Jonas Reise – Ein Abenteuer durch Raum und Zeit - Peter Becker - E-Book

Jonas Reise – Ein Abenteuer durch Raum und Zeit E-Book

Peter Becker

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Roman über bedrohte Kindheit und Menschlichkeit, über die Kostbarkeit von Freundschaft und Liebe – und das Glück, seinen Platz in einer abenteuerlichen Welt zu finden.

Der 9-jährige Jona, seine Familie und Freunde müssen vor gewaltigen Unwettern und einem grausamen Herrscher aus der Stadt Ninive im alten Mesopotamien fliehen. Durch Wüsten, Sandstürme und Gebirgsschluchten erreichen die Flüchtenden das Mittelmeer. Auch dort drohen Gefahren, dann lockt ein Schiff, sein Ziel verheißt ein neues Leben. Doch ein Orkan und die Begegnung mit einem Wal verändern Jonas Welt – und es geschieht ein Wunder. 3000 Jahre vergehen, und Jona, der Junge aus Ninive (heute Mossul im Irak), der sich und alle Angehörigen schon verloren glaubte, erwacht an der Küste Siziliens … Und schließlich gelangt Jona auch nach Deutschland.

Poetisch und einfühlsam erzählt, ist »Jonas Reise« für Kinder wie Erwachsene ein Lese- und Vorlesegenuss.

Mit 11 außergewöhnlichen Farbtafeln der Künstlerin Stella Dreis.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 204

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Peter von Becker

Mit Illustrationen von Stella Dreis

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2022 cbj Kinder- und Jugendbuchverlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

© Umschlag- & Innenillustrationen: Stella Dreis, vermittelt durch die Agentur Susanne Koppe, www.auserlesen-ausgezeichnet.de

Umschlaggestaltung: Lena Ellermann

sk · Herstellung: AJ

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

Reproduktion: Lorenz & Zeller, Inning a. A.

ISBN 978-3-641-28321-6V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Enkel Felix und Jonas, die das noch nicht selbst lesen können

INHALT

1 Ninive

2 Die Flucht

3 Das Meer

4 Der Wal

5 Das Erwachen

Glossar

Danksagung

Autor

Illustratorin

1 ..................Ninive

Oh nein! Was ist das denn?

So ein Gebrause und Gesause, da flattert ihm eben ein klatschnasses Huhn fast ins Gesicht, und er selbst kann sich kaum noch auf den Beinen halten in dieser Flut, die um ihn herum ganz trüb und stinkend wie Kamelkacke durch die Straßen treibt.

Das ist wirklich verrückt, dachte Jona. Mit einem Mal solch eine ungeheure Menge Wasser. Noch vor wenigen Tagen waren die Böden und alle Wege hier in der Stadt Ninive nur braun, gelb, fahl und trocken wie der heiße Wüstensand gewesen. Wie die Mauern der Häuser. Wie zuletzt auch die Felder der Bauern draußen vor der Stadt. So lange Zeit war kein Regen mehr gefallen.

Kam dann abends, wenn die Sonne am Rand des goldglühenden Himmels unterging, endlich ein bisschen Wind auf, dann fühlte der sich an, als hätte Jonas Mutter mit ihrem Pustebalg aus Eselshaut in den Ofen der Küche geblasen – und als hätte das Ofenfeuer die Luft noch mal heißer zurückgepustet. Es ist ein Höllenwind, sagte sein Vater, aber Jona wusste nur, dass die Hölle in einem fernen Land namens Irgendwo lag. Ein merkwürdiger Ort, an dem es immerzu brannte und offenbar keine Feuerwehr gab.

Und nun das, dieser Wahnsinnsregen. Er hatte sich angekündigt mit Wolken so dunkel wie schwarze Oliven. Mit Donnergrollen und Blitzen. Vor dem großen Regen kam plötzlich ein Sturm auf und den Menschen in Ninive flogen mit dem aufgewirbelten Sandstaub immer wieder auch die Trauben und Datteln und die Papyrusröllchen der Straßenhändler um die Ohren. In den Röllchen, die von den Händlern verkauft wurden, steckten winzige bunte Steine, und manche bedeuteten Glück, und man bekam ein Geschenk dafür. Doch jetzt hatte niemand mehr Zeit für derlei Glück oder Geschenke.

Es platschte und prasselte das Wasser, es brauste der Wind, dass sich Jona am liebsten die Ohren zugehalten hätte. Er war gerade neun geworden und ein guter Schwimmer. Immer gehörte er zu den Schnellsten, wenn er bei der Sommerhitze mit seinen Freunden in einem der vielen Seitenarme des großen Flusses Tigris um die Wette schwamm. Doch das hier, dieses nasse Tosen war alles andere als ein erfrischender Badespaß.

Längst konnte der Tigris das viele Regenwasser nicht mehr allein trinken. Er war vor den Toren der Stadt aus seinem weiten, bequemen Flussbett herausgesprungen und ergoss sich gurgelnd in die Straßen von Ninive. Zuerst hatte er die Schilfhütten der Fischer an seinen Ufern weggeschwemmt, aber bald waren die Wassermassen des Tigris auch in die höher gelegenen Teile der Stadt geschwappt, wo die festen Häuser aus gebranntem Lehm und Steinen standen.

»Hilfe, zu Hilfe, wir sind keine Fische!«, ertönten jetzt überall Rufe in der Stadt.

Jona, der gerade aus der Schule kam, watete bis über die Hüften in einer schlammigen Brühe, fast hätte er schon schwimmen müssen. Viele ältere Leute und kleine Kinder drängten sich in Holzbooten, die auf einmal durch Ninive schaukelten, als sei es eine Stadt mit lauter Kanälen. Die Wege waren nun Wasserstraßen. Gefährliche Wasserstraßen, denn einmal wurde Jona von einer Welle so mitgerissen, dass er seinen von der Nässe schweren, vollgesogenen Stoffbeutel mit der Tontafel darin verlor. Da schwamm er fort, vor seinen Augen!

Es war ein schöner Beutel, den seine Großmutter aus Schafswolle selbst gewebt und für ihn mit einem Beerensaft gefärbt hatte – so blau wie ein Himmel ohne Regen. Auf der Tafel hatten eingeritzt die Schulaufgaben für morgen gestanden. Aber kaum hatte Jona das Haus seiner Familie erreicht, gab es für ihn und seine Schwester kein Morgen mit Schule oder Spielplatz mehr.

Khalid, der Vater, versammelte die kleine Familie um ein Kaminfeuer. Durch den Regen war es draußen ein wenig kühler geworden, doch das Feuer sollte vor allem die nassen Kleider trocknen und gegen die zähe Feuchtigkeit und die inzwischen überall herumschwirrenden Stechmücken anbrennen. Jonas Mutter Naila und seine Großmutter Arwa schwenkten auch Tücher, die sie mit stark riechendem Nelkenöl beträufelt hatten, um dadurch Mücken und Ungeziefer zu vertreiben.

Susanna, die alle nur Susa oder die Süße nannten, Jonas sechsjährige Schwester, musste öfters niesen. »Mich kitzelt das in der Nase!«, rief sie und deutete auf die Tücher mit dem Nelkenöl.

Vater Khalid hob Susa auf seinen Schoß und rieb ihr mit kreisender Hand leicht über den Rücken, wie es Kinder und Kranke beruhigt. Dann sprach er eine Weile zu der schweigenden Familie. Ab und an nickten die beiden Frauen mit den Köpfen oder seufzten kurz auf. Susa nieste zwischendurch, und auch Jona nickte manchmal mit, obwohl er nicht alles, was der Vater sagte, so ganz verstand.

»Papa«, fragte Jona, »warum ist unser König so böse?«

»Ich weiß das auch nicht genau«, meinte sein Vater. »Alles, was in letzter Zeit geschieht, ist wie ein Fluch.«

»Was ist ein Fluch? Sagt der König schlimme Worte gegen uns?«

Jonas Mutter lächelte und nahm ihren Sohn in den Arm. »Nein, Papa meint keine Schimpfworte. Wenn einer zum anderen ›Du dummer Schweinskopf!‹ sagt, dann flucht er bloß rum. Aber …«

»Fluchen ist wie Furzen, nur mit Worten«, krächzte die Großmutter mit einem leisen Kichern. »Nicht aus dem Popo, sondern aus dem Mund!«

Eigentlich hatte Arwa eine sanfte Stimme, und meist spielte in ihren Augen, noch bevor der Mund es zeigte, ein weiches Lächeln. Jona und Susa liebten dieses Lächeln, das Arwas Geschichten vorm Schlafengehen begleitete. Selbst wenn die Geschichten ein bisschen schaurig oder traurig waren. Doch jetzt hustete die Großmutter, sie vertrug das Unwetter nicht und machte gleich wieder ein ernstes Gesicht. Wie Jonas Vater.

»Nein«, fuhr Vater Khalid fort, »nein, ich meine, über unserer Stadt und unserem Land lastet ein Fluch wie … ein … ein großes allgemeines Unglück. Ich habe das auch schon aus den Sternen gelesen.« Khalid, der schwarz gelockte Haare hatte, aber schon viele Silberfäden in seinem Bart, hielt einen Augenblick inne, wog den Kopf her und hin und senkte seine Stimme. »Einmal kam ein feuriger Stern, ein Komet, auf uns zugeflogen, kein gutes Zeichen!« Wieder machte der Vater eine Pause, dann sagte er: »Zur gleichen Zeit sind nun alle kleinen Flugsterne aus unserem Himmel verschwunden, als hätte der große Komet sie mit seinem Feuerschweif verjagt …«

Sein Vater meinte die Sternschnuppen, das wusste Jona, die flogen durch den Nachthimmel wie Kinder von Sternen. Jedes Mal, wenn so ein Sternenkind plötzlich erschien, hatte sich Jonas ganz schnell etwas Schönes gewünscht. Zum Beispiel einen neuen Haufen kleiner Lehmkugeln, die er und Susa zusammen mit dem Nachbarjungen Jussuf im Hof ihres Hauses hin und her kickten. Sprangen die Kugeln mal zur Seite, versuchten die weiße Katze oder der schwarze Hund der Nachbarn nach ihnen zu schnappen und sich eine Kugel zu fangen.

Das mit den Schnuppen und Wünschen hatte ihm seine Mutter Naila erzählt. Sie sagte, dass die guten Wünsche die Flugsterne auch von der Erde abhalten sollen, damit keiner von ihnen irgendwann als glühender Felsbrocken auf Häuser und Menschen fällt und ein Mordsloch in den Boden reißt und viel Schaden anrichtet.

Statt eines fallenden Sterns waren nun Sturm und Regen und die Flut gekommen, gegen die alles Wünschen nicht geholfen hatte. Die weiße Katze der Nachbarn, die sie wegen des runden rotbraunen Flecks direkt über ihren beiden wie rotbraune Bernsteine leuchtenden Augen Dreiauge nannten und die sich mit Bobi, dem kleinen schwarzen Hund, so gut vertrug, sie hatte Jona seit gestern nicht mehr gesehen.

Er wusste, dass Katzen kein Wasser mochten. Vielleicht war Dreiauge auf eine Palme geklettert und traute sich nicht mehr hinab. Fette Ratten trieben in den trüben Fluten und Bobi schwamm einmal mit ängstlichem Blick und steil aufgerichteter Schnauze durch die herumschwappende braune Wasserbrühe. Später war er nur kurz mit seinem lehmverklebten Schwanz auf der Mauer des Nachbarhauses aufgetaucht. Immer, wenn er sich dort schüttelte und zu Jona herüberwedelte, flogen kleine Schlammbrocken aus seinem struppigen, dreckverkrusteten Fell. So, als zerbröckelte das ganze Hündchen und würde mit jedem weiteren Schüttler zu einem Häufchen Warmalhund zerfallen. Das sah ein bisschen komisch aus – aber auch jämmerlich.

Schon vor einiger Zeit hatte Jonas Vater den König, der über Ninive und das umliegende Land herrschte, vor einem drohenden Unheil gewarnt. Khalid gehörte zu den Baumeistern der Stadt und baute gerne Häuser mit Türmen und hohen Dachterrassen. Von ihnen blickte er nicht nur herab auf die Welt, er liebte es noch mehr, hinauf in luftige, hohe Weiten zu schauen. Vor allem in den nächtlichen Himmel.

So hatte er einst begonnen, auf den steinernen Schrifttafeln und in Blättern aus Papyrus oder Pergamenten den Lauf der Sterne einzuzeichnen, die Veränderungen der Gestirne, den Flug von Kometen und die wechselnden flimmernden Nebel der Milchstraße, dort, wo die fernsten Sterne ganz dicht beieinanderstehen und ihr weißliches Licht unendlich fein zu versprühen scheinen.

Jonas Vater erkannte von seinen Türmen aus, dass die Welt, auf der die Menschen lebten, irgendwie gerundet war. Das sah er, wenn er zum Horizont blickte bis hin zu jener vor den Augen verschwimmenden Grenze, an der sich das Ende der erkennbaren Welt in einem Halbkreis an den Himmel schmiegt.

»Kommt und schaut her, Jona und Susa!«, hatte Vater Khalid einmal an einem klaren Tag gerufen und mit ausgestrecktem Arm zum Horizont gedeutet, wo gerade ein Reiter in der Wüste ganz weit weg auf einem Kamel auftauchte. »Schaut, wie wir das Kamel und den Reiter nicht gleich als Ganzes sehen, sondern erst mal nur ihre Köpfe! Und jetzt kommen allmählich noch Körper und Beine hinzu.«

»Ja, tatsächlich.« Jona hatte gestaunt und seine kleine Schwester mit dem Ellenbogen angestupst. Es war, als kletterten Kamel und Reiter aus einem Abhang langsam von unten hervor. Trotzdem gab es dort keinen Abhang, und die Wüste schien, wo sie keine Dünen und Hügel hatte, nur eine ebene Fläche zu sein. Offenbar eine gewaltige Täuschung.

Falls diese Welt mit den Häusern der Stadt, mit dem großen Fluss, den Feldern mit Obst, Getreide, Dattelpalmen, Oliven und Weintrauben und dahinter der schier unendlichen gelben Sandwüste, falls diese wunderbare weite Welt aber am Ende doch eher rund gebogen und also eine Art Kugel war, dann blieb nur die Frage: Warum fallen die Leute hinter dem sichtbaren Horizont, warum fallen sie und alle anderen Menschen in noch ferneren Ländern, von denen in Ninive reisende Kaufleute erzählten, auf der anderen Seite der Kugel nicht kopfüber herunter von der Erde, auf der sie stehen und gehen? Aber nicht einmal im Schlaf, wenn sie gar nicht aufpassen, fallen sie aus der Welt.

Über diese Frage dachte Jonas Vater häufig nach, und er vermutete eine besondere Kraft, die alle Menschen halte und ihnen helfe, nicht dauernd den Boden unter den Füßen zu verlieren. Jedoch behaupteten die meisten anderen Beobachter des Himmels und der Erde, die sich selbst Wahrsager und Gelehrte nannten und am Hof des Königs arbeiteten, dass die von Menschen bewohnte Welt ganz ohne Zweifel eine flache Scheibe sei. Wer sich zu weit an ihren äußersten Rand wage, der drohe tatsächlich in einen Abgrund zu fallen.

Diesen Abgrund nannten sie »das Nichts«. Oder »das Jenseits«. Und viele vermuteten dort auch die Hölle. Nachts, wenn die Sonne hinterm Horizont in dem Abgrund verschwunden war, werde die Hölle dann von der Sonne aufs Neue aufgeheizt. Einen Widerschein des unter uns brennenden Höllenfeuers zeigten an den Rändern des Tages das Abendrot und die Morgenröte.

Dann aber musste zumindest der Himmel, auf dem die Sonne rund um die Menschenwelt in ihrer täglichen Bahn kreiste, eine Art durchsichtige Kugel sein.

Dem König von Ninive hatte zunächst gefallen, was Jonas Vater über den Himmel und die Gestirne beobachtet und auf seinen Tafeln beschrieben hatte. Nur die Menschenerde war für den König, da duldete er keinen Widerspruch: eine Scheibe! Er wollte nicht, dass sein Thron auf einer abschüssigen Kugel stand und seine Untertanen ihn gar heimlich umrundeten und ihm dann unbemerkt in den Rücken fielen.

Überhaupt misstraute der König Jonas Vater bei allem, was der nicht allein über den Himmel sagte, sondern aus den Sternen über das Schicksal der vom König beherrschten Scheibe herauslas. Das Misstrauen des Königs galt so immer mehr auch seinem Volk. Denn dass die Sterne etwas über das Schicksal der Menschen verrieten, glaubten alle in Ninive.

Viele opferten Früchte, Geldstücke, Honig in Tonkrügen oder manchmal auch Tiere der Göttin Ischtar in ihrem blauen Tempel neben dem Königspalast. Ihre Anhänger stellten sich Ischtar als himmlische Herrscherin vor, mit silbernen Schlangen im Haar, mit vier Armen und zwei Herzen. So galt sie als Gründerin der Stadt vor undenklicher Zeit und als Göttin der Liebe und des Krieges. Für Jona war das nicht so recht begreiflich. Und sein Vater zweifelte ohnehin an allen Göttern und Göttinnen. Khalid gefiel nur genau wie Jona, dass der Abendstern und der Morgenstern am Himmel für die leuchtenden Augen von Ischtar gehalten wurden. Vielleicht war das Unsinn, aber ein schöner Unsinn.

Auch der König kannte die Bedeutung der Sternzeichen. Doch er wollte seit einiger Zeit nicht mehr glauben, wovor Jonas Vater warnte. Khalid hatte der Stadt Ninive vielerlei Unheil vorausgesagt. Noch mehr Unheil, als es der König längst schon angerichtet hatte, indem er entgegen allen Warnungen die Stadt und sein Land immer schlechter regierte. Immer schlechter, weil immer ungerechter. War zum Beispiel das Frühjahr zu trocken und der Sommer zu heiß und die Ernte auf den Feldern drohte zu verdorren, dann sperrte der König die klagenden Bauern ins Gefängnis.

»Lasst uns tiefere Brunnen als Speicher für das Regenwasser vom Winter bohren«, empfahlen Khalid und einige andere besonnene Ratgeber am Königshof.

»Oder mehr Kanäle graben, um das Wasser aus dem Tigris besser zu den Feldern der Bauern zu leiten!«

Der König aber hörte auf keinen guten Rat. Er verschloss sich, ohne Herz und Verstand. Währenddessen wurden die Menschen in Ninive immer ärmer in der Not, es gab Unruhen und Rufe gegen den König, der nachts seine Soldaten ausschickte und noch mehr Menschen verhaften und ins Gefängnis werfen ließ. Nicht allein die Sterne verkündeten Unheil, auch in der Stadt sah man Unheimliches.

Eines Morgens hatte der riesige steinerne Stier, der auf seinem Rücken Flügel trug und in der Mitte von Ninive als Wahrzeichen vor dem Palast des Königs stand, blutige Hörner. Die Hörner waren aus Gold und ragten hoch aufwärtsgebogen in den Himmel. Nun aber tropfte Blut von ihren Spitzen, und am Boden hatte sich ein kleiner roter See gebildet, in dem so nie gesehene große dunkle Fliegen schwammen.

Plötzlich fehlten auch die Schattenvögel, die manche in Ninive geflügelte Mäuse nannten. Das Wort fand Jona seltsam, weil er sich Mäuse mit Flügeln nicht recht vorstellen konnte. Doch sie waren auf einmal verschwunden. Keine Schattenvögel strichen ab Anbruch der Dunkelheit mehr wie gewohnt um die Dächer und segelten still durch die Nacht. Zuvor hatte Jona schon einen kleinen Schattenvogel an einer Hauswand ganz reglos am Boden liegen gesehen. Er schien viel winziger als die Nachtsegler in den Lüften, war so klein und gegen die Wand gequetscht, dass Jona keine Flügel erkennen konnte und kein Mäusegesicht. Nur zwei graue Augen, die ihn ansahen.

»Sie schlafen tagsüber, mit dem Kopf nach unten und mit offenen Augen!«, hatte Jonas Vater erzählt.

Khalid hatte Schattenvögel, die der König einfangen ließ und mit anderen Vögeln im Garten seines Palasts in großen Käfigen hielt, öfters beobachtet. Wie sie bis zur Abenddämmerung reglos kopfüber an Zweigen und Stangen hingen.

»Mit offenen Augen?« Am helllichten Tag mit offenen Augen zu schlafen, das erschien Jona noch seltsamer als der Mausname. Aber in der ganzen großen Welt der Erwachsenen und aller Tiere und Dinge herrschte offenbar nicht nur die Vernunft. Die Welt war verrückt und voller Wunder.

Seit die Schattenvögel fehlten, schrien die Eulen, die in Ninive als Boten der Träume und Weisheit verehrt wurden, auf ihren Flügen über der nächtlichen Stadt viel lauter als sonst. Solche Eulenschreie hatte zuvor noch kein Mensch gehört. Wer jedoch vor kommendem Unheil warnte, wie es Jonas Vater tat, wurde von den Beamten des Königs als »falscher Prophet« beschimpft. Manche Warner verließen die Stadt oder verschwanden im Gefängnis. Als Khalid sich nun weigerte, für den König ein noch größeres Gefängnis mit noch höheren Mauern und Türmen zu bauen, wurde er von heute auf morgen Knall auf Fall entlassen.

Der Vater hatte so seine Arbeit verloren, er und Naila, die ihm bei früheren Bauplänen zur Hand ging, verdienten kein Geld mehr. Darum musste Jonas Familie das alte Ehepaar, das ihnen im Haushalt und dem eigenen Garten half und mit dem Jona und Susa, als sie noch Krabbelkinder waren, so gerne gespielt hatten, nach einigen Monaten entlassen. Sie konnten den beiden ihren Lohn nicht mehr bezahlen.

Bald zogen sie selbst in ein kleineres Haus. Das war, kurz bevor in Ninive immer häufiger fremde, ganz in Schwarz gekleidete Reiter auftauchten. Erst kamen sie im Morgengrauen oder vor Einbruch der Nacht, dann auch am helllichten Tag und hieben und stachen mit ihren Schwertern und Lanzen nach allem, was ihnen begegnete. Sie waren so wild und unheimlich, dass selbst die Soldaten des Königs, die sonst gerne gewalttätig und gebieterisch auftraten, es kaum wagten, sich den bis auf die Augenschlitze vermummten Angreifern offen entgegenzustellen.

Auch ging meist alles sehr schnell. Die schwarzen Reiter kamen in wüster Jagd, rasten durch die Stadt, raubten, was sie ergreifen konnten, und immer häufiger legten sie noch Feuer, bevor sie auf ihren Pferden durch die aufgesprengten Stadttore in Richtung der großen Wüste davonstoben. Wohin ihnen die Soldaten mit ihren schweren, von mehreren Pferden gezogenen Streitwägen nicht folgen konnten.

Eines Tages sah Jona von ihrem früheren Haus, das so viel prächtiger gewesen war als das jetzige, bloß noch die schwarzrußigen Außenmauern stehen. Im Inneren nichts als ein rauchender Haufen Schutt und Steine, kein Dach. Und der Garten, in dem seine Mutter und seine Oma zusammen mit dem alten Paar die Kürbisse, Melonen und lange Reihen glänzender dunkelblauer Eierpflanzen gehegt hatten, war jetzt eine Aschewüste.

»Wir haben noch Glück gehabt!« Glück, meinten die Eltern, weil sie nicht mehr in ihrem schönen Haus gewohnt hatten. Die schwarzen Reiter nämlich suchten besonders die Häuser heim, in denen sie die reichen Gefolgsleute des Königs vermuteten.

Einmal hatten Naila und Großmutter Arwa auch über die Frau des Königs gesprochen. Sie kam als Prinzessin aus einem fernen Land und war beim Volk von Ninive anfangs sehr beliebt gewesen. Eine strahlende und gegenüber den Bürgern oft hilfsbereite Dame. Eine gute Königin, die selbst zwei kleine Kinder hatte. Alle dachten, sie würde ihrem bitteren Gatten mal richtig die Meinung sagen.

Aber je ungerechter und grausamer der König wurde, desto verschlossener wirkte die Königin. Man sah sie und ihre Kinder nicht mehr in der Öffentlichkeit. Es hieß, sie liebe ihren bösen Mann und halte dem Herrscher als »Eiserne Frau« die Treue. Oder war das ein Trugbild, fragte Jonas Mutter. Galt die Liebe nicht eher dem alle Tage gewohnten Königsglanz und der Macht?

Jona fand es allerdings nicht so schlecht, in dem kleineren Haus mit weniger Zimmern zu wohnen. Die Familie lebte nun enger beieinander, und auch sein Vater hatte, seit er seine Arbeit verloren hatte, mehr Zeit für Jona und Susa. Sie alle vermissten nur ihren Garten mit dem Schatten spendenden Feigenbaum, den Dattelpalmen, zwischen denen manchmal die Affen hin und her sprangen, den vielen Mauselöchern und dem Obst und Gemüse, das sie dort gezogen und geerntet hatten. Aber dafür gab es keine Schlangen mehr, die sie im Garten manchmal erschreckt hatten, und zum Spielen öffnete sich ein kleiner Hof zu den Nachbarn, mit Jussuf, Dreiauge und Bobi.

Dann war die Flut gekommen. Der Sturm und dieser Wahnsinn von Wasser. Selbst viele Fische schwammen darin nur noch mit den Bäuchen nach oben. »Wir können hier«, sagte Jonas Vater an jenem Abend, als sich die Familie vor dem Kaminfeuer versammelt hatte, »wir können hier in Ninive nichts mehr erhoffen.«

»Was soll das heißen?«, fragte jetzt Großmutter Arwa, und wieder klang ihre Stimme ernster als sonst. »Was meint mein Sohn Khalid damit?«

»Wir müssen unsere Sachen zusammenpacken. Nicht viel«, antwortete Khalid, »nur das Nötigste. Wir werden nach Westen ziehen, der Sonne nach, bis wir an ein großes Wasser kommen. Es heißt das Meer und ist, so haben das die reisenden Kaufleute berichtet, unendlich viel weiter und tiefer als unser Fluss Tigris. Ich habe mit Männern gesprochen, die uns für Geld dahin führen werden, sobald es das Wetter zulässt. Aber bis es so weit ist, redet ihr alle darüber zu niemandem auch nur ein Wort! Habt ihr verstanden? Zu keinem!«

Khalid schaute seine beiden Kinder an. »Auch nicht zu Jussuf und unseren Nachbarn. Kein Wort! Wenn die Kundschafter des Königs davon erfahren, landen wir alle im Gefängnis. Oder in Schlimmerem.«

Jona lag es auf der Zunge. Aber er getraute sich nicht zu fragen, was etwas Schlimmeres als das Gefängnis sein konnte. Also schmiegte er sich nur an den Vater, schlang einen Arm um dessen Hals und kraulte und zwirbelte mit den Fingern Khalids silbergraue Barthaare. Zärtlich und zugleich ein bisschen ängstlich wie früher, als er noch kleiner gewesen war und Khalid seinem Sohn vor dem Einschlafen Abenteuergeschichten aus unbekannten fernen Ländern erzählt hatte. Das Gefängnis war ja nicht weit vom Königspalast das riesige Haus mit den dicken Mauern. Es hatte spitze Zinnen und überall Eisengitter vor den dunklen Fensterhöhlen, und dort in der Tiefe, in den Kellern, so hatte ihm Jussuf, der Nachbarjunge, mal zugeflüstert, hockten die Gefangenen. Die Hände und Füße angeblich in eisernen Ketten. Das Gefängnis war ganz sicher ein dunkler Ort. Muffig und jetzt furchtbar feucht. Und was, wenn das Flutwasser auch durch die Gitterstäbe hinein und hinab zu den Gefangenen geflossen war? Dieses ungeheuer viele Wasser.

2 ..................Die Flucht

Mutter Naila sagte, Papa und sie und auch Großmutter Arwa hätten noch etwas Geld gespart für die Zukunft. Für Jona und Susa. Was die Zukunft bringen würde, wusste Jona nicht. Aber er und Susa und ihre Familie, das war die Gegenwart. Auf sie konnte man vertrauen, denn sie waren ja alle zusammen da, lebten, lachten, weinten und lachten auch nach dem Weinen wieder zusammen. Seine Mutter hatte einmal von einem Band gesprochen, das könne man nicht sehen, aber das unsichtbare Band sei sogar stärker als die dick gewundenen Seile, mit denen die Schiffer und Fischer auf dem Tigris ihre Boote am Ufer festmachten. Dieses unsichtbare Band sei zwischen ihnen in der Familie geknüpft. Man könne es auch die Liebe nennen. Die Liebe, die sie untereinander verbinde. Daran sollten sie sich erinnern, wenn sie mal ganz und gar unglücklich und in rabenschwarzer Not seien.

Nicht glücklich zu sein, also eine Stinklaune wegen eines Streits in der Schule zu haben oder weil eine seiner bunten Steinkugeln beim Werfen auf der Straße in einem Haufen Kamelkacke gelandet war, das kannte Jona. Aber eine rabenschwarze Not und ganz und gar unglücklich, das hatte Jona noch nicht so richtig erfahren. Obwohl er plötzlich eine Ahnung hatte, spätestens seit der Flut. Seit ihr früheres Haus zerstört war. Seit Dreiauge verschwunden war. Seit er einmal die Schreie und das Geheul gehört hatte, als die schwarzen Reiter am frühen Abend durch die Stadt jagten und die Großmutter ihn hastig von der Straße ins Haus zerrte, mit einem so festen Griff, wie er ihn von ihr bis dahin nicht gekannt hatte. Worauf der Vater die schwere Tür aus Zedernholz verriegelt und dazu noch zwei dicke Balken kreuz und quer in den gemauerten Türstock gerammt hatte. Dahinter fühlte sich Jona sicher. Aber er spürte trotzdem die nahe Gefahr. Wie Gespenster hinter der Wand.

Nun hatten Regen und Wind so plötzlich, wie sie gekommen waren, in der Nacht aufgehört. Die schnell wieder sengende Sonne ließ die eben noch gurgelnden Wasserfluten versickern und verdampfen. Was jedoch im trocknenden Schlamm in den Straßen zurückblieb, stank entsetzlich. Vater Khalid murmelte ein Wort, das Jona bisher noch nie gehört hatte. Es war das Wort Pest.

»Was ist die Pest?«