

Die Fotografie wurde von zwei Grablichtern eingerahmt, eines für den Verstorbenen, das andere für Camille, davor lag eine schwarze Rose.

Andere hätten es vielleicht für morbide oder gar ungesund gehalten, dass Camille für sich selbst ein Grablicht entzündete, doch für Jules war ihre Entscheidung vollkommen nachvollziehbar. Mit ihrem Vater war auch ein Teil von ihr selbst gestorben, daher war es absolut legitim, für sich ein Totenlicht auf das Grab des geliebten Menschen zu stellen.

»Ja, ich werde es tun!«, wiederholte Jules.

Er nickte, um seine Worte zu bekräftigen, so als müsse er sich selbst in seinem Entschluss bestärken. Als fürchte er, schwankend werden zu können und im letzten Moment noch einen Rückzieher zu machen.

»Danke.«

Camille schlang die Arme um seinen Körper und presste ihren Kopf gegen seine Brust. Jules war die plötzliche Nähe unangenehm.

O ja, er liebte und begehrte Camille von ganzem Herzen, doch nie hätte er sich angemaßt, sie anzufassen, zu berühren, vielleicht sogar zu küssen.

Camille war ein Kunstwerk. Die fleischgewordene Melancholie, in der Jules seine eigene Sehnsucht nach dem Tod wiedererkannte. Sie waren Seelenverwandte, dessen war er sich absolut sicher, und nicht nur, weil Camille das gesagt hatte.

Er spürte das Klopfen ihres Herzens an seiner Brust. Unbeholfen legte er die Arme um ihre Schultern.

»Du weißt ja gar nicht, was mir das bedeutet!« Camille drückte sich noch fester an ihn.

»Schon gut, das ... mache ich gerne ... für dich!«

Sie ließ ihn los und blickte zu ihm auf. Wimperntusche und Lidschatten malten zittrige Bahnen auf ihre alabasterweiße Haut. Die schwarz geschminkten Lippen schimmerten feucht.

Und ehe er sich versah, legte sie die kalten Hände mit den ebenfalls schwarz lackierten Nägeln an seine Wangen, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.

Es war nur ein flüchtiger Kuss, wie ein sanfter Hauch. Zärtlich und keusch, so wie Camille nun einmal war. Trotzdem durchfuhr es ihn wie ein Stromstoß. Er war wie elektrisiert. Für einen Moment war er unfähig, sich zu bewegen, etwas zu sagen.

»Heute Abend um halb elf!«, hauchte sie.

Dann lief sie davon.

Jules konnte gar nicht anders, als ihr nachzuschauen, wie sie mit wehendem Kleid zwischen den Grabsteinen entlangschwebte. Die Fledermausärmel flatterten mit ihrem schwarz gefärbten Haar um die Wette.

Es hätte Jules nicht gewundert, hätte sie sich in einen Raben verwandelt, um davonzufliegen.

Jules wartete, bis Camille verschwunden war. Dann verließ auch er den Friedhof, um nach Hause zu gehen. In wenigen Stunden ging die Sonne unter, dann würde er Camille wiedersehen. Hier, am Grab ihres Vaters, um mit seinem Geist Kontakt aufzunehmen.

Damit er ihnen verriet, ob Camilles Verdacht der Wahrheit entsprach. Dass er keines natürlichen Todes gestorben, sondern umgebracht worden war.

Und zwar von seiner eigenen Frau, Camilles Stiefmutter.

In Gedanken versunken, radelte Jules Baptiste nach Cadélac zurück.

Der Friedhof lag außerhalb des Dorfes, umgeben von einer brusthohen Mauer, die Camille und ihn vor allzu neugierigen Blicken schützen würde, wenn sie später hierher zurückkehrten.

Von Camille war weit und breit nichts zu sehen, dabei musste sie doch denselben Weg nehmen wie er. Es gab schließlich nur diese eine Straße, die nach Cadélac führte.

Oder war sie ebenfalls mit dem Fahrrad gekommen?

Die Vorstellung, Camille könnte auf einem Drahtesel fahren, befremdete Ju‍les. Das passte so gar nicht zu ihr. Abgesehen von dem Risiko, dass sich ihr flatteriges Kleid in den Speichen verfangen könnte, wirkte es viel zu profan für eine Person wie sie.

Außerdem hätte er es doch sehen müssen, wenn sie mit dem Fahrrad gekommen wäre. Hatte sie es vielleicht irgendwo versteckt und war den Rest zu Fuß gegangen?

Das war durchaus möglich, aber wahrscheinlich hatte sie nur irgendeinen Schleichweg benutzt, den er nicht kannte. Immerhin wohnte sie hier in Cadélac, während er aus dem Nachbarort Saint-Hovec stammte.

Andererseits passte das rätselhafte Verschwinden auch zu Camille. So war sie nun mal, und genau deshalb liebte er sie ja so sehr. Geheimnisvoll, rätselhaft und tiefgründig. Sie war der einzige Mensch, von dem er sich verstanden fühlte.

Wirklich verstanden ...

Tante Emilie war stets besorgt und einfühlsam, aber sie neigte auch dazu, ihn mit ihrer Fürsorge zu erdrücken. Manchmal reichte ihre bloße Anwesenheit, um ihm das Gefühl zu geben, keine Luft mehr zu bekommen.

Sie hatte nie eigene Kinder gehabt, und nachdem sie seine Vormundschaft übernommen hatte, hatte sie ihn mit mütterlicher Liebe überschüttet, ihn regelrecht darunter begraben. Dabei war er damals schon kein kleines Kind mehr gewesen. Selbst jetzt, wo er praktisch schon erwachsen war, konnte sie nicht aufhören, ihn zu betüddeln.

Um Saint-Hovec zu erreichen, musste er Cadélac durchqueren.

Das Dorf war so sauber, rein und weiß, als würde dort die Unschuld persönlich wohnen.

Kein Müll lag auf den Straßen, die Hecken waren sorgfältig gestutzt, die Vorgärten erblühten in frühherbstlicher Blumenpracht.

Touristen verirrten sich höchstens auf der Durchfahrt hierher und hatten den Namen des Ortes schon wieder vergessen, kaum dass sie ihn gelesen hatten.

Und das lag nicht allein am Fehlen einer Pension oder eines Gasthauses, es gab hier schlicht und ergreifend nichts zu besichtigen. Kein Schloss, keine Burg, ja, nicht einmal einen der sagenumwobenen Menhire, für die die Bretagne so berühmt war.

Auf Jules wirkte das Dorf wie eine sorgfältig gepflegte Parklandschaft.

Wen wunderte es da, dass Camille auf ihre ganz eigene Art und Weise dagegen aufbegehrte?

Zumal es nur wenige Gleichaltrige gab, und mit denen wollte sie nichts zu tun haben. Weil sie Camille sowieso nicht verstanden hätten, wie sie behauptete. Das konnte nur er, Jules Baptiste.

Sie hatte ihn schon immer fasziniert.

Bereits in der Schule, wo sie die meiste Zeit für sich geblieben war. So wie er. Zwei einsame, verlorene Seelen. Schon seltsam, dass sie nicht bereits dort zueinandergefunden hatten.

Jules erreichte den Ortsausgang von Cadélac. Die beiden Ortschaften lagen nicht einmal einen Kilometer auseinander.

Da der Weg leicht abschüssig war, brauchte Jules nicht mal in die Pedale zu treten, er konnte das Rad einfach rollen lassen.

Kalter Wind fuhr vom Atlantik her über das Land und brachte den Geruch des Meeres mit sich, obwohl die Küste noch fünfzig Kilometer entfernt lag.

Jules schloss die Augen und genoss den Wind, der sich in seinem wuscheligen dunkelbraunen Haar verfing. Für einen Moment stellte er sich vor, wie es wäre, wenn er jetzt frontal gegen ein entgegenkommendes Auto rollte.

Wie es sich wohl anfühlte, aus dem Sattel gehoben zu werden, über den Wagen hinwegzufliegen, frei wie ein Vogel, nur um wenige Sekunden später mit ungebremster Wucht auf den Asphalt aufzuschlagen?

Vor wenigen Wochen hätte ihm das wohl nichts ausgemacht, weil es einfach nichts gab, wofür es sich zu leben lohnte.

Doch das war jetzt anders. Jetzt gab es Camille, und Camille mochte ihn. Vielleicht liebte sie ihn sogar genauso sehr, wie er sie liebte. Warum hätte sie ihn sonst küssen sollen?

Also öffnete Jules die Augen. Aber es kam ihm ohnehin kein Auto entgegen.

Unangefochten erreichte er Saint-Hovec, das genauso langweilig und trist aussah wie Cadélac. Dasselbe galt für das Haus von Tante Emilie, das sich nicht im Geringsten von denen der anderen Einwohner unterschied.

Jules rollte bis vor die Einfahrt, in der Tante Emilies winziger, weinroter Peugeot stand.

Er stieg ab und schob das Fahrrad an dem Wagen vorbei auf den Hof, wo er es in den Schuppen stellte. Jules betrat das Haus durch die Hintertür, die direkt in die Küche führte. Tante Emilie stand dort am Herd vor dem Fenster und bereitete das Abendessen zu.

Er hatte ihren Blick bereits draußen vor der Tür gespürt, aber so getan, als hätte er ihn nicht bemerkt. Am liebsten wäre er durch die Vordertür gegangen und heimlich, still und leise in sein Zimmer geschlichen, um dort auf den Einbruch der Nacht zu warten.

Aber er wusste genau, dass er Tante Emilies Fragen nicht entgehen würde, also konnte er es genauso gut gleich hinter sich bringen.

»Wo warst du?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen oder in ihrer Tätigkeit innezuhalten. Wie besessen hackte sie auf den Möhren ein. »Ich habe mir Sorgen gemacht! Du bist nicht an dein Handy gegangen!«

Es sollte freundlich klingen, doch Jules hörte den Vorwurf deutlich heraus. Warum fragte sie überhaupt? Er war schließlich schon neunzehn.

»Hab's vergessen.« Das stimmte sogar. »Bin bloß ein bisschen in der Gegend rumgefahren.«

»In der Gegend herumgefahren«, wiederholte Tante Emilie. »Mein Gott. Ich habe mit Dr. Richard telefoniert. Du warst schon seit drei Wochen nicht mehr bei ihm. Er macht sich ebenfalls Sorgen.«

»Ich habe Dr. Richard nichts mehr zu sagen.«

»Aber es ist wichtig, dass du über deine Gefühle sprichst, mein Junge. Es ist nicht gut, alles in sich hineinzufressen.«

»Ich fresse es nicht in mich hinein«, behauptete Jules. Er spürte, wie ihm heiß wurde. »Und ich rede sehr wohl über meine Gefühle. Nur eben nicht mit Dr. Richard.«

Tante Emilie drehte sich zu ihm um. »Mit wem denn dann? Mit mir jedenfalls nicht!«

Jules erstarrte unter dem anklagenden Blick der älteren Frau wie die Maus vor der Schlange.

Sie trat zu ihm hin. »Mit wem redest du über deine Gefühle?« Tante Emilie ließ einfach nicht locker. »Sag es mir, ich möchte es wissen, damit ich beruhigt bin!«

»Mit ...« Er konnte fühlen, wie er rot wurde.

Tante Emilie verengte die Augen. »Es ist dieses Mädchen, nicht wahr? Camille!«

Er wich ihrem Blick aus. Genauso gut hätte er nicken können.

Tante Emilie seufzte theatralisch und ließ die Schultern hängen. »Ach, Jules. Ich habe dir doch schon einmal gesagt, dass sie keine gute Gesellschaft für dich ist.«

Da wurde er wütend. Wie konnte sie es wagen, so über Camille zu sprechen? »Warum nicht? Du kennst sie doch gar nicht!«

»Das stimmt, aber ... seid ihr Vater ... sie ist so ... sie wirkt immer so traurig. Ich habe die Befürchtung, dass sie dich noch weiter herunterzieht.« Hilflos rang Tante Emilie die Hände und kramte ihre Allzweckwaffe hervor: Plötzlich schwammen ihre Augen in Tränen. »Ich mache mir doch bloß Sorgen!«

Jules ballte die Hände. Er wollte so gerne wütend auf Tante Emilie sein, doch seine innere Stimme ermahnte ihn zur Nachsicht. Sie meinte es doch nur gut. Außerdem hatte er ihr viel zu verdanken. Ohne sie wäre er in irgendeine Pflegefamilie gesteckt worden, nachdem seine Eltern gestorben waren, oder – schlimmer noch – in ein Wohnheim.

Seine Wut verrauchte. Er öffnete die Fäuste. »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Tante Emilie. Es geht mir gut. Wirklich!«

»Ich habe doch nur dich, mein Junge.« Sie nahm ihn in die Arme, zog die Nase hoch und schaute ihn von unten her an. Ihr schwarzes Haar war vorzeitig ergraut. Obwohl sie gerade mal Mitte vierzig war, wirkte sie zwanzig Jahre älter. »Geh und wasch dir die Hände, mein Junge. Das Essen ist gleich fertig.«

»Kommst du?«, rief Tante Emilie von unten zu ihm herauf.

Jules hatte kaum genug Zeit gehabt, die Toilette aufzusuchen. Er fühlte sich beklemmt, bekam kaum Luft. Als aber sein Blick aufs Display seines Handys fiel und er Camilles Textnachricht las, fühlte er sich auf einmal wie befreit.

Ich bin so froh, dass ich dich habe!

Bis später!

Dahinter pulsierte ein schwarzes Herz, neben dem Icon eines Raben, Camilles Lieblingstier.

Jules atmete auf.

»Ich komme gleich!«, rief er nach unten.

Hastig tippte er die Antwort ein:

Für dich tue ich alles! Bis später. Ich freue mich!

Er wollte die Nachricht schon abschicken, als er kopfschüttelnd innehielt. Was schrieb er denn da für einen Unsinn?

Er löschte die Nachricht und schrieb stattdessen:

Ich weiß doch, wie viel dir daran liegt!

Er fügte ebenfalls ein Herz hinzu, dann legte er das Smartphone beiseite und griff in die Hosentasche, wo er die scharfen Kanten des kleinen Blisters ertastete. Er zog ihn heraus und betrachtete die länglich-ovale grüne Tablette, die darin eingeschweißt war.

Obwohl ihn das schlechte Gewissen plagte, würde er es tun.

Auf keinen Fall durfte Tante Emilie mitbekommen, was er vorhatte, dann würde sie ihn mit Sicherheit wieder einweisen lassen.

Jules ging hinunter, wo seine Tante schon mit dem Essen auf ihn wartete.

Appetit verspürte er keinen. Essen war für die Lebenden, er aber fühlte sich den Toten näher, und die brauchten keine Nahrung mehr.

Während der Mahlzeit versuchte Tante Emilie, ihn in ein Gespräch zu verwickeln. Jules antwortete einsilbig, so wie er es immer tat. Er wollte das Essen so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Danach half er Tante Emilie beim Abwasch.

»E-es tut mir leid«, sagte er nach getaner Arbeit. »Dass ich vorhin so schroff zu dir gewesen bin. Darf ich dir einen Tee kochen?«

Tante Emilie strahlte über das ganze Gesicht. Sie legte ihre zierliche, kalte Hand an seine Wange. »Du bist ein guter Junge, Jules.«

Bei diesen Worten zuckte er zusammen. Ahnte sie, was er vorhatte?

Doch dann wandte sie sich ab und schlurfte hinüber ins Wohnzimmer. Kurz darauf vernahm er das Plärren des Fernsehers. Vermutlich wollte sie wieder irgendeine ihrer kitschigen Romanzen gucken, die den zumeist weiblichen Zuschauerinnen eine heile Welt suggerierten, die es nicht gab, nie gegeben hatte und nie geben würde.

Neue Entschlossenheit ergriff Jules.

Er bereitete den Tee zu. Schließlich holte er die Tablette hervor, die ihm Camille gegeben hatte. Für einen Augenblick zögerte er. Sollte er die ganze Tablette nehmen oder nur die halbe?

Schließlich entschied er sich für die ganze. Tante Emilie trank den Tee nie aus, und das Letzte, was er wollte, war, dass sie frühzeitig erwachte und in Panik geriet, wenn sie feststellte, dass er nicht zu Hause war.

Die Tablette löste sich in dem heißen Wasser rückstandslos auf.

Jules verrührte den Tee, stellte alles auf ein Tablett und brachte es seiner Tante, die die Beine hochgelegt hatte. Sie war müde von der Arbeit.

Tante Emilie war Krankenschwester bei einem häuslichen Pflegedienst und eigentlich ständig erschöpft. Jules war sich sicher, dass die Tablette rasch Wirkung zeigen würde.

Und er sollte sich nicht täuschen.

Nicht mal eine Stunde später schnarchte Tante Emilie in ihrem Sessel vor sich hin, noch bevor der Abspann ihres Liebesfilms über den Bildschirm flimmerte.

Jules warf einen Blick auf die Uhr. Viertel nach neun. Noch über eine Stunde bis zur verabredeten Zeit, aber er hatte ja auch noch ein paar Dinge zu erledigen, ehe er sich auf den Weg machte.

Er schlich die Treppe hinauf und ging in sein Zimmer.

Zuerst legte er Kissen unter die Bettdecke, damit es auf den ersten Blick so aussah, als würde er im Bett liegen und schlafen. Sicher war sicher. Nur für den Fall, dass Tante Emilie vorzeitig erwachte. Einer genauen Prüfung würde die Attrappe zwar nicht standhalten, aber wenn überhaupt, würde Tante Emilie nur einen flüchtigen Blick ins Zimmer werfen.

Anschließend zog er unter dem Bett den zusammengerollten Schlafsack hervor, der sich an einem Riemen schultern ließ. Die Taschenlampe steckte er ein, das Handy nahm er diesmal auch mit, nur für den Fall, dass Camille etwas dazwischenkam.

Ihre Stiefmutter war mindestens ebenso wachsam wie Tante Emilie, nur um ein Vielfaches strenger!