Johnny Cash - Robert Hilburn - E-Book
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Robert Hilburn

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Beschreibung

»Die ultimative Johnny-Cash-Biografie.« Rolling Stone Johnny Cash gilt als eine der einflussreichsten Figuren der amerikanischen Musik- und Popkultur. Sein Leben war eine Achterbahnfahrt zwischen Weltruhm und Drogenabsturz, religiösem Eifer und Entzug. Der Südstaaten-Farmersohn entdeckte seine Liebe zur Gitarre und zur Musik während seines Aufenthalts als US-Soldat in Deutschland, schrieb 1953 in Landsberg am Lech seinen ersten Song. Bereits Ende der Sechzigerjahre war er erfolgreicher als die Beatles. 48-jährig erhielt er 1980 als jüngster lebender Künstler die höchste Auszeichnung der Country-Musik: die Aufnahme in die Country Music Hall of Fame. Robert Hilburn lernte Cash 1968 beim legendären Konzert in Folsom Prison kennen, über das er als einziger autorisierter Pressevertreter berichtete. Ausgehend von dieser persönlichen Erinnerung entwirft er ein facettenreiches Porträt vom Leben und Leiden des Musikers. Auch Zeitzeugen wie Sohn John Carter Cash, Tochter Rosanne Cash und Bewunderer wie Bob Dylan oder Bono von U2 kommen zu Wort und zeichnen ein intimes Bild der amerikanischen Pop-Ikone. »Hilburn hat ein glänzendes Buch über einen noch glänzenderen Musiker geschrieben.«Keith Richards »Robert Hilburn würdigt Johnny Cash als wegweisende Instanz der Country-Musik.« Patti Smith  »Höhlengeschichten und Liebessachen: Robert Hilburn widmet Johnny Cash eine kaum zu übertreffende Biographie.« FAZ

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Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.berlinverlag.de

Aus dem amerikanischen Englisch von Henning Dedekind und Werner Roller

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Berlin Verlag erschienenen Buchausgabe

1.Auflage 2016

ISBN 978-3-8270-7915-2

Die Originalausgabe erschien im Oktober 2013 unter dem Titel

Johnny Cash: The Life  bei Little, Brown and Company, New York.

© Robert Hilburn 2013

Diese Ausgabe erscheint in Übereinkunft mit

Little, Brown and Company, New York, USA

Alle Rechte vorbehalten

Für die deutsche Ausgabe

©Berlin Verlag in der Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2016

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Johnny Cash ist Songschreiber, Historiker, engagierter Kämpfer; ein Freund der Benachteiligten und Geplagten, ein Freund großer Männer; ein Führer in der weltlichen Sphäre und ein treuer Gefolgsmann in der spirituellen. Er ist durch und durch Entertainer. Als international bekannter Künstler trägt er die Liebe zu seinem Land und zur Country-Musik um die Welt. Obwohl sein Ansehen und sein Können stetig wachsen, bleibt der Mann in Schwarz mit beiden Füßen fest auf dem Boden. Er ist einer der beliebtesten und am meisten verehrten Stars der Welt.

Gedenktafel für Johnny Cash in der Country Music Hall of Fame in Nashville, Tennessee

1

DYESS UND DER TRAUM

I

Die vier Kilometer Fußmarsch von dem staatlich subventionierten Fünf-Zimmer-Farmhaus bis ins Ortszentrum des ländlichen Dyess im US-Bundesstaat Arkansas waren gerade lang genug, dass sich der kleine J. R. Tagträumen hingeben konnte. Jahrelang ging der dritte Sohn von Ray und Carrie Cash mit seinen Schulfreunden auf der schmalen Schotterstraße. Alle stellten sich vor, sie wären Cowboyfilm-Stars wie Gene Autry und Tex Ritter. Am meisten genoss es J. R. jedoch, wenn er allein auf der Straße war, besonders nachts, wenn sich die Dunkelheit wie ein Schutzschild gegen den Rest der Welt anfühlte, der es ihm gestattete, einem Traum nachzuhängen, der weitaus wichtiger war, als er es sich eingestehen wollte.

An solchen Abenden sang J. R. immer vor sich hin, wie er später Freunden erzählte, mit denen er auf seine Kindheit zu sprechen kam. Er habe dies zum Teil getan, um seine Nerven zu beruhigen, wenn er im Gras die Klapperschlangen rascheln oder ein paar Hundert Meter entfernt im Wald die herumstreifenden Panther heulen gehört habe. Jahre später schmunzelten einige seiner alten Kumpels und sogar seine jüngere Schwester Joanne bei dem Gedanken, dass es im Wald Panther gegeben haben sollte. Schlangen – ja, vielleicht sogar die eine oder andere Wildkatze. Aber von Panthern hatte noch nie jemand gehört. »Er hatte eine blühende Fantasie«, sagt A. J. Henson, der manchmal mit seinem Freund auf der Schotterstraße unterwegs war. Sogar Cash selbst räumte oft ein, dass er sich bei einer guten Geschichte niemals von Fakten beirren lasse. Wie Joanne sich ausdrückte, stand hinsichtlich der Jahre in Dyess eines jedoch außer Frage: J. R. sang für sein Leben gern.

Musik hatte für ihn etwas, das sogar noch magischer war als das Kino. Es war eine Faszination, die man ihm in die Wiege gelegt hatte. Seine Familie, insbesondere seine Mutter, hatte stets Trost und Inspiration in Liedern gesucht. Er war gerade in die Grundschule gekommen, da wusste J. R. bereits, dass er ein Sänger im Radio werden wollte, und begann, die Schotterstraße als seine eigene, geheime Bühne zu betrachten. Wenn er besonders gut gelaunt war, hielt er nach einem Song inne, blickte auf zum Mond von Arkansas und verbeugte sich.

Der erste Song, an den sich J. R. erinnern konnte, war die alte Hymne »I Am Bound for the Promised Land«. Er war erst drei Jahre alt, aber er stimmte in den Refrain mit ein, den seine Mutter während der 400Kilometer langen Fahrt in einem Pritschenwagen anstimmte, der die Familie und ihre wenigen Möbel quer durch Arkansas brachte: »Oh who will come and go with me? / I am bound for the Promised Land« (Oh, wer wird kommen und mit mir gehen? / Ich bin unterwegs ins Gelobte Land). Sie hatten seinen Geburtsort Kingsland im südlich gelegenen Hügelland des Staates verlassen und zogen nach Dyess, ins fruchtbare, ebene schwarze Deltaland in der nordöstlichen Ecke von Arkansas. Dank Franklin Delano Roosevelts New Deal wollten sie dort in Anspruch nehmen, was den Worten der Mutter nach ihr eigenes Gelobtes Land auf Erden war.

Die meiste Zeit während der zweitägigen Fahrt im März des Jahres 1935 kauerten sich J. R. und seine beiden älteren Brüder Roy (geboren 1921) und Jack (1929) unter einer Plane auf der Ladefläche des Lasters zusammen, um sich vor der eisigen Kälte und dem Regen zu schützen. Regelmäßig krachte der Wagen in tiefe Schlaglöcher, sodass die Jungen fürchteten, die Räder könnten sich jeden Augenblick lösen, was die Reise auf den schlammigen Straßen noch beängstigender machte. Ihre Mutter versuchte, sie und ihre beiden Töchter Reba (1934) und Louise (1923) mit Musik und der Versicherung zu beruhigen, dass Gott über die Familie wache.

Die Geschichte von Dyess hat ihre Wurzeln in der Großen Depression, während derer die meisten Farmer im Staat, darunter auch J. R.s Vater, ums Überleben kämpften. Als 1932 der Preis für einen Fünfhundert-Pfund-Ballen Baumwolle von 125 auf 35Dollar fiel, brach unter den Farmern Panik darüber aus, wie sie ihre Familien ernähren sollten. Präsident Roosevelt kam – so die beliebte Version mit einer komplizierten bürokratischen Vorgeschichte – mit einem Plan zu Hilfe, verzweifelten Arbeitern die Chance auf eine sicherere Zukunft zu geben. Über die Federal Emergency Relief Administration (FERA) wurden Mittel bereitgestellt, mit denen im ganzen Land kleine kooperative Gemeinden errichtet wurden, wo ausgewählte Farmer ein Zuhause, 8Hektar Land und einen jährlichen Zuschuss für Nahrung und Kleidung erhielten. Das soziale Experiment erforderte auch den Bau neuer Betriebs- und Dienstleistungsgebäude, etwa einer Baumwoll-Entkörnungsanlage, eines Gemischtwarenladens, eines Restaurants, einer Schule, eines Krankenhauses, eines Postamts und einer Tankstelle.

Unter der offiziellen Bezeichnung »Colonization Project No. 1« war Dyess eine der ersten Kooperativen. Im Mai 1934 hatten über 1300 arbeitstaugliche Sozialhilfeempfänger auf einem fast 6500 Hektar großen Streifen Land mit dem Bau von Häusern und Straßen begonnen. Zur selben Zeit begann die Regierung, Anträge für das Farm-Förderprogramm in Dyess entgegenzunehmen. Nur Kaukasier waren zugelassen. Es handle sich nicht um einen Akt der Wohlfahrt, sagte man den Bewerbern. Die Neuankömmlinge in der Stadt müssten das Land hart bearbeiten und dann den durch die Ernte, hauptsächlich Baumwolle, erzielten Gewinn dazu verwenden, der Regierung die Kosten für Unterkunft, das Land und die finanzielle Unterstützung zurückzuzahlen. Erst dann könnten sie die vollen Eigentumsrechte an Grund und Boden erwerben. Als Ray Cash im Radio von dem Dyess-Projekt hörte, beschloss er sofort, sich zu bewerben.

Im ganzen Land standen Tausende mittelloser Männer in den Regierungsbüros Schlange, um sich für eine der lediglich 500Farmen zu bewerben. Ray Cash schüchterte das nicht ein. Er stellte sich als der Typ hart arbeitender, fleißiger Familienvater und eisern patriotischer Amerikaner dar, den die Regierungsbehörden nach seinem Dafürhalten suchten. Auf väterlicher Seite reichten seine Wurzeln in Nordamerika bis ins Jahr 1667 zurück, als einer seiner Vorfahren, William Cash, auf dem Schiff Good Intent von Schottland aus den Atlantik überquerte und sich im Essex County in Massachusetts niederließ. Williams Nachkömmlinge zogen Anfang des 18.Jahrhunderts nach Virginia, wo Ray Cashs Großvater Reuben Cash geboren wurde. Nachdem Reubens Plantage im Bürgerkrieg von General William T. Shermans Truppen zerstört worden war, zog der ehemalige Konföderationssoldat 1866 nach Arkansas. Rays Vater William Henry Cash war damals sechs. Später wurde er Farmer und Baptist, der als Wanderprediger vier weit auseinanderliegende Bezirke betreute. Ray wurde 1897 als eines von zwölf Kindern geboren.

Im mündlichen Antragsverfahren für das Dyess-Projekt hob Ray nicht nur seinen Militärdienst hervor (er hatte während des Ersten Weltkrieges kurz in Frankreich gedient), sondern auch, wie hart er gearbeitet hatte, um seine Familie durchzubringen, als die Landwirtschaft unprofitabel geworden war. Er hatte alle möglichen Jobs angenommen, war kilometerweit zu Fuß gegangen, um in einem Sägewerk Holz zuzuschneiden, oder war auf einen Güterzug nach Charleston, Mississippi, aufgesprungen, um dort beim Rückbau einer Chemiefabrik zu helfen. Dennoch gab es keine Garantie dafür, dass man ihn auswählte. Ray wollte aber für sich und seine Familie eine gesicherte Lebensgrundlage schaffen. Daher litt er nach der strengen Befragung eine Woche lang an Schlaflosigkeit, bis er die frohe Nachricht erhielt. Ray Cash war einer von nur fünf Bewerbern aus dem gesamten Cleveland County, die für das Programm zugelassen wurden.

Nach der anstrengenden Lastwagenfahrt von Kingsland trafen die Cashs in ihrem neuen Haus in Dyess ein, das in den Unterlagen der Kolonie als Haus Nummer 226 in Straße 3 geführt wurde. Auf Fotos der ersten Dyess-Häuser wirken die Behausungen primitiv und spartanisch und erinnern an Walker Evans’ eindrückliche Bilder amerikanischer Armut während der Weltwirtschaftkrise. Tatsächlich war durch die tagelangen Regenfälle der Schlamm auf dem Gelände so tief und dick geworden, dass Ray den Laster ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt parken und J. R. den Rest des Weges tragen musste. Für die Cashs sah ihr neues Heim dennoch wie eine Villa aus. Es war weiß gestrichen, mit einer grünen Zierleiste, und statt Jutesäcken hatte es Glasscheiben in den Fenstern. Die siebenköpfige Familie inspizierte Haus und Scheune und bewunderte sie, wie Bauern eine Preiskuh bestaunen.

Die Begeisterung legte sich jedoch rasch, als Ray und sein ältester Sohn Roy mit der beschwerlichen Arbeit begannen, das Land urbar zu machen. In Cash. Die Autobiografie beschrieb Johnny Cash 1997 das unwirtliche Land der Kolonie als »Es war Dschungel – richtiger Dschungel. Pappeln und Eschen und Hickorybäume sowie Buscheichen und Zypressen. Die Bäume, Kletterpflanzen und Büsche bildeten an manchen Stellen ein solches Dickicht, dass es kein Durchkommen mehr gab. Ein Teil stand unter Wasser, ein Teil war reinster Schlamm.«

Wie Cash berichtete, beackerten sein Vater und sein Bruder das Land vom Morgengrauen bis zum Einbruch der Nacht, sechs Tage die Woche. »Sie begannen an der höchsten Stelle und arbeiteten sich Meter um Meter nach unten vor. Mit Sägen, Äxten und langen Macheten bahnten sie sich ihren Weg, und dann sprengten und verbrannten sie die Baumstümpfe.« So gewaltig war diese Schinderei, dass die Cashs bis zum Beginn der Pflanzperiode in jenem ersten Frühling nur etwa gut einen der acht Hektar freilegen konnten. Dutzende neuer Dyess-Bürger gaben auf, zogen weiter und murrten, das ganze Programm sei nichts als schöner Schein. Unvermeidlich waren auch die Gerüchte um politische Korruption – und selbst Außenstehende begannen Fragen zu stellen.

Die Mittel für die Kolonie kamen zwar von der Bundesregierung, doch mehr als irgendjemandem in Washington, D. C., verdankte sie ihre Existenz einem jungen Landbesitzer und Bezirkswahlausschuss-Mitglied aus Arkansas. Nach diesem Mann wurde die Kolonie schließlich benannt: William Reynolds Dyess.

Dyess nahm sich die Auswirkungen der Depression auf die Farmer im Staat sehr zu Herzen. Ab Anfang der 1930er-Jahre setzte er sich daher für ein Regierungshilfsprogramm für Farmer und deren Familien ein. Als er vom FERA-Programm hörte, nahm er Kontakt zu Harry Hopkins auf, dem Leiter des Programms in Washington, und erwirkte eine Zahlung von über drei Millionen Dollar. Gleichzeitig wurde Dyess zum FERA-Vertreter für Arkansas ernannt. Daraufhin wählte er ein Gebiet, das etwas über 30Kilometer entfernt von seiner Heimatstadt Osceola lag, um dort die Kolonie aufzubauen. Die Lage und der nachfolgende Landkauf ließen Zweifel laut werden. Als 1934 bekannt wurde, dass Dyess in Erwägung ziehe, sich als Gouverneur oder vielleicht sogar als US-Senator aufstellen zu lassen, begannen übereifrige Gegner, pingelige Fragen über die Kolonie zu stellen.

Das betreffende Gelände war Teil eines drei Bezirke berührenden Landstrichs in Arkansas, der als »versunkenes Land« bekannt war – ein Gebiet, das 1811 und 1812 von mehreren Erdbeben heimgesucht wurde, deren Zentrum etwa 45 bis 50Kilometer nordöstlich des künftigen Standortes von Dyess lag. Die Landschaft veränderte sich damals drastisch: Durch die von den Beben ausgelösten Erdbewegungen sanken zahlreiche Landstriche ab, an manchen Stellen bis zu 15Meter. Wasser sammelte sich und verwandelte einen Großteil des Geländes in ein Sumpfgebiet mit einer undurchdringlichen Vegetation und jener schwammigen Bodenqualität, welche die Ortsansässigen bisweilen als »Gumbo« bezeichneten.

Warum, so wollten Dyess’ Gegenspieler wissen, hatte der Programmleiter ausgerechnet diesen Landstrich ausgesucht – Land, das kein vernünftiger Farmer gewählt hätte? War der Kauf vielleicht ein Gefallen für Lee Wilson, einen Freund der Familie und Eigentümer des sumpfigen Geländes? Befürworter des Projekts konterten, dass sich in den Dreißigern in Arkansas Hoffnungslosigkeit breit gemacht habe und dass das Land für die Kolonie spottbillig gewesen sei. Der Staat, so behaupteten sie, wäre ins Kreuzfeuer geraten, hätte Dyess die Bundesmittel zum Kauf erstklassiger Flächen verwendet. Durch den Ankauf von Land, das im Grunde niemand haben wollte, habe er dafür gesorgt, dass die Kolonie mehr Fläche für ihr Geld bekomme. Die meisten Einwohner von Dyess akzeptierten schließlich diese Sichtweise und taten die wenigen Kritiker in der Kolonie als »radikale« Randgruppe oder »Unruhestifter« ab.

Das Gerede genügte jedoch, dass die Federal Emergency Relief Administration 1934 drei Männer entsandte, welche die Klagen gegen W. R. Dyess untersuchen sollten. Ein Mitglied dieser Gruppe warf Dyess ein Fehlverhalten vor, weil dieser einen Teil des Geldes zum Ausbau von Straßen verwendet habe, die über ihm und Wilson gehörendes Grundeigentum verliefen. Ansonsten fand das Trio keinerlei Hinweise auf kriminelle Machenschaften. In Washington unternahm Harry Hopkins nichts, um Dyess abzusetzen oder zu bestrafen. Später kam es zu weiteren Anschuldigungen im Zusammenhang mit Scheckbetrug und Unregelmäßigkeiten in der Gehaltsabrechnung, doch wurden sie von Dyess’ Befürwortern als Schlammschlacht politischer Gegner beiseite geschoben, und offizielle Nachforschungen ergaben keine ernsthaften Probleme.

Am 24.Januar 1936, wenige Monate vor der offiziellen Einweihung der Kolonie, wurde die Angelegenheit W. R. Dyess zur Geschichte; der Mann hinter dem Traum kam bei einem Flugzeugunglück ums Leben. Die Einwohner der neuen Kolonie hatten ohnedies stets Präsident Roosevelt – und nicht ihren Nachbarn – als ihren Retter betrachtet. FDRs beruhigende Stimme im Radio und sein New Deal gaben Millionen von Menschen Hoffnung. Der Präsident war bei den Menschen von Dyess beliebt und nahm für den jungen J. R. heilige Züge an. Roosevelt selbst besuchte die Kolonie nie, doch seine Frau Eleanor wohnte der Einweihung des neuen Verwaltungsgebäudes am 9.Juni 1936 bei.

Frau Roosevelt, die Harry Hopkins’ Maßnahmen zur landesweiten Nothilfe nach Kräften unterstützt hatte, traf in einem Wagen mit Chauffeur ein, begleitet von vier Polizisten auf Motorrädern. Nach einer kurzen Rede von der Veranda des zweigeschossigen Gebäudes schüttelte sie stundenlang sämtliche Hände der etwa 2500 Anwesenden, darunter auch die von J. R. Zumindest war dies seine Erinnerung daran. Sein Kindheitsfreund J. E. Huff behauptete später, Madam Roosevelt habe ihnen beiden den Kopf getätschelt. Jedenfalls überredete J. R. seine Mutter und seinen Vater dazu, im Ortszentrum zu verweilen, damit er durch das Fenster des Dyess Café beobachten konnte, wie sie ihr Abendessen einnahm. Die Tatsache, dass die Regierung seiner Familie und ihren Nachbarn zu einer zweiten Chance verholfen hatte, begründete in dem Kind einen tiefen Patriotismus und große Hochachtung vor der amerikanischen Präsidentschaft.

II

Vor seinem sechsten Geburtstag sollte J. R. noch keine Baumwolle pflücken, aber mit vier begann er, dem Rest seiner Familie Wasser aufs Feld zu bringen. Oft blieb er dort noch etwas und sang Gospels mit ihnen. Außerdem saß er gern zu Füßen seiner Mutter im Wohnzimmer, wenn diese dieselben Lieder auf einer Akustikgitarre oder auf dem 37-Dollar-Klavier der Familie spielte. Die Stücke stammten allesamt aus einem alten Baptisten-Gesangsbuch und prägten sich ihm tief ein. Fast sein ganzes Leben lang sang J. R. beinahe jeden Tag mindestens eines dieser Lieder, häufig »I’ll Fly Away« oder »Softly and Tenderly«. Wenn ihn in späteren Jahren Drogen und andere Probleme zu erdrücken drohten, zog er sich oft zurück und suchte Trost in der Musik; die Reinheit der Musik war ein Ort, an dem er neue Kraft schöpfen konnte.

Carrie Cash liebte Gospel-Musik und hörte sie auf einem batteriebetriebenen Sears-Radio, das Ray für die Familie gekauft hatte – in ihrer hart arbeitenden Farmgemeinde ein Luxus. J. R. saß mit seiner Mutter davor und lauschte den Gospel-Sängern, doch gefielen ihm auch die Country-Sänger, die sein Bruder Roy bevorzugte. J. R. war fasziniert davon, zu sehen, wie Roy den Country-Sängern mit derselben Hingabe zuhörte wie seine Mutter ihren Gospel-Sängern. Obwohl er Jahre brauchte, um es in Worte zu fassen, entdeckte er etwas Herzliches und Befriedigendes darin, wie Musik die Menschen zusammenbrachte und sie aufheiterte. Jeder Augenblick am Radio war besonders wertvoll, weil die Spielzeit begrenzt war; die Batterie aufladen zu lassen war teuer.

Bald verfolgte J. R. die Sänger im Radio mit ebensolchem Eifer, wie andere Jungs in Dyess später Baseballkarten sammelten. Er war fasziniert von ihnen, lernte ihre Namen und ihre jeweiligen Gesangsstile zu unterscheiden und hatte ein ausgezeichnetes Gedächtnis für Liedtexte. Oft wetteiferte er mit Roy darum, wer die meisten Texte der vielen damals aktuellen Country-Hits kannte, und immer gewann J. R. Daneben fand er heraus, wo die Country-Stationen auf der Senderwahlscheibe lagen – ob es nun WLW in Cincinnati, ein Grenzsender in Mexico oder WSM in Nashville war – und wann seine Lieblingssendungen ausgestrahlt wurden, damit er das meiste aus seinen kostbaren Hörminuten machen konnte.

Der Kleine hörte aber nicht nur Gospel und Country. Manche Sender spielten Country und Pop, und der musikhungrige Junge freute sich auch auf alles, was Bing Crosby sang, oder, später, auf den frühen Rhythm and Blues der Ink Spots. Mit zunehmendem Alter erweiterte J. R. seine Hörgewohnheiten um 15-minütige Rätselhörspiele wie I Love a Mystery und Inner Sanctum. Außerdem hörte er regelmäßig Comedy- und Quizsendungen wie die Jack Benny Show oder Truth or Consequences. Seine große Liebe blieb jedoch die Gospel- und Country-Musik.

Der erste Country-Sänger, an den sich J. R. erinnerte, war Jimmie Rodgers, der Ende der Zwanziger und Anfang der Dreißiger Millionen von Fans im Süden und Südwesten als »singender Bremser« bekannt war, weil er bei der Eisenbahn gearbeitet hatte und seine Lieder regelmäßig von der Eisenbahn handelten. Dank eines ansprechenden, in Blues und Country verwurzelten Stils und eines reiselustigen Lebensstils, der die Fantasie seiner meist ländlichen Zuhörerschaft beflügelte, war Rodgers der erste Superstar der Country-Musik.

Der erste Rodgers-Song, den J. R. hörte, war »Hobo Bill’s Last Ride«, eine melancholische Geschichte über einen einsamen Mann, der in einer eiskalten Nacht weit von zu Hause entfernt in einem Viehwaggon stirbt. J. R. war etwa fünf Jahre alt, und das Stück erinnerte ihn sowohl an seine eigene angsterfüllte Reise von Kingsland nach Dyess als auch daran, wie er seinen Vater von einem Güterzug hatte springen sehen, wenn er von einem seiner Gelegenheitsjobs zurückkehrte.

Rodgers Musik klang so intim und unmittelbar, dass J. R. tatsächlich glaubte, Rodgers singe nur für ihn live über den Radiolautsprecher. Da die Familie keinen Phonographen besaß, begriff er nicht, dass er eine Schallplatte hörte – etwas, das wieder und wieder abgespielt werden konnte. Ein paar Tage später war er ganz aufgeregt, als er diese magische Stimme von Rodgers erneut im Radio hörte. Er rannte durchs Haus und versuchte, alle dazu zu bewegen, die traurige Geschichte über den einsamen, sterbenden Mann mit ihm gemeinsam anzuhören.

So beeindruckt war J. R. von dem Sänger, dass er Jahre später einigen Schulkameraden erzählte, er sei nach Jimmie Rodgers benannt. In Wahrheit waren die Initialen aus einer Pattsituation zwischen seinen Eltern in der Diskussion um einen Namen heraus entstanden. Cashs Mutter wollte ihn nach ihrem Vater, John Rivers, John nennen. Sein Vater sagte, er solle Ray heißen. Also einigten sie sich auf die Initialen. (Manche Kindheitsschreibereien unterzeichnete Cash nur mit JR, aber J. R. war gebräuchlicher.) Besonders gut gefielen dem Jungen auch die meist fröhlichen Mitsing-Lieder der Carter Family und von Gene Autry.

Das andere Stück im Radio, das ihn in seiner Kindheit am meisten berührte, war jedoch Vernon Dalharts »The Prisoner’s Song«, die erste Country-Aufnahme, die sich millionenfach verkaufte. Wie »Hobo Bill’s Last Ride« handelte auch Dalharts Hit aus dem Jahre 1924 von einem einsamen Underdog. Beide Songs spiegelten die Thematiken Kummer und Kampf wider, die später in vielen von Cashs eigenen Kompositionen eine herausragende Rolle spielten. Er sagte einmal zu mir, Songs über schlechte Zeiten hätten etwas Erbauliches für ihn. Vielleicht, so spekulierte er, lag das einfach daran, dass sich jemand so sehr um geplagte Menschen sorgte, dass er Songs über sie schrieb.

Ray, der stets ein ernster Mann war, bemerkte früh die Faszination seines Sohnes für Musik und versuchte, ihm den unnützen Zeitvertreib auszureden. Cash erinnerte sich, dass sein Vater häufig zu ihm sagte: »Du solltest dieses Zeug abschalten.«

Die erste schwere Krise für die Einwohner von Dyess ereignete sich Anfang 1937. Sintflutartige Regenfälle gingen tagelang über große Teile des Deltas nieder, ließen den Mississippi und andere Flüsse über die Ufer treten und überfluteten viele der umliegenden Farmen und Städte. Es sah aus, als würden ihre Träume von einem besseren Leben buchstäblich weggeschwemmt. Das Ganze wurde dadurch noch verschlimmert, dass es nicht einfach nur regnete, sondern der Himmel bisweilen aufklarte und in der Kolonie einen Augenblick lang die Hoffnung entfachte, die Stadt würde verschont bleiben. Am 21.Januar setzte der Regen stärker als je zuvor wieder ein, und Rettungskräfte begannen, die Familien an höher gelegene Orte zu bringen. Bei Einbruch der Nacht waren etwa sieben- oder achthundert Menschen im Gemeindezentrum untergebracht. Es war jedoch nicht das Wasser des Mississippi, das die Einwohner von Dyess bedrohte, wie Cash später oft sagte. Es war das Wasser des weniger bekannten Flusses Tyronza, welcher durch das Herz der Kolonie floss.

Am Mittag des folgenden Tages hatte sich die Zahl der Menschen im Gemeindezentrum verdoppelt. Die Zustände verschlechterten sich – es war so kalt, dass der Regen gefror, wenn er am Erdboden auftraf, was den Einsatz von Lastwagen und Traktoren erschwerte. Wer anderswo im Staat bei Verwandten unterkommen konnte, verließ Dyess mit dem Zug. Während der Nacht begann das Wasser schneller zu steigen als bisher, und am Morgen des 23.Januar war klar, dass eine fast vollständige Evakuierung erforderlich würde. Seit Tagen schon hatte es keinen Strom mehr gegeben. Carrie und die jüngeren Cash-Kinder waren unter den ersten, die gingen. Sie fuhren mit der Eisenbahn zurück nach Kingsland, wo sie bei Verwandten wohnten, ohne zu wissen, ob sie je zurückkehren würden. Ray Cash blieb mit Roy in Dyess – in der Hoffnung, das Haus schützen zu können, und um sich an den Rettungsmaßnahmen zu beteiligen.

Trotz aller Angst und Aufruhr wurden in dem Gebiet lediglich zwei Todesfälle gemeldet, und bald schon begann das Wasser zu sinken. Am 3.Februar waren die Straßen wieder trocken, und es sprach sich rasch herum, dass es nun sicher sei, zurückzukehren. Zwei Wochen später waren die Cashs alle wieder zu Hause – und hatten somit noch ausreichend Zeit, um J. R.s fünften Geburtstag am 26.Februar vorzubereiten.

Das Drama jener Tage war J. R. fast ein Vierteljahrhundert später noch präsent, als er einen Song über die Flut mit dem Titel »Five Feet High and Rising« (Fünf Fuß hoch und steigend) schrieb, der zu einem seiner Markenzeichen wurde. Rückblickend auf den Song, der 1959 auf einem Album namens Songs of Our Soil erschien, sah Cash den Kampf gegen die Flut als weiteres Beispiel für die Kraft des Glaubens und einer Gemeinde, die fest zusammenhält.

»Meine Mama lehrte mich immer, dass aus der Not Gutes erwächst, wenn wir auf den Herrn vertrauen«, sagte er, als er die Entstehung des Songs schilderte. »Als wir unsere Häuser verlassen mussten, fanden wir an der Überflutung nicht viel Gutes. Aber als das Wasser zurückging, stellten wir fest, dass es unser Land mit einer Schicht nährstoffreichen, schwarzen Mutterbodens bedeckt hatte. Im Jahr darauf gab es die beste Ernte, die wir jemals hatten.«

Dank der fruchtbaren neuen Erdschicht konnte Ray am 8.Februar 1938 der Regierung die Kosten für Land und finanzielle Vorschüsse von insgesamt 2183,60Dollar zurückerstatten. Die 8Hektar Land gehörten damit ihm, und das Leben in Dyess fühlte sich nun immer besser an. Die ganze Familie dankte in der First Baptist Church nahe des Ortszentrums drei Tage in der Woche Gott für seinen Segen. Das zweigeschossige Gebäude war im Leben des jungen J. R. so wichtig wie das Radio.

III

J. R. wuchs auf in dem Glauben an Himmel und Hölle, an Erlösung und ewige Verdammnis. Daneben lehrte man ihn, anderen Religionen gegenüber misstrauisch zu sein. Katholiken, so hieß es, gehorchten nicht Gott, sondern einem mysteriösen Tyrannen in Rom, und die Juden hätten Jesus Christus umgebracht. Später lehnte Cash solch überkommenes Denken ab und zeigte sich gegenüber anderen Glaubensrichtungen sogar so tolerant, dass er die Katholikin Vivian Liberto heiratete und zustimmte, dass die gemeinsamen Kinder in ihrem Glauben erzogen wurden. Als seine Tochter Rosanne einen Juden heiratete, den Plattenproduzenten und Gitarristen John Leventhal, nahm ihn der Vater freundlich im Kreise der Familie auf. Rassismus war in Dyess ebenfalls weit verbreitet, und es dauerte eine Weile, bis er dieses Gift vollends loswurde.

Jeden Sonntagmorgen, Samstagabend und Mittwochabend ging J. R. mit seiner Familie in die Kirche. Im Gegensatz zu anderen Kindern, die darüber klagten, dass sie in die Kirche gehen mussten, freute er sich auf die Musik, die Predigten und das Gemeinschaftsgefühl. So, wie die Musik sein Zuhause angenehmer gemacht hatte, war auch die Kirche ein früher Quell des Trosts. Als J. R. neun Jahre alt war, hatte er zwei weitere Geschwister – seine 1938 geborene Schwester Joanne und den zwei Jahre darauf geborenen Bruder Tommy. Nichts von alledem, was er über die Bibel und die Gebote Gottes hörte, schien ihm wichtiger, als Vater und Mutter zu ehren. Er betete, dass auch er eines Tages eine liebende Frau und eine Familie haben möge, und stellte sich sogar vor, welche Art Frau er dabei im Sinn hatte, und wie er seine Kinder erziehen würde. Sie sollte so hübsch und loyal wie seine Mutter sein, und seinen Söhnen und Töchtern wollte er dieselbe Liebe geben, mit der Carrie ihn überschüttete. Wenn er daran dachte, was für ein Mann er einmal werden wollte, dachte er jedoch an seinen älteren Bruder Jack, niemals an seinen Vater.

Die unterschiedlichen Gesichtsausdrücke von Cash und seinem Bruder Jack spiegeln die jeweiligen Charakterzüge wider, welche die Eltern der Jungen in ihnen sahen. Betrachtete Ray seinen Sohn Jack als begeistert und fokussiert, so hielt er J. R. für faul und desinteressiert. Carrie sah J. R. in einem milderen Licht. Sie glaubte, sein stilles Wesen lasse auf ein nachdenkliches und sensibles Kind schließen. (Sammlung John Carter Cash)

Jedermann in der Familie betrachtete Jack, der nach dem Schwergewichtsboxchampion Jack Dempsey benannt war, als das goldene Kind. Jack war gut aussehend, intelligent und großzügig. Schon früh entschloss er sich dazu, dem Herrn zu dienen und Prediger zu werden. Auch andere Einwohner von Dyess sprachen über sein inspirierendes Wesen und seine christliche Botschaft. Es hieß, er habe sich schon im Alter von elf Jahren verhalten wie ein Prediger. Jack besaß ein feines Gespür für Menschen in Not, beriet Erwachsene, die zu viel tranken, und tröstete alle, die mit Krankheit oder Tod in der Familie konfrontiert waren. J. R. bewunderte seinen nur zwei Jahre älteren Bruder, der es fertig brachte, dass sich Erwachsene besser fühlten, die dreimal so alt waren wie er selbst.

J. R. fiel auf, dass die älteren Brüder seiner Freunde keine sonderliche Lust hatten, in der Stadt oder an der Schule mit ihren jüngeren Geschwistern Zeit zu verbringen, bei Jack hingegen war J. R. immer willkommen. Doch nicht einmal Jacks positiver Einfluss konnte verhindern, dass J. R. eine rebellische Art an den Tag legte, als er sich dem Teenageralter näherte. Sein Vater bezeichnete ihn als »aufsässig«. Er war launisch und widersprach bisweilen seinem Vater und seinen Lehrern. Im Alter von zehn Jahren fing er das Rauchen an – damals ein ultimativer Akt der Rebellion. Da er kein Geld für Zigaretten hatte, stibitzte er etwas vom Tabak seines Vaters und drehte sich selbst welche oder schnorrte bei anderen Jugendlichen.

»Rückblickend betrachtet, war dies das erste Anzeichen für Johns Suchtpotenzial«, sagt seine Schwester Joanne. »Die anderen Jungs rauchten vielleicht ab und zu mal eine Zigarette, aber John rauchte andauernd – außer, wenn er zu Hause war.« Es wäre ihm niemals in den Sinn gekommen, vor seiner Mutter zu rauchen und ihr damit Sorgen zu bereiten.

Jack, der selbst nicht rauchte, erfuhr von J. R.s Laster, verurteilte ihn jedoch nicht. Das war eine der Seiten, die J. R. an seinem Bruder am besten gefielen. J. R. fühlte sich mit Jack so eng verbunden, dass er sogar gern mit ihm zum Angeln ging, was alle anderen Familienmitglieder erstaunte, da J. R. in der Regel lieber allein angelte. Er mochte die Einsamkeit. Wie auf der Schotterstraße, legte sich der Junge manchmal an den Rand des Wassers, blickte zum Himmel hinauf und sang seine Lieblingslieder – wenn auch meist ganz leise, um die Fische nicht zu erschrecken.

Am Samstag, dem 13.Mai 1944, wollte J. R. einen seiner bevorzugten Angelplätze aufsuchen. Dieser lag an einem der Abflussgräben der Kolonie, der sich gleich neben der vier Kilometer langen Straße ins Ortszentrum erstreckte. Der 14-jährige Jack war meistens zu beschäftigt, um den ganzen Tag lang zu angeln. Wenn er nicht gerade jemandem in der Gemeinde half, versuchte er, Geld für die Familie zu verdienen. Er trug den Memphis Press-Scimitar aus und übernahm allerlei Jobs. Auch an diesem Tag wollte er etwas Geld dazuverdienen, indem er am Landwirtschaftsgebäude der Highschool ein paar Zaunpfähle herstellte. Er wusste, dass die Familie die zusätzlichen drei Dollar gut gebrauchen könnte.

Jahre später erinnerte sich Cash an ein Gespräch im Wohnzimmer der Familie, das ihn für den Rest seines Lebens verfolgte.

»[Jack] sagte, er spüre, dass etwas passieren werde, und meine Mutter sagte, ›Dann geh nicht‹«, erzählte Cash. »Jack starrte zur Tür, und ein Ausdruck des Todes huschte über sein Gesicht.«

J. R. bettelte Jack an: »Komm, wir gehen angeln«, aber Jack fühlte sich der Familie verpflichtet.

Während Jack sich in Richtung Stadt aufmachte, ging J. R. zu seinem Angelplatz, doch mit dem Herzen war er woanders. Er fühlte sich rastlos. Statt fast den ganzen Tag zu bleiben, stand er nach ein paar Stunden auf und ging nach Hause. Da sah er das Auto des Postboten mit seinem Vater darin auf sich zukommen. Als er das aschfahle Gesicht seines Vaters erblickte, wusste er, dass etwas Schreckliches passiert war.

An einer unbeaufsichtigten Kreissäge in der Schulwerkstatt hatte Jack aus Eichenstämmen die Zaunpfosten gesägt und sich mit dem Sägeblatt den Bauch aufgerissen. Als er aus der Werkstatt taumelte, versuchte er, blutend und benommen, seine Eingeweide zurück in die Bauchhöhle zu stopfen. Ein Schulbediensteter sah ihn und brachte ihn sofort ins Krankenhaus. Als J. R. und sein Vater eintrafen, war der Teenager zwar am Leben, aber bewusstlos. Die Familie versammelte sich um das goldene Kind. Von einem Augenblick auf den anderen lag ihre Welt in Trümmern. Obwohl die Ärzte wenig Hoffnung hatten, blieb Jack am Leben, jedoch nur mit knapper Not.

Nachbarn, denen Jack über die Jahre geholfen hatte, schauten im Krankenhaus vorbei und schlossen sich den Gebeten der Familie an. Diese Solidarität überwältigte J. R. All diese Menschen liebten seinen Bruder ebenso wie er selbst. Das habe ihn eine Menge über Mitgefühl gelehrt, sagte er später. Er hoffte, man würde sich eines Tages um ihn so sorgen, wie man sich nun um Jack sorgte.

Als sich der Zustand des Jungen am Mittwoch verschlechterte, wurde in der Baptistenkirche eigens ein Gottesdienst abgehalten, den Menschen aus ganz Dyess besuchten. Als Ray und Carrie Cash am nächsten Morgen erfuhren, dass sich Jacks Zustand dramatisch verbessert habe, glaubten sie an ein Wunder. Doch die Euphorie war nur von kurzer Dauer. Am Freitagmorgen teilte man der Familie mit, dass das Ende nahe sei, und alle versammelten sich im Krankenzimmer.

»[Jack] begann zu stöhnen und bat Mama, seine Hand zu halten«, sagte Cash, als er sich in vorgerücktem Alter an die Abschiedsszene erinnerte. Er sagte, sein Bruder habe die Augen geschlossen und Carrie gesagt, er sei an einem Fluss. »Ein Weg führt an den schlechten Ort; der andere Weg führt zum Licht. Ich gehe zum Licht.« Dann sagte er: »Hörst du die Engel singen? Sieh nur, diese Stadt, diese wunderschöne Stadt, dass Gold und all die Juwelen, die Engel. Hör doch, Mama, kannst du sie hören?«

Er starb am Samstagmorgen.

Praktisch die gesamte Stadt wohnte dem Begräbnis am Sonntag bei und sang gemeinsam mit der Familie beliebte Hymnen. Jack wurde auf einem Friedhof im nahe gelegenen Wilson beigesetzt. Auf seinem Grabstein stand geschrieben: »Wir sehen uns im Himmel wieder.« Jahre später verwendete Cash diesen Satz in einem Song (»Meet Me in Heaven«). Auf dem Höhepunkt seines Erfolges, im Jahre 1970, widmete er seinem Bruder auch sein Songbuch Songs of Johnny Cash.

Wir verloren dich an einem traurigen Tag im Mai 1944

Obwohl die Lieder, die wir sangen

Auf den Baumwollfeldern verklungen sind

Kann ich den Klang deiner Stimme hören

Weil sie weit und breit gesungen werden

In liebender Erinnerung

Dein Bruder, J. R.

Am Montag war die Familie, noch ganz benommen, wieder auf dem Feld und pflückte Baumwolle. Die Ernte konnte nicht warten. Der Verlust ihres Sohnes war jedoch zu viel für Carrie.

»Ich sah mit an, wie meine Mutter auf die Knie fiel und ihren Kopf auf die Brust sinken ließ«, erinnerte sich Cash 1997 in seiner Autobiografie. »Mein armer Daddy ging zu ihr hinüber und fasste sie am Arm, aber sie schüttelte ihn ab. ›Ich stehe erst auf, wenn Gott mir aufhilft!‹«

Schließlich stand sie ganz langsam und qualvoll wieder auf und pflückte weiter Baumwolle. Sie hatte immer noch einen Ehemann, den sie liebte, und Kinder, die sie großziehen musste.

Während der folgenden Woche musste J. R. immer wieder an Jacks Worte denken – über die Wegkreuzung zwischen dem Licht und der Dunkelheit. »Nach seinem Tod traf ich meine Wahl, in welche Richtung ich gehen wollte«, erzählte Cash Jahrzehnte später einem Freund, dem Produzenten und Regisseur James Keach. »Am nächsten Sonntag folgte ich [in der Kirche] einem Aufruf, zum Altar vorzutreten, schüttelte die Hand des Predigers und nahm Jesus Christus als Erlöser an.«

»[Jack] hat mich all die Jahre begleitet, und manchmal, wenn ich total im Eimer war, in großen Schwierigkeiten oder irgendwo im Knast, dann sagte ich: ›Ich weiß, dass du dich sehr für mich schämst.‹ Ich spreche immer noch mit ihm. Vieles wäre anders, wenn er nicht gewesen wäre. Er wusste Bescheid über die Unterhaltungsbranche. Er wusste, was für ein Müll dort abging. Mein Vater sprach immer über die böse Bühne, das böse Showgeschäft. Nicht so Jack. Er motivierte mich.«

In den Monaten nach Jacks Tod vermied es J. R., seinem Vater in die Augen zu blicken, weil er die Enttäuschung und die Vorwürfe darin nicht sehen wollte. Sein Vater hatte zu ihm gesagt, der Unfall wäre nie passiert, wenn er seinen Bruder an jenem Tag davon abgehalten hätte, in die Schulwerkstatt zu gehen. Aber was hätte er schon tun können?

In dieser Zeit wurde J. R. zunehmend in sich gekehrt. Er zeigte geringes Interesse an der Schule oder daran, sich mit seinen Kameraden zu treffen. Mehr denn je schätzte er die Zeit, in der er für sich sein konnte, ob nun am Fischteich oder in der Schulbibliothek. Selbst wenn er mit Freunden zusammen war, bemerkten diese oft eine einsame, melancholische Stimmung an ihm. Seine Tochter Rosanne glaubt, dass diese Traurigkeit ihren Vater nie ganz verlassen hat. »Papa litt sehr unter Jacks Tod und der Reaktion seines Vaters – den Vorwürfen, der Schuldzuweisung und der Bitterkeit«, sagt sie. »Wenn jemand ein derartiges Trauma übersteht, kommt dabei entweder etwas sehr Böses oder große Kunst heraus. Und mein Papa trug die Anlage zu großer Kunst in sich.«

Es war etwa zu dieser Zeit, dass J. R. einen Film sah, der einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterließ. Für die meisten Jugendlichen war Frankenstein aus dem Jahre 1931 einfach nur eine Horrorgeschichte, in der es um einen verrückten Wissenschaftler ging, der seinem aus Leichenteilen zusammengesetzten Wesen das Gehirn eines Kriminellen einsetzte und so ein Monster erschuf. Cash hingegen tat das Monster leid, das von einer wütenden Menge umgebracht wurde, weil diese glaubte, es hätte ein junges Mädchen ermordet. Dabei hatte das Monster nur versucht, sich mit diesem anzufreunden. Cash erklärte seine Sympathie für das Monster folgendermaßen: Es sei jemand, »der aus schlechten Teilen besteht, aber versucht, gut zu sein«.

James Mangold, Regisseur von Walk the Line, dem 2005 erschienenen Film über die Beziehung von Cash und June Carter in den Sechzigerjahren, sprach mit Cash über Frankenstein. Seiner Meinung nach identifizierte sich Cash deshalb so stark mit dem Kinofilm, weil er als Folge von Jacks Tod und der Reaktion seines Vaters befürchtete, dass möglicherweise auch er einige »schlechte Teile« besäße. »Auf jeden Fall fühlte er sich von seinem Vater entsetzlich missverstanden.«

In seiner wachsenden Einsamkeit und Trauer begann J. R., seine Gedanken niederzuschreiben, manchmal in Form eines Gedichts, einer Kurzgeschichte oder sogar eines Liedtextes. Er entdeckte, dass es ihm großen Spaß machte, sich auszudrücken. »Tod in der Familie oder unter Freunden war mir bislang fremd gewesen, und plötzlich erkannte ich, dass ich nicht unsterblich war – dass auch ich eines Tages sterben könnte«, sagte er. Seine Aufzeichnungen waren von einer Düsternis geprägt, die auch später in Cashs Musik immer wieder auftauchte.

Daneben versuchte J. R., sich mit Büchern zu zerstreuen, wobei er ein besonderes Interesse für die amerikanische Geschichte und den Wilden Westen an den Tag legte. Die Geschichten und Berichte stimulierten seinen zunehmend aktiven Geist, und oft nahm er sie mit an den Fischteich. Mehr und mehr fesselte ihn auch die Poesie, eine Leidenschaft, die ihn nicht mehr loslassen sollte.

Als er älter wurde, liebte er, wie viele andere Jugendliche, die Werke von Edgar Allan Poe. Am meisten aber hatten es ihm Dichter angetan, die, wie seine geliebte Gospel-Musik, eine erbauliche Botschaft vermittelten. Besonders mochte er das Gedicht »Columbus« von Joaquin Miller. Viele Jahre später erhellte sich sein Blick immer noch, wenn er die Geschichte von Kolumbus erzählte, der den Ozean überquerte und sich dabei mit einer Reihe scheinbar unüberwindlicher Hürden konfrontiert sah, nur um jedes Mal mit den Worten »Segelt weiter!« darauf zu reagieren.

»Manche Leute mögen denken, dass es ein bisschen platt ist … wie Kolumbus sagt: ›Segelt weiter!‹«, räumte Cash in vorgerücktem Alter ein. »Aber es lief mir jedes Mal eiskalt den Rücken herunter. Ich mag solchen Kram.«

Bei alledem fand er jedoch nirgends den Trost, den ihm die einsamen, nächtlichen Spaziergänge auf der Schotterstraße boten, wenngleich er dabei mittlerweile nicht nur Hymnen, sondern auch Songs von Jimmie Rodgers und Ernest Tubb sang.

Es war auf einem dieser Spaziergänge, als J. R. eine Offenbarung hatte, die ihn nach Hause eilen ließ, um seiner Mutter davon zu berichten. Seit Monaten hatte er schon gegrübelt, wie er Jacks Vermächtnis bewahren und vielleicht sogar ein wenig Zuneigung von seinem Vater bekommen könnte. Er überlegte sogar kurz, ob er nicht selbst Priester werden sollte, wusste aber im Alter von zwölf Jahren nicht so recht, ob dies die richtige Wahl war. Der Geistesblitz kam, als er auf der Straße entlangging und Gospels sang. Das war es. Er könnte Jacks Botschaft durch die Musik verbreiten; er würde Gospel-Sänger werden.

Joanne Cash erinnert sich daran, wie ihr Bruder ins Haus gerannt kam, um seiner Mutter die Neuigkeit mitzuteilen. Carrie lächelte und umarmte ihren Sohn. Als sie Ray vom neuesten Traum des Jungen erzählte, reagierte er abfällig. Das verletzte J. R., doch er war es gewohnt, dass sein Vater ihn enttäuschte.

J. R.s Verhalten wich stark von dem seiner extrovertierteren Brüder und Schwestern ab, und seine Eltern deuteten dies auf gegenteilige Weise. J. R.s Vater betrachtete die Tagträumereien und die Liebe zur Musik seines Sohnes als Faulheit und Ziellosigkeit. Ray Cash erklärte später: »Ich wollte, dass er sich endlich auf den Tag vorbereitete, wenn er auf eigenen Füßen stehen und seine Familie versorgen müsste.« Ray bemängelte sogar J. R.s Gesichtsausdruck – oder vielmehr: seinen fehlenden Gesichtsausdruck. Hatte Ray in Jacks Gesicht Begeisterung und Freundlichkeit gesehen, fiel es ihm nun schwer, zu deuten, was sein jüngerer Sohn dachte oder ob der Junge ihm überhaupt zuhörte, da dessen Augen keinerlei Gefühle verrieten. Carrie Cash hingegen dachte, das verträumte und stille Wesen ihres Sohnes sei ein Zeichen dafür, dass er nachdenklich und sensibel sei. »Er sagte kaum etwas«, sagte sie Jahre später. »Aber er hörte zu. Er fraß alles in sich hinein.«

Der Junge gab sich alle Mühe, seinem Vater gegenüber loyal zu sein; es war das Gebot, das ihm am meisten bedeutete, und er rechnete es seinem Vater hoch an, dass er unermüdlich arbeitete, um seine Familie zu versorgen. Trotzdem, so sagte er später, habe man eines nicht ignorieren können: Ray Cash konnte grausam sein, besonders, wenn er zu viel trank. Viele von Cashs Verwandten und Schulkameraden stellten diese Beschreibung von Ray infrage. Sie sagten, der alte Cash sei einfach nur etwas schroff gewesen, wie die meisten hart arbeitenden Männer in dem von der Depression gebeutelten ländlichen Amerika. J. R.s Liste von Anschuldigungen gegen seinen Vater erschöpfte sich jedoch nicht darin, dass er von diesem nur selten die Worte »Ich hab dich lieb« zu hören bekam.

Als J. R. eines Tages von der Grundschule nach Hause kam und seinen Hund tot in einem Wäldchen in der Nähe des Hauses fand, brach für ihn eine Welt zusammen. Zu seinem Entsetzen erfuhr er, dass sein Vater das Tier erschossen hatte, nachdem es in den Hühnerstall eingebrochen und ein halbes Dutzend Hühner getötet hatte. Die meisten Nachbarn hätten dasselbe getan, doch hätten andere Farmer es ihren Kindern schonender beigebracht oder vielleicht einfach gesagt, das Tier sei fortgelaufen. J. R. indes hatte den Eindruck, dass es seinem Vater beinahe Freude bereitete, ihm von dem Erschießen zu erzählen.

Jahre später sagte Ray Cash, er wünschte, er wäre mit dem Zwischenfall anders umgegangen. »Wenn ich darüber nachgedacht hätte, hätte ich diesen Hund nicht erschossen«, sagte er Anfang der Siebziger in einem Gespräch mit Christopher S. Wren für dessen Biografie The Life of Johnny Cash: Winners Got Scars Too. »Ich schleifte den Hund raus in den Wald. Ich tat es nicht gern, aber es war geschehen. J. R. fand den Hund und kam zu mir und fragte, warum ich es getan hätte. Ich sagte es ihm. Bis heute hat er kein Wort darüber verloren.«

Es ist nichts darüber bekannt, dass der ältere Cash etwas über seine Gedanken hinsichtlich J. R. und Jack sagte, aber es blieb ein unterschwelliger Zorn über die Tragödie.

»Irgendwie gab Großvater Papa immer die Schuld an Jacks Tod«, sagt Cashs Tochter Kathy. »Und Papa schleppte sein Leben lang diese Schuldgefühle mit sich herum. Man konnte es in seinen Augen sehen. Auf fast allen Bildern sieht man, dass eine düstere Traurigkeit über ihm liegt. Papa erzählte mir sogar … dass sein Vater einmal, als er betrunken war, etwas zu ihm sagte wie ›Jammerschade, dass es nicht du warst anstelle von Jack‹. Ich sagte: ›Oh, mein Gott, Papa. So etwas Schreckliches kann man doch nicht sagen.‹ Und er sagte: ›Ja, jedes Mal, wenn ich ihn sehe, muss ich daran denken.‹«

IV

Über ein Jahr nach Jacks Tod marschierte J. R. eine Straße der Kolonie entlang und war überrascht, als aus einem der Holzhäuser Musik drang. Zunächst konnte er nicht erkennen, ob die Stimme und die geschlagene Gitarre von einer Platte oder von jemandem im Innern des Hauses stammten. Neugierig ging er an die Tür, wo er einen Jungen etwa in seinem Alter erblickte, der einen alten Hit von Ernest Tubb mit dem Titel »Drivin’ Nails in My Coffin« sang und spielte.

Der Junge, Jesse Barnhill, bat J. R. hinein; er war hocherfreut, dass sich noch jemand anderes für Musik begeisterte. J. R. hatte den Teenager bereits an der Schule gesehen, aber noch nie Zeit mit ihm verbracht. Jesse litt an Polio, weshalb er nur schwer und unbeholfen gehen konnte. Sein gelähmter rechter Arm war nur halb so lang wie sein linker, und seine rechte Hand war verkümmert. J. R. staunte, dass der Junge Gitarre spielen konnte. Jesse versuchte, es auch J. R. beizubringen, aber ohne Erfolg. Trotzdem wünschte sich J. R. eine der Gitarren, die er im Katalog von Sears Roebuck sah, besonders das Gene-Autry-Modell, weil er fand, es würde bestimmt Spaß machen, sie beim Singen zu halten. Doch die Familie konnte sich das Instrument nicht leisten, also sang er meist nur, während Jesse die Gitarrenparts von den Schallplatten nachspielte.

J. R. verbrachte nicht nur mehr und mehr Zeit mit Jesse, sondern half seinem Freund auch dabei, seine Scheu zu überwinden und sein Leben zu meistern – und die Jugendlichen, die sich über ihn lustig machten, zu ignorieren. Mit J. R. in Führung besuchten sie das Ortszentrum, meist, um sich einen Film anzusehen oder in dem kleinen Café der Jukebox zu lauschen. Oft wurden sie dabei von Harry Clanton begleitet, der in J. R.s Klasse war. J. R. mochte Harry, weil er einen wunderbaren Sinn für Humor hatte, und J. R. einen guten Witz schätzte. Zusammen spielten J. R. und Harry im Unterricht die Klassenclowns – und unterhielten die anderen Schüler mit aufwendigen Streichen, indem sie etwa der Lehrerin ein totes Eichhörnchen in die Schreibtischschublade legten. Ein anderes Mal verursachten sie in der Bibliothek ein Chaos, weil sie reihenweise Bücher aus den Regalen nahmen und sie an falscher Stelle wieder einsortierten.

Wenn J. R. besonders aggressiver Stimmung war, wurden die Mätzchen derber. Zum Beispiel zertrümmerte er gern Flaschen, die hinter Geschäften in der Stadt gelagert waren, oder schlich sich nachts auf ein Feld, um den Heuschober eines Farmers anzuzünden. Im Jahrbuch der Dyess High School wurde Cash am Ende der elften Klasse als »Historiker« bezeichnet, weil er sich für das Fach interessierte, Clanton hingegen, der an der ganzen Schule als Drahtzieher hinter den Streichen bekannt war, war schlicht »Der Verschwörer«.

Nach seinem wöchentlichen Ausflug ins Kino hatte Cash nie genügend Geld für die Jukebox übrig, aber es gelang ihm, die anderen Gäste davon zu überzeugen, den Knopf neben dem Namen Eddy Arnold zu drücken, seinem neuen Lieblingssänger. Durch Platten wie »I’ll Hold You in My Heart (Till I Can Hold You in My Arms)« war Arnold Mitte der Vierziger zu einem der erfolgreichsten Künstler in der Country-Musik geworden. Im Gegensatz zu dem ungeschliffeneren Honkytonk-Stil, den J. R. normalerweise bevorzugte, sang Arnold mit einem schmalzigen, popmusikalischen Ansatz, der ihn zu einer Art Bing Crosby des Country machte.

Eines Tages im Sommer 1947 hörte J. R. im Radio, dass die Besetzung einer seiner Lieblingssendungen, High Noon Roundup, zu einem Konzert nach Dyess kommen sollte. Die gesamte Familie Cash hörte während ihrer Mittagspause auf dem Feld die Sendung, die über die in Memphis ansässige Station WMPS live übertragen wurde. J. R. ging gemeinsam mit Jesse und Harry zwei Stunden früher zur Schule, wo das Konzert stattfinden sollte. Nervös zog er an einer Zigarette und hoffte, ihm würde einfallen, wie er die Louvin Brothers kennenlernen könnte, die Stars der Wochentagssendung.

J. R. erkannte Charlie Louvin, als dieser aus einem schwarzen Cadillac stieg und auf ihn zuging. Der Teenager bekam weiche Knie. Louvin wollte eigentlich nur wissen, wo es eine Toilette gab, doch J. R. ergriff die Gelegenheit beim Schopfe und begleitete den Radiostar dorthin. Er wollte Louvin fragen, wie man ins Musikgeschäft komme, traute sich dann aber nicht. Allein die Tatsache jedoch, dass er neben Louvin herging, ließ die Möglichkeit, hauptberuflicher Sänger zu werden, ein wenig greifbarer erscheinen.

Nach der Show sahen J. R. und seine Freunde zu, wie die Musiker ihre Ausrüstung ins Auto packten und wieder zurück nach Memphis fuhren. Als ihm Louvin beim Wegfahren zuwinkte, war das der größte Nervenkitzel, seit Eleanor Roosevelt ihm die Hand geschüttelt hatte. In den Wochen nach dem Konzert begann J. R., die Country-Sänger und die Roosevelts im selben Licht zu sehen. Beide brachten Menschen zusammen, heiterten sie auf, und die Menschen jubelten ihnen zu. Natürlich nahm er an, dass sie alle nur Baptisten sein könnten.

V

Während seiner Zeit an der High School machte sich J. R. zunehmend Sorgen um seine Zukunft. Er hatte sich zwar immer vorgestellt, einmal ins Radio zu kommen, doch nun begriff er, dass er keine Ahnung hatte, wie er dies bewerkstelligen sollte. In Dyess gab es keinen Sender, wo er vielleicht jemanden hätte überreden können, einem Jungen vom Ort eine Chance zu geben, zu zeigen, was er draufhatte. Bei seiner Familie und ein paar Freunden sprach J. R. zwar immer noch davon, dass er eines Tages zum Radio gehen wolle, insgeheim jedoch machte er sich langsam Sorgen.

Ehrlich gesagt, war Ray nicht der Einzige in der Familie Cash, der Zweifel an J. R.s musikalischen Träumen hegte. Carrie wollte ihren Sohn unterstützen, aber seine Stimme war hoch, keinesfalls so rauchig und sonor wie die der Sänger im Radio. Obendrein war er schüchtern. Wie sollte er Sänger werden, wenn er nicht vor einem Publikum stehen könnte? Carrie hatte versucht, J. R. zu helfen, etwas gegen seine Unsicherheit zu tun, und einen Gesangsauftritt vor der Kirchengemeinde arrangiert. Cash bezeichnete diesen später als »schrecklichstes Erlebnis meines Lebens«. Es wäre vielleicht alles in Ordnung gewesen, hätte seine Mutter neben ihm auf der Bühne gestanden, doch nun fand er sich neben dem Pfarrer und einem Fremden am Klavier wieder. Er fühlte sich wie »im Bombenhagel«, doch seine Mutter gab nicht auf; immer wieder drängte sie ihn, vor der versammelten Gemeinde zu singen, und jedes Mal war es J. R. entsetzlich peinlich. Es war nicht das Singen selbst, sondern die Menschen, die ihm dabei zusahen.

Diese Mauer der Schüchternheit begann an einem Nachmittag im Sommer 1947 zu bröckeln. Carrie und Joanne machten in der Küche den Abwasch, als sie durch das offene Fenster eine Stimme vernahmen, die einen neuen Gospel-Song sang, der gerade allerorten sehr beliebt war: »Everybody’s Gonna Have a Wonderful Time Up There«. Carrie sah aus dem Fenster und erblickte den 15-jährigen J. R., der gerade Wasser in einen Eimer pumpte.

»Bist du das, der da singt, J. R.?«

Er fuhr herum und lächelte. »Ja, Mama, meine Stimme ist ein bisschen tiefer geworden.«

Carrie rief ihren Sohn in die Küche, umarmte ihn und weinte.

»Du hast eine Gabe, J. R. Du wirst singen«, sagte sie zu ihm. »Gott hält seine Hand über dich. Du wirst die Botschaft Jesu Christi verbreiten.«

Carrie war so gefangen von J. R.s »Gabe«, dass sie schwor, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um ihn zu fördern. Sie wollte, dass er Gesangsstunden nahm, doch er widersetzte sich beinahe zwei Jahre lang. Schließlich bestand Carrie darauf. Sie verdiente fünf bis sechs Dollar pro Woche, indem sie mit der neuen Waschmaschine der Familie die Kleider einiger Schullehrer wusch. Drei Dollar davon legte sie für die wöchentliche Unterrichtsstunde bei einer jungen Lehrerin in Lepanto beiseite, einer größeren Stadt, die etwa zwölf Kilometer entfernt lag. Widerstrebend ging J. R. jede Woche zu LaVanda Mae Fielder. Es wäre vielleicht in Ordnung gewesen, hätte sie ihn Lieder singen lassen, die er kannte, doch musste er Stücke singen, die sich nach dem Dafürhalten der Lehrerin gut als Stimmübungen eigneten, etwa die irische Ballade »I’ll Take You Home Again, Kathleen«.

Nach nur drei Stunden war Fielder frustriert von dem mangelnden Fortschritt des Teenagers. Um es ihm leichter zu machen, änderte sie ihre Strategie. Sie bat ihn, selbst einen Song auszusuchen. Sofort kam ihm Hank Williams in den Sinn, dessen »Lovesick Blues« in den ersten Monaten des Jahres 1949 im Radio auf und ab gespielt wurde. Die Möglichkeit, einen seiner neuen Lieblingssongs singen zu können, befreite J. R., und seine Stimme klang so mitreißend, dass die Lehrerin den Klavierdeckel zuklappte und den Unterricht für beendet erklärte. Er solle sich niemals von irgendjemandem in seinen Stil hineinreden lassen – »niemals«, wiederholte sie nachdrücklich.

Die Familie Cash um 1950. Hinten, von links: Roy, Carrie, Louise, Ray, Reba und J. R. Vorn: Tommy und Joanne. (Sammlung Rosanne Cash)

Diese Worte gaben J. R. das notwendige Selbstvertrauen, um endlich ohne zu zittern vor der versammelten Gemeinde zu stehen. Auch in der Schule wurde er aktiver, erweiterte seinen Freundeskreis und zeigte einigen Klassenkameraden sogar seine Gedichte und andere Werke. Er erwarb sich einen derart guten Ruf als Schreiber, dass mehrere seiner Freunde ihn gegen Entgelt – in der Regel etwa 50Cent – damit beauftragten, für sie Gedichte oder Aufsätze zu verfassen, wenn derlei Hausaufgaben anstanden. »Er konnte gut mit Worten umgehen«, erinnert sich J. E. Huff. »Auf jeden Fall war er schlauer als wir.« Klassenkamerad A. J. Henson gefiel ein Gedicht, dass J. R. für ihn geschrieben hatte, so sehr, dass er es über fünf Jahrzehnte später noch auswendig aufsagen konnte:

The top hand mounted his trusty steed

And rode across the plain.

He said, »I’ll ride until setting sun

Unless I lose my rein.«

The top hand gave a jerk

And Bob drew up the slack.

He rode his trail until setting sun

Then rode a freight train back.

Der Cowboy bestieg sein treues Ross

Und ritt über die Prärie

Er sagte: »Ich reite bis Sonnenuntergang

Wenn mir die Zügel nicht entgleiten.«

Der Cowboy preschte davon

Und Bob schloss die Lücke.

Er ritt bis zum Sonnenuntergang

Dann kam er mit einem Güterzug zurück.

Für diese Hausaufgabe bekam A. J. die Bestnote.

Trotzdem stand J. R. unter dem Druck, nach der Highschool eine Anstellung zu finden. All die Jahre, in denen sein Vater ihm eingebläut hatte, wie töricht es sei, seine Energie mit Musik zu verschwenden, hatten ihren Eindruck hinterlassen.

VI

Als das letzte Schuljahr heranrückte, verbrachten J. R. und seine Freunde so manchen Abend mit Überlegungen, wie sie dem entbehrungsreichen Arbeitsleben, das ihre Eltern führten, entgehen könnten. »Das Einzige, was wir ganz sicher wussten, war, dass wir keine Farmer werden wollten«, sagt Huff. Das Regierungsprogramm in Dyess hatte Menschen wie Ray Cash zwar die Chance gegeben, zu überleben, Wohlstand indes blieb unerreichbar. Das Land ließ sich so schwer bestellen, dass es seine einstige Fruchtbarkeit bereits verloren hatte. Für die meisten Familien wurde es daher unmöglich, aus den roten Zahlen zu gelangen. Viele der Alteingesessenen verließen die Siedlung im Delta und zogen in das nur knapp 80Kilometer entfernte Memphis oder in andere Teile des Landes, wo sie eine bessere Bezahlung und leichtere Arbeit fanden. Ray Cash begann, Nebenjobs in den Nachbarorten anzunehmen, um sein Einkommen aufzubessern.

Mit seinen Kumpels diskutierte J. R. die möglichen Vorzüge der üblichen Berufswege, die junge Männer aus armen Familien im Süden in den 1940er-Jahren häufig einschlugen: Entweder ging man nach Norden in die Autofabriken in Michigan, oder man ging zum Militär. Es gab noch eine dritte Option – nach Kalifornien zu gehen, in der Hoffnung, dort eine Arbeit in der Landwirtschaft zu finden–, doch niemand in Dyess hatte vor, noch länger auf dem Feld zu schuften. Henson war der Erste, der einen Schnitt machte. Während J. R. und J. E. weiter die Schule besuchten, ging A. J. zur Armee.

Äußerlich verlief J. R.s letztes Schuljahr bestens, obgleich seine Zensuren wie seit Langem in den meisten Fächern nur knapp über dem Durchschnitt lagen, sogar in seinen Lieblingsfächern Englisch und Geschichte. Er wurde zum stellvertretenden Klassensprecher gewählt, trat in Schultheaterstücken auf und wurde sogar auserkoren, bei der Abschlussfeier zu singen – keinen Country-Song, aber »Drink to Me Only with Thine Eyes«, eine Glaubensbezeugung mit einem Text von Ben Jonson aus dem 17.Jahrhundert. Im Jahrbuch wurde er von der Redaktion extra hervorgehoben: »In diesem Jahr bewies einer von uns sowohl als Schauspieler als auch mit seiner Stimme solch großes Bühnentalent, dass wir finden, er sollte dafür öffentlich Anerkennung erhalten. Dieser Junge war J. R. Cash.«

Die gute Stimmung in seinem letzten Schuljahr hielt jedoch nicht lange an. Tief in seinem Innern konnte J. R. die Tatsache nicht leugnen, dass er keine Ahnung hatte, wie er ins Musikgeschäft einsteigen sollte. Er überlegte, nach Nashville zu gehen, die Heimat der Country-Musik, wusste aber, dass ihm dazu der Mut fehlte, und das stimmte ihn verdrießlich. Am Tag seines Schulabschlusses bereiteten ihm nicht einmal mehr seine einsamen Spaziergänge Freude.

J. R., der unbedingt seine Unabhängigkeit von seinem Vater demonstrieren wollte, hörte, dass es im Westen von Arkansas Arbeit bei der Erdbeerernte gebe. Obwohl ihm das Baumwollpflücken all die Jahre verhasst gewesen war, machte er sich in die Stadt Bald Knob auf. Der Trip entpuppte sich jedoch als Fehlschlag: Die Erdbeerernte fiel zu gering aus, sodass es kein Geld zu verdienen gab. Also kehrte er nach drei Tagen wieder nach Hause zurück. Er wusste nicht, was er als Nächstes tun sollte, da lief ihm Frank McKinney über den Weg, ein Frisör aus Dyess. McKinney wollte mit dem Bus nach Michigan fahren und dort versuchen, einen Job in der Automobilindustrie zu bekommen. Er lud J. R. ein, mit ihm zu kommen, und dieser willigte so rasch ein, dass er sich während der Busfahrt lange fragte, ob er nicht vielleicht doch einen Fehler begehe.

In Michigan fand J. R. am ersten Tag eine Arbeit an der Stanzpresse im Karosseriewerk Fisher in Pontiac. Jeden Morgen ging er fast zweieinhalb Kilometer zu Fuß, aber es war nicht dasselbe wie auf der Schotterstraße in Dyess. Auf den Straßen der Stadt konnte er nicht singen, und für Tagträumereien fehlte ihm der Esprit. Er fühlte sich gefangen. Das Einzige, was ihm geblieben war, war seine Kettenraucherei. Vom ersten Tag an empfand er die Arbeit als eintönig und mühsam – viel schlimmer als das Baumwollpflücken zu Hause, weil er nicht von der Liebe seiner Familie und seiner Gemeinde umgeben war. Zum ersten Mal spürte er auch, was es bedeutete, ein Außenseiter zu sein, der als minderwertig gebrandmarkt wurde. Diese Erfahrung bewirkte, dass er die rassistischen Vorurteile zu hinterfragen begann, die in Dyess gang und gäbe waren.

Als J. R. eines Tages an einem Pontiac arbeitete, verrutschte der Kotflügel und schnitt ihm in den Arm. Er ging damit zum Werksarzt, der seine Karteikarte überflog und schmunzelte, als er die Worte »Dyess, Ark.« sah. »Ihr Kerle aus dem Süden sucht doch immer nur nach einer Gelegenheit, euch vor der Arbeit zu drücken«, sagte er. J. R. versuchte zu erklären, dass es ein Unfall gewesen sei, doch der Arzt ließ sich nicht beirren. Cash erinnerte sich an dessen Reaktion: »Wie lange werden Sie wohl hier arbeiten? Sie werden sich ein oder zwei gute Gehaltsschecks abholen und dann die Biege machen wie alle anderen auch, oder?«

Ein paar Tage später erkrankte Cash an einer Magen-Darm-Grippe, wollte damit aber nicht wieder zum Arzt gehen, weil er sich nicht noch einmal beleidigen lassen wollte. Die Vermieterin in seiner Pension gab ihm ein großes Glas Wein und sagte ihm, er solle sich ins Bett legen – am nächsten Morgen werde es ihm besser gehen. Am Tag darauf fühlte er sich tatsächlich besser, aber er beschloss, nach Hause zu fahren. Nach ein paar Wochen in der Autofabrik hatte er genug von der monotonen Arbeit und den Vorurteilen gegenüber Menschen aus dem Süden. Er reiste per Anhalter zurück nach Dyess.

Seine Mutter war überglücklich, ihren Sohn wiederzusehen, erschrak aber, wie dünn J. R. war. Er war immer schlank gewesen, weshalb er auch nicht, wie die meisten seiner Kameraden, in die Sportmannschaft der Schule eingetreten war. Nun jedoch wog er gerade einmal 64Kilo, wenig für einen 1,83Meter großen Teenager. Carrie gab rund um die Uhr ihr Bestes, um ihn mit Hausmannskost wieder aufzupäppeln.

Trotz seines Wunsches nach Unabhängigkeit, suchte J. R. so verzweifelt Arbeit, dass er das Angebot seines Vaters annahm, ihm einen Job in der Margarinefabrik in der Nähe von Dyess zu verschaffen, in welcher Ray arbeitete. Wie vorherzusehen, kam J. R. mit der Reglementierung dort nicht zurecht und kündigte nach wenigen Tagen wieder. Er fragte sich, ob sein Vater vielleicht doch recht hatte. Vielleicht taugte er zu nichts. Vielleicht war er faul und ziellos.

Da er nicht wusste, wohin er sonst gehen sollte, beschloss er, noch einmal in die Fußstapfen seines Vaters zu treten und zu tun, was Ray drei Jahrzehnte zuvor getan hatte. Er wollte zur Armee gehen. J. R. hatte es immer sehr gefallen, wenn sein Vater von seinen Abenteuern im Ersten Weltkrieg und über solch positive Nebeneffekte wie einen Aufenthalt in Paris mit Besuch des Eiffelturms erzählt hatte. Obendrein war dies eine Möglichkeit, schließlich doch noch Rays Anerkennung zu finden. Erst dachte er daran, wie der ältere Cash zum Heer zu gehen, doch erschien die Luftwaffe glamouröser und möglicherweise auch sicherer, sollte sich das ganze Gerede um einen Krieg in Korea als wahr erweisen.

Am 7.Juli 1950 fuhr J. R. mit dem 1945er Ford der Familie nach Blytheville und verpflichtete sich bei der Air Force. Da die Formalitäten es erforderten, einen Vornamen und keine Initialen einzutragen, schrieb J. R. einfach »John«, obwohl ihn niemand je sogenannt hatte. Als zweiten Vornamen gab er nur »R.« an. Er hatte erst sechs Wochen zuvor die Highschool beendet und sagte nun, nach mehreren Fehlstarts, Dyess endgültig Lebewohl.