Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness: - Joseph Conrad - E-Book

Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness: E-Book

Joseph Conrad

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Joseph Conrad, der Klassiker maritimer Texte, kannte die See und die Schiffe aus jahrelanger eigener Erfahrung. Er liebte das Meer und konnte darüber wortreich erzählen. Er zeichnet menschliche Charaktere, wie sie das Leben schreibt: den lauteren Gentleman, den geldgierigen Egoisten, der über Leichen geht, den Kariere-süchtigen Streber. Er beschreibt die See in ihrer Schönheit, aber auch in ihrer grausamen Gewalt. Drei seiner Seefahrererzählungen werden in diesem Band neu aufgelegt: "Das Ende vom Lied", "Weihe" und "Hart of Darkness". - Rezension zur maritimen gelben Reihe: Ich bin immer wieder begeistert von der "Gelben Buchreihe". Die Bände reißen einen einfach mit. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. oder: Sämtliche von Jürgen Ruszkowski aus Hamburg herausgegebene Bücher sind absolute Highlights. Dieser Band macht da keine Ausnahme. Sehr interessante und abwechslungsreiche Themen aus verschiedenen Zeitepochen, die mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt haben! Man kann nur staunen, was der Mann in seinem Ruhestand schon veröffentlicht hat. Alle Achtung!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 611

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Joseph Conrad

Joseph Conrad: Das Ende vom Lied – Weihe – Hart of Darkness:

Band 173 in der maritimen gelben Buchreihe

 

 

 

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Vorwort des Herausgebers

Der Autor Joseph Conrad – 1857 – 1924

Das Ende vom Lied

II

III

V

VI

VII

VIII

IX

X

XI

XII

XIII

Weihe

Heart of Darkness

Seemännische Umgangssprache und Fachausdrücke

Erwähnte Schiffe, Pontons, Bohrinseln etc

Die maritime gelbe Buchreihe

Weitere Informationen

Impressum neobooks

Vorwort des Herausgebers

Vorwort des Herausgebers

Von 1970 bis 1997 leitete ich das größte Seemannsheim in Deutschland am Krayenkamp am Fuße der Hamburger Michaeliskirche, ein Hotel für Fahrensleute mit zeitweilig 140 Betten.

In dieser Arbeit lernte ich Tausende Seeleute aus aller Welt kennen.

1992 begann ich, meine Erlebnisse bei der Begegnung mit den Seeleuten und deren Berichte aus ihrem Leben in dem Buch ‚Seemannsschicksale’ zusammenzutragen, dem ersten Band meiner maritimen gelben Reihe „Zeitzeugen des Alltags“.

Insgesamt brachte ich bisher über 3.800 Exemplare davon an maritim interessierte Leser und erhielt etliche Zuschriften zu meinem Buch.

Ein Schifffahrtsjournalist urteilte über Band 1:  “...heute kam Ihr Buch per Post an - und ich habe es gleich in einem Rutsch komplett durchgelesen. Einfach toll! In der Sprache des Seemannes, abenteuerlich und engagiert. Storys von der Backschaftskiste und voll von Lebenslust, Leid und Tragik. Dieses Buch sollte man den Politikern und Reedern um die Ohren klatschen. Menschenschicksale voll von Hochs und Tiefs. Ich hoffe, dass das Buch eine große Verbreitung findet und mit Vorurteilen aufräumt. Da ich in der Schifffahrtsjournalistikbranche ganz gut engagiert bin, ...werde ich gerne dazu beitragen, dass Ihr Buch eine große Verbreitung findet... Ich bestelle hiermit noch fünf weitere Exemplare... Ich wünsche Ihnen viel Erfolg mit dem Buch, - das wirklich Seinesgleichen sucht...“ Uwe V.

Diese Rezension findet man bei amazon: Ich bin immer wieder begeistert von der „Gelben Buchreihe“. Die Bände reißen einen einfach mit und vermitteln einem das Gefühl, mitten in den Besatzungen der Schiffe zu sein. Inzwischen habe ich ca. 20 Bände erworben und freue mich immer wieder, wenn ein neues Buch erscheint. Danke, Herr Ruszkowski.

Diese positiven Reaktionen auf den ersten Band und die Nachfrage ermutigen mich, in weiteren Bänden noch mehr Menschen vorzustellen, die einige Wochen, Jahre oder ihr ganzes Leben der Seefahrt verschrieben haben.

Diese Zeitzeugen-Buchreihe umfasst inzwischen über 150 maritime Bände.

Dieser Band 173 würdigt den in der heutigen Ukraine gebürtigen Polen und späteren britischen Staatsbürger, den Nautiker und Schriftsteller Joseph Conrad, den Klassiker maritimer Weltliteratur. Seine tiefsinnigen Erzählungen sind voller spannender Dramatik und vermögen auch heute noch nach weit über hundert Jahren Seeleute und maritim interessierte Leser tief zu berühren. Nur einige wenige seiner Erzählungen von Erlebnisse auf See werden in diesem Band wiedergegeben.

Hamburg, 2021 Jürgen Ruszkowski

Ruhestands-Arbeitsplatz

Hier entstehen die Bücher und Webseiten des Herausgebers

* * *

Der Autor Joseph Conrad – 1857 – 1924

Joseph Conrad – 1857 – 1924

Ein Leben als Seefahrer und Literat

Text und Fakten stammen vorwiegend aus

https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Conrad

* * *

Joseph Conrad (ursprünglich Josef Teodor Konrad Nalecz Korzeniowski) wurde am 3. Dezember 1857 als Sohn polnischer Eltern in Berdyczów (Berdytschiw) unweit von Kiew (heute Ukraine) geboren, das bis 1793 polnisch gewesen war und nach der zweiten Teilung Polens unter russische Herrschaft kam.

Wappen von Berdytschiw

– Bis zum Ende des zweiten Weltkrieges lebten in dieser Gegend der ukrainischen Sowjetrepublik noch viele Polen. Sie wurden unter Stalin nach der Westverschiebung Polens in ehemals deutschen Landschaften zwangsweise umgesiedelt. –

Conrads Vater, Apollo Korzeniowski, war Schriftsteller und polnischer Patriot, der William Shakespeare und Victor Hugo ins Polnische übersetzte. Er regte seinen Sohn an, polnische und französische Literatur zu lesen. Aufgrund seines Engagements für die Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit wurde der Vater 1861 verhaftet, zunächst im X. Pavillon der Zitadelle Warschau eingekerkert und neun Monate später ins nordrussische Wologda verbannt, wohin ihn seine Ehefrau Ewelina (geborene Bobrowska) und sein Sohn begleiteten. 1865 starb dort Conrads Mutter (Josef war erst acht Jahre alt). Der Vater wurde aus der Verbannung schließlich entlassen, wohnte noch kurze Zeit in Krakau, wo Conrad das Gymnasium besuchte, und starb 1869 (Josef war also mit 11 Jahren Vollwaise).

Das Sorgerecht für das damals elfjährige Kind erhielt dessen Onkel Tadeusz Bobrowski. Er erlaubte dem sechzehnjährigen Jugendlichen 1874 ins französische Marseille zu gehen, um Seemann zu werden.

Denkmal für Joseph Conrad in Gdynia, Polen – 10. August 2004

© 2004 by Tomasz Sienicki[user: tsca, mail: tomasz.sienicki (at) gmail.com] – Eigenes Werk

* * *

Das Ende vom Lied

Das Ende vom Lied

https://www.projekt-gutenberg.org/conrad/endelied/endelied.html

I

http://www.photoship.co.uk/

Noch lange, nachdem der Dampfer „SOFALA“ Kurs auf das Land zu genommen hatte, war die morastige Küste als ein dunkler Rauchstreifen hinter dem Band aus Schaum erschienen. Es war, als ob Sonnenstrahlen mit größter Gewalt auf die ruhige See fielen, als ob sie auf der Oberfläche in glitzernden Dunst zerstäubten, in ein fast greifbares Licht, das das Auge blendete und das Hirn mit seinem grellen Flackern ermüdete.

Kapitän Whalley sah nicht auf die See. Als sein Serang sich dem geräumigen Rohrstuhl, den der Kapitän wuchtig ausfüllte, genähert und mit leiser Stimme gemeldet hatte, dass der Kurs umgesteuert werden müsse, da war Kapitän Whalley sofort aufgestanden und, das Gesicht geradeaus gerichtet, stehengeblieben, während das Vorderende seines Schiffes einen Viertelkreisbogen beschrieb. Er hatte kein einziges Wort ausgesprochen, hatte nicht einmal den Befehl gegeben, das Ruder zu stützen. Es war der Serang, ein ältlicher, flinker, kleiner Malaie mit sehr dunkler Haut, der murmelnd dem Steuermann den Befehl gab. Und dann setzte sich Kapitän Whalley langsam wieder in den Armstuhl auf der Brücke und sah starr auf das Deck zu seinen Füßen.

Er konnte nicht hoffen, in diesen Gewässern etwas Neues zu sehen. Er hatte während der letzten drei Jahre immer die gleichen Küsten befahren; von Low Cape nach Malantan waren es fünfzig Meilen, sechs Stunden Fahrt für das alte Schiff mit der Flut, oder sieben dagegen. Dann steuerte man das Land an, und allmählich erschienen dann drei Palmen am Himmel, hoch und schmächtig, die flatterigen Köpfe zusammengesteckt, wie zu einem heimlichen Klatsch über die dunklen Mangroven. Die „SOFALA“ hielt auf den dunklen Küstenstreifen zu, der in einem gegebenen Augenblick, wenn das Schiff nahe genug heran war, verschiedene leuchtende Einbuchtungen aufwies – die Mündung eines hochgehenden Flusses. Dann arbeitete sich die „SOFALA“ stromaufwärts durch eine braune Flüssigkeit, drei Teile Wasser und ein Teil schwarze Erde, zwischen niedrigen Ufern hin, drei Teile schwarze Erde und ein Teil Brackwasser, wie sie es einmal in jedem Monat, durch sieben Jahre hindurch oder noch länger getan hatte, lange bevor Kapitän Whalley von ihrem Dasein gewusst, lange bevor er daran gedacht hatte, er könnte jemals etwas mit ihr und ihren unabänderlichen Reisen zu tun haben. Das alte Schiff hätte den Weg besser kennen müssen als die Besatzung, die nicht so lange Zeit ohne Veränderung dabeigeblieben war; besser auch als der treue Serang, den Whalley von seinem letzten Schiff mitgebracht hatte, um die Kapitänswache zu halten; besser als Whalley selbst, der ja erst seit drei Jahren befehligte. Man konnte sich immer auf die „SOFALA“ verlassen, dass sie ihre Fahrten machen würde. Ihre Kompasse wurden kaum gebraucht.

Es machte durchaus keine Mühe, sie herumzuführen; es schien, als hätte ihr ihr hohes Alter Erkenntnis, Weisheit und Ruhe beschert. Sie kam auf einen Grad der Peilung genau in Sicht des Landes, und fast auf die Minute pünktlich nach dem Fahrplan. Kapitän Whalley konnte in jedem Augenblick, während er, ohne aufzusehen, auf der Brücke saß oder schlaflos in seinem Bett lag, sagen, wo er sich befand, und den genauen Standort angeben, indem er einfach die Tage und Stunden nachzählte. Auch er kannte sie gut, diese ewig gleichbleibende Hausierer-Tour, die Meerengen hinauf und herunter. Er kannte die Reihenfolge, die Aussichten und das Land. Als erstes Malakka, bei Tageslicht hinein, in der Dämmerung heraus, um dann, ein steifes, phosphoreszierendes Kielwasser hinter sich, diese Hauptstraße des Fernen Ostens zu überqueren. Dunkelheit und ein Leuchten da und dort über den Wassern, helle Sterne an einem schwarzen Himmel, vielleicht noch die Lichter eines heimwärts fahrenden Dampfers, der gerade in der Mitte seinen festen Kurs steuerte, oder auch der undeutliche Schatten eines Eingeborenenfahrzeuges, das unter Mattensegeln vorbeiflitzte – und bei Tageslicht das niedrige Land auf der anderen Seite in Sicht. Um Mittag die drei Palmen des nächsten Anlegeplatzes, am Oberlauf eines trägen Flusses. Der einzige Weiße, der dort hauste, war ein junger Seemann im Ruhestand, mit dem sich Whalley im Laufe vieler Reisen angefreundet hatte. Sechzig Meilen weiter war wieder ein Anlegeplatz, eine tiefe Bai, an deren Ufer nur ein paar Häuser standen. Und so weiter, hinein und heraus, wobei man der Küste entlang etwas Ladung einnahm; das Ende bildete eine ununterbrochene Fahrt von etwa hundert Meilen durch ein Gewimmel kleiner Inselchen, bis zu einer großen Eingeborenenstadt am Ende des Kurses. Dort gab es dann drei Tage Rast für das alte Schiff, vor dem Aufbruch in entgegengesetzter Richtung, wobei man dann dieselben Ufer in umgekehrter Reihenfolge sah, dieselben Stimmen an denselben Orten hörte; bis zum Heimathafen der „SOFALA“, an der großen Hauptstraße zum Osten, wo Kapitän Whalley dann fast gegenüber den großen Steinhäusern des Hafenamtes ein Zimmer nahm, bis es wieder Zeit wurde, die alte Rundfahrt über sechzehnhundert Meilen in dreißig Tagen anzutreten. Kein sehr aufregendes Leben das für Kapitän Whalley, Henry Whalley, auch Teufels-Harry genannt – den Whalley vom „KONDOR“, der seinerzeit ein berühmter Schnellsegler gewesen war.

Nein, kein sehr aufregendes Leben für einen Mann, der berühmten Firmen gedient, berühmte Schiffe (von denen mehr als eines sein Eigentum gewesen war) gesegelt, der berühmte Überfahrten gemacht hatte; der Pionier neuer Routen und neuer Handelszweige gewesen war, unerforschte Gebiete der Südsee durchkreuzt und die Sonne über Eilanden aufgehen gesehen hatte, die auf keiner Karte standen. Fünfzig Jahre zur See und vierzig Jahre im Osten (‚eine recht gründliche Lehrzeit’, pflegte er lächelnd zu bemerken) hatten ihn einer Generation von Reedern und Händlern in Ehren bekannt gemacht, von allen Häfen von Bombay ab bis dorthin, wo an der Küste der beiden Amerika der Osten in den Westen verläuft. Sein Ruhm blieb auf den Admiralitätskarten aufgezeichnet, nicht sehr hervorstechend, aber doch deutlich genug. Gab es nicht irgendwo zwischen Australien und China ein Whalley Island und ein Kondor-Riff? Auf jener gefährlichen Korallenformation war der berühmte Schnellsegler drei Tage lang gestrandet festgesessen; der Kapitän und die Mannschaft hatten sozusagen mit einer Hand die Ladung über Bord geworfen und mit der anderen eine Flottille von Kriegskanus der Eingeborenen abgewehrt. Damals führten weder das Eiland noch die Klippe ein amtlich anerkanntes Dasein. Später erkannten die Offiziere I. M. Dampfschiffs „FÜSILIER“, ausgeschickt, um die Route aufzunehmen, die Tat des Mannes und die Festigkeit des Schiffes an, indem sie die beiden Namen beibehielten. Überdies beginnt ja, wie jedermann, dem daran liegt, sehen kann, das ‚Allgemeine Handbuch’, Vol. II, Pag. 410, die Beschreibung der ‚Malotu- oder Whalley-Passage‘ mit den Worten: „Diese vorteilhafte Route, die zuerst von Kapitän Whalley in dem Schiff „KONDOR“ im Jahre 1850 entdeckt wurde...“ und endet mit einer warmen Empfehlung dieser Route für Segelschiffe, die aus chinesischen Häfen in den Monaten Dezember bis April nach Süden auslaufen.

Das war der ersichtliche Gewinn gewesen, den er vom Leben gehabt hatte. Nichts konnte ihm diese Art Ruhm nehmen. Der Durchstich der Landenge von Suez hatte, wie der Durchbruch eines Damms, eine Überschwemmung des Ostens durch neue Schiffe, neue Menschen, neue Handelsmethoden zur Folge gehabt. Das Gesicht der östlichen Meere, wie auch der Kern ihres Lebens waren dadurch geändert worden, so dass Kapitän Whalleys frühere Erfahrungen der neuen Generation von Seeleuten nichts mehr bedeuteten.

In jenen verklungenen Tagen hatte er viele tausend Pfund von seiner Reeder und seinem eigenen Geld in Händen gehabt. Er hatte getreulich, wie es das Gesetz von einem Kapitän erwartet, die einander widerstreitenden Interessen der Reeder, Befrachter und Versicherung vertreten. Er hatte nie ein Schiff verloren oder sich zu einer zweideutigen Handlung hergegeben; und er hatte gut ausgehalten und schließlich sogar die Vorbedingungen überdauert, die die Entstehung seines guten Namens ermöglicht hatten. Er hatte sein Weib begraben (im Golf von Petschili), hatte seine Tochter an den Mann ihrer unglücklichen Wahl verheiratet und ein sehr stattliches Vermögen beim Bankrott des bekannten Travancore-Dekhan-Bankvereins verloren, dessen Sturz den Osten wie ein Erdbeben erschüttert hatte. Und er war fünfundsechzig Jahre alt.

* * *

II

II

Sein Alter drückte ihn nicht schwer; und seines Ruins schämte er sich nicht. Er war nicht der einzige gewesen, der an die unbedingte Sicherheit des Bankvereins geglaubt hatte. Leute, deren Urteil in Geldangelegenheiten so zuverlässig schien, wie das seine in allem, was die See betraf, hatten gemeint, er habe sein Geld gut angelegt, und hatten selbst bei dem großen Zusammenbruch viel Geld verloren. Der einzige Unterschied zwischen ihm und ihnen war, dass er alles verloren hatte. Und doch nicht alles. Von seinem verlorenen Vermögen war ihm eine sehr hübsche kleine Bark „FAIR MAID“ übriggeblieben, die er gekauft hatte zum Zeitvertreib für die Jahre, in denen er sich vom Dienst zurückgezogen haben würde – als Spielzeug, wie er es selbst nannte.

Dass er der See müde sei, hatte er ausdrücklich in dem Jahre vor der Verheiratung seiner Tochter erklärt. Als aber das junge Paar weggezogen war, um sich in Melbourne niederzulassen, hatte er entdeckt, dass er an Land doch nicht glücklich werden könne. Er war zu sehr Kapitän der Handelsmarine, als dass ihn bloßer Jachtsport hätte befriedigen können. Er wünschte wenigstens den Anschein von Geschäften beizubehalten; und die Erwerbung der „FAIR MAID“ gewährleistete ihm die Möglichkeit, sein Leben fortführen zu können. Seinen Bekannten in verschiedenen Häfen stellte er sie als ‚mein letztes Kommando’ vor. Wenn er einmal zu alt geworden war, dass man ihm weiterhin hätte ein Schiff anvertrauen dürfen, dann wollte er sie abtakeln und an Land gehen, um sich begraben zu lassen, in seinem Testament aber die unbedingte Verfügung hinterlassen, dass am Begräbnistage die Bark hinausgeschleppt und in tiefem Wasser sauber versenkt werden sollte. Seine Tochter würde ihm sicher nicht die Erfüllung seines Wunsches verwehren, dass kein Fremder nach ihm sein letztes Kommando in die Hände bekommen würde. Bei dem Vermögen, das er ihr hinterlassen konnte, spielte der Wert einer Fünfhundert-Tonnen-Bark keine Rolle. All dies pflegte er mit einem lustigen Augenzwinkern zu erzählen; der rüstige alte Mann hatte zu viel Lebenskraft, um ein schmerzliches Bedauern aufbringen zu können; ein wenig Wehmut klang vielleicht doch mit, denn er fühlte sich im Leben zu Hause und fand ehrliche Freude an seinen Gefühlen und Genüssen; an seinem eigenen ehrenwerten Ruf und seinem Reichtum, an der Liebe für seine Tochter und der Zufriedenheit mit dem Schiff – dem Spielzeug seiner einsamen Mußezeit.

Die Kajüte hatte er sich mit all der Bequemlichkeit einrichten lassen, die sein eigener einfacher Geschmack, ihm zur See zu erlauben schien. Ein großer Bücherkasten (er war leidenschaftlicher Leser) nahm eine Seite der Staatskabine ein. Das stark nachgedunkelte Ölbildnis seiner verstorbenen Frau, auf dem das Profil und eine lange Ringellocke eines jungen Weibes zu erkennen waren, hing seiner Bettstelle gegenüber. Drei Chronometer tickten ihn in den Schlaf und begrüßten ihn beim Erwachen mit dem dünnen Stimmendurcheinander ihrer Gangwerke. Er stand jeden Tag um fünf Uhr auf.

Der Offizier von der Morgenwache, der achtern beim Rad seinen Frühkaffee trank, konnte durch die weite Mündung der Kupferventilatoren all das Plätschern, Schnauben und Sprudeln von seines Kapitäns Morgentoilette hören. Diese Geräusche waren unweigerlich von einem gleichtönigen, tiefen Murmeln gefolgt: der Kapitän sprach mit ernster Stimme das Vaterunser. Fünf Minuten später tauchten sein Kopf und seine Schultern aus der Kajütenluke auf. Unbeweglich hielt er eine Zeitlang auf der Treppe an und sah ringsum nach dem Horizont, nach oben, nach der Segelstellung, und zog dabei in tiefen Zügen die frische Luft ein. Dann erst pflegte er auf die Hütte hinaufzugehen und, während der Offizier grüßend die Hand an den Mützenrand legte, mit einem majestätischen und wohlwollenden „Guten Morgen“ zu antworten. Bis acht Uhr schritt er gewissenhaft das Deck ab. Manchmal, doch nicht öfter als zweimal im Jahre, musste er dabei einen starken, keulenartigen Stock gebrauchen, wegen einer kleinen Steifheit in der Hüfte, eines Anflugs von Rheumatismus, wie er annahm. Im Übrigen wusste er nichts von den Übeln des Fleisches. Beim Klang der Frühstücksglocke ging er hinunter, um seine Kanarienvögel zu füttern, die Chronometer aufzuziehen und den Platz am Kopfende des Tisches einzunehmen. Von dort aus hatte er die großen Lichtbilder seiner Tochter, ihres Gatten und zweier dickbeiniger Babys – seiner Enkelkinder – vor Augen, die in schwarzen Rahmen in das Ahornholz der Wandverkleidung eingelassen waren. Nach dem Frühstück pflegte er das Glas über diesen Bildern selbst mit einem Tuch abzuwischen und das Ölbild seiner Frau mit einem Federwisch abzustauben, der an einem kleinen Messinghaken neben dem schweren Goldrahmen hing. Dann schloss er die Tür seiner Staatskabine hinter sich und setzte sich auf das Ruhelager unter dem Bild, um ein Kapitel aus einer dicken Taschenbibel, ihrer Bibel, zu lesen. An manchen Tagen aber saß er nur eine halbe Stunde da und hielt die Finger zwischen den Blättern und das geschlossene Buch auf dem Knie. Vielleicht hatte er sich plötzlich daran erinnert, wie sehr sie das Segeln geliebt hatte.

Sie war ein guter Schiffskamerad und eine echte Frau gewesen. Für ihn war es ein Glaubenssatz, dass es niemals ein helleres, traulicheres Heim zur See oder zu Lande gegeben hatte oder geben konnte, als sein Heim unter dem Hüttendeck des „KONDOR“, mit der großen Hauptkajüte, die ganz in Weiß und Gold gehalten und wie für ein immerwährendes Fest von einer unverwelklichen Blumenkette umzogen war. Sie selbst hatte die Mitte jedes Feldes in der Vertäfelung mit einem Strauß heimatlicher Blumen geschmückt. Es hatte sie zwölf Monate gekostet, um mit dieser liebevollen Arbeit um die ganze Kajüte herumzukommen. Ihm war es als ein Wunderwerk der Malerei erschienen, unübertrefflich vollendet in der geschmackvollen Ausführung; und der alte Swimburne gar, sein Erster Offizier, blieb, sooft er zu den Mahlzeiten herunter kam, wie angenagelt stehen und bewunderte das Fortschreiten des Werkes. „Man könnte diese Rosen beinahe riechen“, erklärte er und schnüffelte den leisen Terpentingeruch ein, der damals den Salon durchzog und (wie der Alte nachher gestand) ihm mitunter ein wenig die Freude am Essen genommen hatte. Nichts Derartiges aber stand dem Genuss im Wege, den er an ihrem Singen fand. „Frau Whalley ist eine wirklich vollkommene Nachtigall, Herr“, pflegte er sachverständig zu bemerken, nachdem er über das Oberlicht gebeugt ein Stück bis zu Ende angehört hatte. Bei gutem Wetter konnten die beiden Männer während der zweiten Wache ihre Triller und Läufe hören, die mit Klavierbegleitung aus der Kajüte drangen. Am Tage ihrer Verlobung hatte er nach London um das Instrument geschrieben; sie waren aber mehr als ein Jahr verheiratet, als es sie endlich erreichte. Die große Kiste bildete einen Teil der ersten Ladung, die ohne Umladen um das Kap herumgekommen war und im Hafen von Hongkong gelöscht wurde – ein Ereignis, das den Männern, die jetzt über die geschäftigen Quais schreiten, schattenfern schien wie vorgeschichtliche Zeitalter. Kapitän Whalley aber konnte während der Stunde der Einsamkeit sein ganzes Leben wieder durchleben, mit seiner Romantik, seinen stillen Freuden und seinen Schmerzen. Er selbst hatte seiner Frau die Augen schließen müssen. Sie ging unter der Flagge über Bord, wie eine rechte Seemannsfrau, sie selbst im Herzen ein Seemann. Er hatte über ihr das Totengebet gelesen, aus ihrem eigenen Gebetbuch, und die Stimme war ihm nicht gebrochen. Wenn er die Augen hob, hatte er den alten Swimburne sehen können, der ihn ansah und die Mütze an die Brust gedrückt hielt und dessen runzeliges, wetterverbranntes Gesicht von Wasserperlen triefte wie ein rohbehauener roter Granitblock in einem Regenschauer. Für den alten Seebären war es ganz recht zu weinen. Er selbst aber musste bis zu Ende lesen; allerdings erinnerte er sich nicht mehr, was einige Tage nach dem Aufklatschen geschehen war. Ein älterer Matrose aus der Mannschaft, der nähen konnte, hatte für das Kind aus einem der schwarzen Kleider der Mutter ein Trauerkleidchen zurechtgemacht.

Kapitän Whalley glaubte, nicht vergessen zu können. Aber das Leben lässt sich nicht aufstauen, wie ein träger Strom. Es bricht durch und überflutet eines Mannes Kummer, es schließt sich über einem Schmerz, wie die See über einem toten Leib, ganz gleich, wieviel Liebe mit auf den Grund gegangen ist. Und die Welt ist nicht schlecht. Die Leute waren gütig gegen Kapitän Whalley gewesen; besonders Frau Gardner, die Frau des Seniorchefs von Gardner, Patteson & Co., den Reedern des „KONDOR“. Sie hatte sich freiwillig erboten, für die Kleine zu sorgen, und sie, als es soweit war, mit ihren eigenen Mädchen nach England genommen (und das war damals eine Reise, wenn auch mit der Überlandpost), um ihre Erziehung zu vollenden. Zehn Jahre waren vergangen, bevor er sie wiedergesehen hatte.

Als kleines Kind hatte sie sich nie vor schlechtem Wetter gefürchtet. Sie bettelte oft, dass er sie in der Brustfalte seines Ölzeugs an Deck nehmen sollte, um den großen Brechern zuzusehen, die über den „KONDOR“ wegschlugen. Das Rauschen und Krachen der Wogen schien ihre kleine Seele mit atemlosem Entzücken zu erfüllen. ‚An der ist ein guter Junge verloren’, pflegte er spaßhaft von ihr zu sagen. Er hatte sie Ivy [Unübersetzbares englisches Wortspiel: ‚Ivy’, weiblicher Vorname, aber auch Efeu. – Anmerkung des Übersetzers] genannt, dem Klang des Wortes zuliebe und vielleicht auch durch eine undeutliche Gedankenverbindung bestimmt. Sie hatte sich eng um sein Herz gerankt und sollte sich, nach seinem Willen, fest an ihren Vater halten können, wie an einen Turm der Stärke; dabei hatte er, solange sie klein war, vergessen, dass sie sich der Natur der Dinge entsprechend wahrscheinlich an irgendeinen anderen halten würde. Doch liebte er das Leben zur Genüge, dass ihm sogar diese Tatsache eine gewisse Befriedigung neben dem mehr heimlichen Gefühl des Verlustes geben konnte. Nachdem er die „FAIR MAID“ gekauft hatte, um einen Zeitvertreib zu haben, hatte er schnell eine ziemlich unvorteilhafte Fracht nach Australien aus dem einfachen Grunde angenommen, um seine Tochter in ihrem eigenen Heim besuchen zu können; dass er dort sehen musste, wie sie nun an irgendjemand hing, verstimmte ihn nicht so sehr wie die andere Erkenntnis, dass der Halt, den sie sich erwählt hatte, sich bei näherer Prüfung als ein recht armseliger Stecken erwies – sogar in Bezug auf die Gesundheit.

Dem Alten widerstrebte die unterstrichene Höflichkeit des Schwiegersohnes vielleicht noch mehr als dessen Art, die Geldsumme zu verwalten, die Ivy bei der Hochzeit mitbekommen hatte. Doch sagte er nichts von seinen Befürchtungen. Nur am Tage seiner Abreise, während die Hallentür schon offenstand, hielt er Ivys beide Hände, sah ihr fest in die Augen und sagte: „Du weißt, meine Liebe, alles, was ich habe, ist für dich und die Kleinen. Denke daran, mir immer offen zu schreiben.“ Sie hatte ihm mit einer fast unmerklichen Kopfbewegung geantwortet. Sie ähnelte ihrer Mutter in der Farbe der Augen, im Charakter – und auch darin, dass sie ihn ohne viele Worte verstand.  Sie hatte allerdings bald zu schreiben – und über manche dieser Briefe musste Kapitän Whalley seine weißen Brauen hochziehen. Im Übrigen war er der Ansicht, dass er den wahren Lohn für seine Lebensmühen nur erntete, wenn er imstande war, alles zu tun, was man von ihm verlangte. Seit dem Tode seiner Frau hatte er sich keine großen Vergnügungen gegönnt. Bezeichnenderweise weckten die unweigerlichen Misserfolge seines Schwiegersohns aus der Entfernung in ihm sogar eine gewisse Güte gegen den Mann. Der Bursche saß alle Augenblicke so jämmerlich an einer Leeküste fest, dass es augenscheinlich unbillig gewesen wäre, der leichtfertigen Navigation die ganze Schuld zu geben. Nein, nein! Kapitän Whalley wusste wohl, was das hieß. Das Glück fehlte. Er selbst hatte immer sehr viel Glück gehabt, hatte aber auch in seinem Leben zu viele gute Männer – Seeleute und andere – einfach an dem Mangel an Glück untergehen sehen, um die schlimmen Anzeichen nicht zu erkennen. Aus allen diesen Gründen erwog er gerade den besten Weg, um jeden Pfennig, den er zu hinterlassen hatte, recht fest anzulegen, als nach wenigen vorhergehenden Gerüchten (die ihn zufällig zuerst in Shanghai erreichten) plötzlich der große Krach erfolgte. Und nachdem er die Phasen der sprachlosen Verblüffung, der Ungläubigkeit und Entrüstung durchlaufen, hatte er sich mit der Tatsache abzufinden gehabt, dass ihm nichts Nennenswertes übriggeblieben war, das er hätte hinterlassen können.

Daraufhin, als hätte er nur auf diesen Schicksalsschlag gewartet, gab der Unglücksmensch dort in Melbourne seinen unvorteilhaften Beruf auf und setzte sich zur Ruhe – noch dazu in einem Rollstuhl. ‚Er wird nie wieder gehen können’, schrieb die Frau. Zum ersten Male in seinem Leben fühlte sich Kapitän Whalley etwas niedergeschlagen.

Für die „FAIR MAID“ wurde es nun mit der Arbeit bittrer Ernst. Es ging nicht länger darum, das Andenken für Teufels-Harry Whalley in den östlichen Meeren wachzuhalten oder einem alten Mann das Taschengeld und die Schneiderrechnung zu bezahlen und vielleicht darüber hinaus noch ein paar feine Zigarren bei Jahresschluss. Er musste sich richtig ins Zeug legen und das Schiff scharf hernehmen, wobei für die Vergoldung der Lebkuchenschnörkel an Steven und Heck wenig übrigblieb.

Diese Notwendigkeit öffnete ihm die Augen für die grundlegenden Veränderungen in der Welt. Aus seiner Vergangenheit waren da und dort die Familiennamen geblieben, die Dinge und die Männer aber, wie er sie gekannt hatte, waren dahingegangen. Der Name von Gardner, Patteson & Co. fand sich noch an den Mauern von Lagerhäusern an den Quais, auf Messingplatten und Fensterscheiben im Geschäftsviertel von mehr als einem Hafen des Ostens; aber es gab keinen Gardner oder Patteson mehr in der Firma. Es gab auch für Kapitän Whalley keinen Lehnstuhl und keinen Willkomm mehr im Privatbüro, kein kleines Geschäftchen dazu, das man einem alten Freund zum Dank für frühere Dienste gelegentlich zuschob. Die Gatten der Gardner-Mädels saßen hinter den Schreibtischen in dem Zimmer, wo er sich zu Lebzeiten des alten Mannes, lange nachdem er den Dienst verlassen, noch ein Eintrittsrecht gewahrt hatte. Ihre Schiffe hatten gelbe Schornsteine mit schwarzem Rand und einen genau festgelegten Fahrplan, wie eine elende Straßenbahn. Die Winde im Dezember und im Juni machten ihnen nichts aus. Den Kapitänen (ausgezeichneten jungen Leuten, daran zweifelte er nicht) war natürlich Whalley Island vertraut, denn kürzlich hatte die Regierung an der Nordspitze ein weißes festes Feuer eingerichtet (mit einem roten, Gefahr kündenden Seitenlicht nach dem Kondor-Riff zu). Doch die meisten unter ihnen wären wohl aufs höchste überrascht gewesen, zu hören, dass es noch einen Whalley von Fleisch und Blut gab – einen alten Mann, der die Welt durchzog und sich mühte, da und dort eine Ladung für seine kleine Bark aufzutreiben.

Und überall war es das gleiche. Dahin die Männer, die bei der Nennung seines Namens anerkennend genickt und es als Ehrenpflicht betrachtet hätten, etwas für Teufels-Harry Whalley zu tun. Dahin die Möglichkeiten, die er verstanden hätte auszunützen. Und verschwunden, zugleich mit ihnen, auch die weißbeschwingte Schar der Schnellsegler, die im ungewissen Wehen der Winde dahinlebten und aus der schäumenden See viel Geld herausschlugen. In einer Welt, die den Gewinn auf die Mindestgrenze heruntergedrückt hatte, die ihre freie Tonnage täglich zweimal überzählen konnte und in der magere Frachten drei Monate im Voraus durch Kabel vergeben wurden – in einer solchen Welt gab es keine Aussichten mehr für ein Menschenwesen, das auf gut Glück mit einer kleinen Bark herumzog; keine Aussichten, kaum noch Platz zum Leben.

Er fand es von Jahr zu Jahr schwieriger. Er litt schwer darunter, dass er seiner Tochter nur kleine Zuschüsse senden konnte. Inzwischen hatte er gute Zigarren ganz aufgegeben und sich sogar bei den billigeren auf sechs Stück am Tage beschränken gelernt. Er schrieb ihr nie ein Wort von seinen Schwierigkeiten, und auch sie ließ sich über die ihren niemals aus. Ihr gegenseitiges Vertrauen zueinander verlangte keine Aufklärungen, und ihr unbedingtes Verstehen hielt an, auch ohne Versicherungen von Dankbarkeit oder Bedauern. Es hätte ihn verletzt, wenn sie es sich hätte einfallen lassen, ihm wortreich zu danken, doch fand er es ganz natürlich, dass sie ihm gestand, sie brauche zweihundert Pfund.

Er hatte mit der „FAIR MAID“ unter Ballast den Heimathafen der „SOFALA“ angelaufen, um nach einer Fracht Ausschau zu halten, und ihr Brief hatte ihn dort erreicht. Sein Inhalt besagte, dass es keinen Sinn habe, die Tatsache zu beschönigen. Ihr bliebe kein andrer Ausweg, als ein Kosthaus zu eröffnen, wofür ihrer Meinung nach die Aussichten günstig waren. Gut genug jedenfalls, um ihr den Freimut zu der Mitteilung zu geben, dass sie mit zweihundert Pfund anfangen könnte. Er hatte hastig den Umschlag aufgerissen, auf Deck, wo er ihm durch den Laufboten des Schiffsmaklers, der ihm sofort nach dem Ankern die Post gebracht hatte, übergeben worden war. Zum zweiten Mal in seinem Leben fühlte er sich niedergeschlagen und blieb stocksteif in der Kajütentür stehen, das Papier in den zitternden Fingern. Ein Kosthaus eröffnen! Zweihundert Pfund für den Anfang! Der einzige Ausweg! Und er wusste nicht, wo er zweihundert Pence hernehmen sollte!

Die ganze Nacht lang schritt Kapitän Whalley die Hütte seines verankerten Schiffes ab, als handelte es sich darum, bei schlechtem Wetter unter Land zu kommen, ohne genaue Kenntnis des Standpunktes, nach einer Fahrt durch viele graue Tage, ohne Sonne, Mond und Sterne. Die schwarze Nacht glitzerte von Richtfeuern für Seeleute und den ruhigen, geraden Streifen der Lichter an Land. Rings um die „FAIR MAID“ warfen tanzende Schiffslichter zitterigen Widerschein über das Wasser der Reede. Kapitän Whalley sah nirgends einen Lichtschimmer, bis der Tag anbrach und er merkte, dass seine Kleider von schwerem Tau durchnässt waren.

Sein Schiff war schon wach. Er blieb kurz stehen, drückte seinen nassen Bart aus und stieg rücklings, mit müden Füßen, die Hüttenleiter hinab. Bei seinem Anblick blieb dem Ersten Offizier, der sich schläfrig auf dem Hauptdeck herumdrückte, mitten in dem Morgengähnen der Mund offen stehen.

„Guten Morgen“, sagte Kapitän Whalley feierlich und ging in die Kajüte. Doch er blieb in der Tür stehen und fügte, ohne zurückzusehen, hinzu: „Nebenbei ... irgendwo im Lazarett muss noch eine leere Holzkiste aufgehoben sein. Sie ist nicht zerschlagen worden, oder?“

Der Offizier schloss den Mund und fragte dann wie betäubt: „Was für eine leere Kiste, Herr?“

„Eine große, flache Kiste, für das Ölbild in meinem Zimmer. Lassen Sie sie an Deck schaffen und vom Zimmermann nachsehen. Ich werde sie vielleicht bald brauchen.“

Der Offizier rührte kein Glied, bis er die Tür zu des Kapitäns Staatskajüte hatte zuschlagen hören. Dann winkte er den Zweiten achtern zu sich und teilte ihm mit, ‚es sei etwas im Winde’. Als die Glocke zum Frühstück läutete, dröhnte Kapitän Whalleys Stimme durch die geschlossene Tür: „Setzen Sie sich hin und warten Sie nicht auf mich.“ Und seine Offiziere setzten sich bedrückt zu Tisch und tauschten Blicke und geflüsterte Worte. Was? Kein Frühstück? Und noch dazu, nachdem er sich offenbar die ganze Nacht auf Deck herumgetrieben hatte! Ja, da war freilich etwas im Winde. Über ihren Köpfen, die ernst über die Teller gebeugt waren, schaukelten im Oberlicht drei Drahtkäfige von dem rastlosen Umherhüpfen der hungrigen Kanarienvögel. Aus der Staatskajüte konnten sie die gemessenen Bewegungen ihres Alten hören. Kapitän Whalley zog bedächtig die Chronometer auf, staubte das Ölbild seiner verstorbenen Frau ab, nahm ein sauberes, weißes Hemd aus der Schublade und machte sich in seiner peinlich genauen, besonnenen Art fertig, an Land zu gehen. Er hätte an jenem Morgen keinen Bissen hinunterbringen können. Er hatte sich entschlossen, die „FAIR MAID“ zu verkaufen.

* * *

III

III

Gerade damals suchten die Japaner weit und breit nach Schiffen von europäischer Bauart, und Kapitän Whalley hatte keine Schwierigkeiten, einen Käufer zu finden, einen Spekulanten, der hart feilschte, aber die „FAIR MAID“, im Hinblick auf einen gewinnreichen Weiterverkauf, bar bezahlte. So kam es, dass Kapitän Whalley an einem gewissen Nachmittag die Freitreppe eines der bedeutendsten Postämter des Ostens mit einem Streifen bläulichen Papiers in der Hand hinunterging. Es war der Aufgabeschein eines eingeschriebenen Briefes, den er mit einem Scheck über zweihundert Pfund nach Melbourne geschickt hatte. Kapitän Whalley schob den Papierstreifen in seine Westentasche, zog seinen Stock unter dem Arm hervor und ging die Straße hinunter.

Es war eine kürzlich eröffnete und noch unfertige Hauptstraße, mit einer Andeutung von Bürgersteigen zu beiden Seiten und über und über von einer weichen Staubschicht bedeckt. Ihr eines Ende mündete in das elende chinesische Geschäftsviertel nahe am Hafen, nach der anderen Seite aber erstreckte sie sich in gerader Linie, ohne Häuser, ein paar Meilen weit durch Inseln dschungelartigen Pflanzenwuchses bis zu den Hoftoren der neuen Vereinigten Dock-Gesellschaft. Die grellen Stirnseiten der neuen Regierungsgebäude wechselten ab mit den rohen Plankenzäunen um leere Bauplätze. Die Straße war leer und wurde von den Eingeborenen nach den Geschäftsstunden vermieden, als hätten sie gefürchtet, dass einer der Tiger aus der Nachbarschaft der neuen Wasserwerke auf dem Hügel heruntergetrabt kommen könnte, um sich einen der chinesischen Ladeninhaber zum Abendessen zu holen. Kapitän Whalley konnte die Einsamkeit der großangelegten Straße nichts von der Wucht seiner Erscheinung nehmen. Er schritt, eine einsame Gestalt mit einem großen, weißen Bart wie ein Pilger, zielbewusst dahin, einen dicken Stock in der Hand, der eine Waffe schien. Auf einer Seite zeigte sich der Vorbau des neuen Gerichtsgebäudes, niedrig und schmucklos auf stämmigen Säulen ruhend und halb verborgen hinter ein paar alten Bäumen, die man im Vorgarten stehengelassen hatte. Auf der anderen Seite kamen die Flügel des neuen Kolonialschatzamtes bis an die Straßenflucht heran. Kapitän Whalley aber, der nun kein Schiff und kein Heim mehr hatte, erinnerte sich im Vorübergehen, dass, als er zum ersten Male aus England herübergekommen war, auf diesem selben Fleck ein Fischerdorf gestanden hatte, ein paar Rohrhütten auf Pfählen, zwischen einer schlammigen Flutbucht und einem morastigen Fußpfad, der sich in eine dichte Wildnis ohne Docks oder Wasserwerke verlor.

Kein Schiff und kein Heim. Und auch seine arme Ivy dort weit weg hatte kein Heim. Ein Kosthaus ist kein Heim, wenn es einem auch einen Lebensunterhalt gewähren mag. Der Gedanke an das Kosthaus widerstrebte seinem innersten Gefühl. Seine Stellung im Leben paarte sich mit wahrhaft adeligen Anschauungen, die eine Verachtung kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit und ein gewisses Vorurteil gegen die Anrüchigkeit gewisser Berufsarten kennzeichneten. Für seine Person hatte er es immer vorgezogen, Handelsschiffe zu führen (was eine einwandfreie Beschäftigung ist), anstatt Ware zu kaufen und zu verkaufen, wobei es ja im Grunde darauf ankommt, jemand hineinzulegen – oder bestenfalls auf eine ziemlich würdelose Entfaltung von Scharfsinn. Sein Vater war der Oberst Whalley (im Ruhestand) gewesen, seinerzeit in Diensten der Ostindischen Kompanie, mit sehr bescheidenen Mitteln neben seiner Pension, doch mit vornehmen Beziehungen. Kapitän Whalley konnte sich noch aus seiner Knabenzeit erinnern, dass die Kellner in Gasthäusern, Landkaufleute und ähnliche Angehörige der unteren Mittelstände den alten Krieger infolge seiner machtvollen Erscheinung als ‚Mylord’ ansprachen.

Kapitän Whalley selbst (er wäre wohl in die Marine eingetreten, wäre sein Vater nicht gestorben, bevor er selbst vierzehn Jahre alt war) hatte etwas Großartiges, das einem alten, glorreichen Admiral gut angestanden hätte. Nun aber verlor er sich wie ein Strohhalm in einem Wirbelwind unter dem Schwarm von brauner und gelber Menschheit in einer Zwischenstraße, die im Gegensatz zu der breiten, leeren Allee, die er verlassen hatte, eng wie eine Schlucht und von aufbrausendem Leben überzuquellen schien. Die Hauswände waren blau gestrichen; die Läden der Chinesen gähnten wie Höhlengräber; Haufen von unbeschreiblichen Waren überschwemmten die langen Laubengänge, und die Glut eines klaren Sonnenuntergangs ergoss sich mitten durch die Straße, von einem Ende zum anderen, wie der Abglanz eines Brandes. Sie fiel auf die bunten Farben und die dunklen Gesichter der bloßfüßigen Menge, auf die bleichen, gelben Rücken der halbnackten Lastkulis, auf das Lederzeug eines hochgewachsenen Sikh mit geteiltem Bart, der vor dem Tor des Polizeigebäudes Wache stand. Riesengroß über dem Meer dichtgedrängter Köpfe, schwamm, von einer roten Dunstwolke umgeben, ein vollgepackter Wagen der elektrischen Straßenbahn vorbei, unter unaufhörlichem Blasen seines Signalhorns, wie ein Dampfer, der im Nebel tutet.

Kapitän Whalley kam wie ein Taucher auf der anderen Seite hoch und nahm im einsamen Schatten zwischen den Mauern der geschlossenen Warenhäuser seinen Hut ab, um sich die Stirn zu kühlen. Ein gewisser übler Beigeschmack haftete dem Beruf einer Kosthauswirtin an. Diese Frauen gelten als habgierig, gewissenlos, unzuverlässig; und wenn er auch keine Klasse seiner Mitmenschen verachtete – Gott behüte! –, so schien es doch unziemlich für eine Whalley, dass sie sich Verdächtigungen solcher Art aussetzen sollte. Doch hatte er ihr deswegen keine Vorstellungen gemacht. Er hatte das volle Vertrauen, dass sie sein Gefühl teilte; er war traurig für sie; vertraute ihrem Urteil; betrachtete es als eine günstige Fügung, dass er ihr noch einmal helfen konnte – aber in dem adeligen Innersten seines Herzens hätte er es wohl leichter gefunden, sich mit dem Gedanken auszusöhnen, dass sie etwa Näherin geworden wäre. Er erinnerte sich dunkel, vor Jahren eine rührende Dichtung, genannt ‚Der Sang des Hemdes’, gelesen zu haben. Es war schon recht, Gedichte über arme Frauen zu verfassen. Aber die Enkelin des Obersten Whalley als Wirtin eines Kosthauses! Uff! Er setzte seinen Hut wieder auf, griff in zwei Taschen und blieb einen Augenblick stehen, um ein flackerndes Zündhölzchen an das Ende einer billigen Cheroot zu halten. Dann blies er verbittert eine Rauchwolke dieser Welt ins Gesicht, die solche Überraschungen bergen konnte.

Einer Sache war er gewiss – dass sie das rechte Kind einer klugen Mutter war. Jetzt, da er über den ersten Schmerz, sich von seinem Schiff trennen zu müssen, weggekommen war, sah er auch klar ein, dass ein solcher Schritt nie zu vermeiden gewesen wäre. Vielleicht hatte es schon längst angefangen, ihm klarzuwerden, ohne dass er es sich hätte eingestehen wollen. Sie aber, dort weit weg, musste es gefühlsmäßig erfasst haben, mit dem Mut, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und sie auszusprechen – beides Eigenschaften, die ihre Mutter zu einer so ausgezeichneten Ratgeberin gemacht hatten.

Es hätte schließlich dazu kommen müssen. Es war gut, dass sie ihm die Hand geführt hatte. Noch ein oder zwei Jahre später wäre es ein durchaus unvorteilhafter Verkauf gewesen. Um das Schiff in Gang zu halten, hatte er sich jedes Jahr tiefer hineingearbeitet. Er war wehrlos gegen die vielfachen kleinen Widerwärtigkeiten, wenn er auch offenen Schicksalsschlägen sehr wohl die Stirn zu bieten verstand, wie eine Klippe, die unbewegt dem Ansturm der See standhält und die tückische Rückströmung missachtet, die ihre Grundfesten unterwühlt. Wie nun die Dinge lagen, blieb ihm, nach Tilgung sämtlicher Schulden und Erfüllung des Wunsches seiner Tochter, aus dem Geschäft eine Summe von fünfhundert Pfund. Außerdem hatte er noch einige vierhundert Dollars bei sich – gerade genug, um seine Hotelrechnung zu bezahlen, vorausgesetzt, dass er nicht allzulange in dem einfachen Zimmer verweilte, in dem er Zuflucht gesucht hatte.

Spärlich eingerichtet, mit gewachstem Boden, ging es auf eine der Seitenveranden hinaus. Der weitläufige Ziegelbau, luftig wie ein Vogelkäfig, hallte wider von dem unaufhörlichen Klappern der Fensterläden, an denen, zwischen den weißgetünchten, viereckigen Pfeilern an der Seeseite durch, der Wind rüttelte. Die Zimmer waren luftig, ein Gewimmel von Sonnenflecken tanzte über die Decke; und die gelegentlichen Einfälle von Touristen bei der Ankunft eines Passagierdampfers im Hafen erfüllten das winddurchwehte Dämmern der Räume mit dem Lärm unbekannter Stimmen und eines eiligen Hin und Her, als wären wanderende Schatten zu kurzer Rast eingekehrt, die verdammt waren, die weite Welt zu durchfliegen und nirgends eine Spur zu hinterlassen. Das Getöse dieser gelegentlichen Überfälle verging so plötzlich, wie es entstanden war; die schmutzigen Korridore und die Liegestühle in den Veranden sahen nichts mehr von der Hetzjagd nach Sehenswürdigkeiten oder der erschöpften Rast; und Kapitän Whalley, wuchtig und würdig allein geblieben, fühlte sich in dem großen Hotel nach jedem solchen leichtherzigen Einbruch mehr und mehr selbst wie ein gestrandeter Tourist ohne Ziel, wie ein verlorener Wanderer ohne Heimat. In der Einsamkeit seines Zimmers rauchte er nachdenklich und sah nach den beiden Seekisten, die alles enthielten, was er in der Welt sein eigen nennen konnte. Eine dicke Kartenrolle in einem Segeltuchfutteral lehnte in einer Ecke; die flache Kiste mit dem Ölbild und den drei Photographien war unter das Bett geschoben. Er war es müde, Bedingungen zu erörtern, Besichtigungen beizuwohnen und allerlei Geschäftsbrimborium mitzumachen. Was für die Gegenpartei lediglich der Verkauf eines Schiffes war, war für ihn ein einschneidendes Ereignis, das seinem Leben ein durchaus neues Gesicht gab. Er wusste gut, dass es nach diesem Schiff kein anderes mehr für ihn geben würde; und die Hoffnungen seiner Jugend, die Ausnutzung seiner Fähigkeiten, jedes Gefühl und jede Tat seiner Mannesjahre waren unlösbar mit Schiffen verknüpft gewesen. Er hatte auf Schiffen gedient; er hatte Schiffe zu eigen gehabt, und sogar die Jahre seiner jetzigen Zurückgezogenheit waren anfangs durch den Gedanken erträglich gemacht worden, dass er nur die Hand voll Geld auszustrecken brauchte, um ein Schiff zu bekommen. Er hätte sich tatsächlich als Eigentümer aller Schiffe der Welt fühlen können. Der Verkauf dieses einen war eine traurige Sache. Als es aber von ihm gegangen war, als er die letzte Quittung unterschrieben hatte, da war es, als wären mit einem Schlage alle Schiffe aus der Welt verschwunden und hätten ihn an der Küste unzugänglicher Ozeane zurückgelassen, mit siebenhundert Pfund in der Hand.

Während er mit festen Schritten und ohne Hast den Quai entlangschritt, wandte Kapitän Whalley die Blicke von der vertrauten Reede ab. Zwei Generationen von Seeleuten, die seit seinem ersten Tage auf See geboren waren, standen zwischen ihm und all den Schiffen dort vor Anker. Sein eigenes war verkauft, und nun fragte er sich, was weiter?

Aus dem Gefühl der Einsamkeit, der inneren Leere – und auch des Verlustes, als wäre ihm so recht die Seele mit Gewalt aus dem Leibe gerissen worden – war zuerst der Wunsch entsprungen, geradewegs zu seiner Tochter zu fahren. ‚Hier sind die letzten Pfennige’, hätte er ihr gesagt, ‚nimm sie, meine Liebe. Und hier ist dein alter Vater: den musst du auch dazunehmen.’

Seine Seele schauderte davor zurück, als fürchtete sie sich vor dem, was auf dem Grunde dieser Regung verborgen lag. Aufgeben? Niemals! Wenn man so richtig müde ist, dann, kommt einem allerlei Unsinn in den Kopf. Das wäre ein schönes Geschenk für eine arme Frau gewesen – diese siebenhundert Pfund zugleich mit einem rüstigen alten Burschen, der aller Wahrscheinlichkeit nach noch Jahre und Jahre aushalten konnte. War er nicht so gut wie einer der Jungen auf den Schiffen da draußen imstande, in den Sielen zu sterben? Seine Kraft war so unversehrt wie nur je. Allerdings war es eine andere Frage, wer ihm würde Arbeit geben wollen. Sollte er, mit seinem Aussehen und seinem Vorleben, etwa nach dem Posten eines Zweiten Offiziers Nachfrage halten, so würden ihn die Leute, wie er fürchtete, nicht ernst nehmen; oder wenn es ihm vielleicht gelang, sie zu rühren, dann konnte er auf Mitleid rechnen, was etwa soviel bedeutete, als hätte er sich nackt ausziehen sollen, um sich dann schlagen zu lassen. Er dachte nicht daran, sich für weniger als nichts aus der Hand zu geben. Er brauchte niemandes Mitleid. Auf der anderen Seite lag ein Kommando – das einzige, was er unter Rücksicht auf das gewöhnlichste Schicklichkeitsgefühl anstreben konnte – aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gerade an der nächsten Straßenecke für ihn bereit. Kommandostellen werden heute niemand nachgeworfen. Seit dem Augenblick, da er an Land gekommen war, um den Verkauf in die Wege zu leiten, hatte er die Ohren offengehalten, hatte aber von keiner freien Stelle im Hafen gehört. Und hätte es auch eine gegeben, so wäre immer noch seine erfolgreiche Vergangenheit im Wege gestanden. Zu lange war er sein eigener Herr gewesen. Die einzige Empfehlung, die er vorlegen konnte, war das Zeugnis seines ganzen Lebens. Was hätte man Besseres verlangen können? Doch er fühlte dunkel, dass dieser einzige Ausweis als ein Museumsstück der östlichen Meere angesehen werden würde – als eine Handschrift, in den veralteten Worten einer halbvergessenen Sprache abgefasst.

* * *

IV

In solche Gedanken versunken, ging er den Schienengleisen am Quai entlang, mit breiter Brust, ungebeugt, als hätten seine mächtigen Schultern nie eine der Bürden gefühlt, die wir von der Wiege bis zum Grabe mit uns tragen müssen. Keine verräterische Runzel oder Kummerfalte entstellte das ruhevolle Ebenmaß seines Gesichtes. Es war voll und nicht von der Sonne verbrannt; über der Länge silberigen Barthaares erhob sich massig und ruhig der obere Teil, ansprechend durch die Hautfarbe und die wuchtige Wölbung der Stirn. Sein erster Blick fiel auf die Menschen rein und flink, wie der eines Jungen; infolge der buschigen, weißen Augenbrauen aber wirkte seine liebenswürdige Aufmerksamkeit immer wie eine finstere und durchdringende Prüfung. Mit den Jahren hatte er ein wenig Fleisch angesetzt, hatte an Umfang zugenommen wie ein alter Baum, der doch keine Anzeichen des Verfalls aufweist; und sogar das üppige, glänzende Geringel weißen Haares auf seiner Brust erschien noch als Merkmal unbeugsamer Lebenskraft und Stärke.

Früher einmal ziemlich stolz auf seine große Körperkraft, auf seine persönliche Erscheinung, sich seines Wertes voll bewusst und von unbeugsamer Rechtlichkeit, hatte er, wie ein Erbstück aus besseren Tagen, die ruhige Haltung eines Mannes bewahrt, der sich zu jeder Stunde dem Leben seiner Wahl gewachsen gezeigt hat. Er schritt dahin unter dem breiten Rand eines alten Panamahutes, der eine niedrige Form hatte, eine Quetschfalte quer durch den ganzen Umfang und ein schmales, schwarzes Band. Diese unverwüstliche und ein wenig verschossene Kopfbedeckung machte es leicht, ihn von weitem auf belebten Quais und Straßen zu erkennen. Er hatte die verhältnismäßig neue Mode weißgestrichener Korkhelme nie mitgemacht. Er liebte die Form nicht und hoffte bis zum Ende seines Lebens ohne dieses Beiwerk von hygienischer Lüftung sich seinen kühlen Kopf bewahren zu können. Sein Haar war kurz geschoren, sein Leinen von tadelloser Weiße; ein Anzug aus dünnem, grauem Flanell, etwas abgetragen, aber sauber gebürstet, umfloß seine mächtigen Glieder und erhöhte durch den losen Schnitt noch die Wucht der Erscheinung. Die Jahre hatten die lustige, unbeirrbare Kühnheit seiner Jugend zu einem steten Gleichmut gemildert; und das leise Klopfen seines Stocks mit der Eisenspitze auf dem Pflaster begleitete seine Schritte mit einem selbstbewussten Ton. Es schien undenkbar, eine so vornehme Erscheinung und ein so unverbrauchtes Aussehen mit den erniedrigenden Sorgen der Armut in Verbindung zu bringen; das ganze Leben des Mannes schien einem leicht und weit vor Augen zu stehen, in völliger Freiheit von Geldsorgen und weit wie die Kleider, die er nun am Leibe trug.

Die fast übertriebene Sorge, zu persönlichen Ausgaben im Hotel seine fünfhundert Pfund angreifen zu müssen, störte seine Gemütsruhe. Es gab keine Zeit zu verlieren. Die Rechnung summte sich auf. Er hoffte, dass diese fünfhundert Pfund vielleicht, wenn alles sonst versagte, das Mittel sein konnten, irgendeine Arbeit zu bekommen, die ihm helfen sollte, Leib und Seele zusammenzuhalten (was keine große Sache war), aber auch, seiner Tochter behilflich zu sein. Für sein Gefühl war es ihr Geld, das er dazu benützte, um ihrem Vater, und zwar zu ihrem Nutzen, auszuhelfen. Sobald er einen Posten hatte, wollte er ihr den Großteil seines Gehalts schicken; er konnte noch lange Jahre Dienst tun, und dieses Kosthaus, so sagte er sich, konnte, wie gut auch die Aussichten sein mochten, von Anfang an nicht etwa gleich eine Goldgrube sein. Was für eine Arbeit aber sollte er suchen? Er war bereit, alles anzunehmen, was sich mit seiner Würde vertrug und ihm schnell unter die Finger kam; denn die fünfhundert Pfund mussten für etwaige Notfälle unbedingt erhalten bleiben. Das war die Hauptsache. Mit den ganzen Fünfhundert fühlte man ein Vermögen hinter sich; doch hatte er das Gefühl, dass das Geld alle Wirkung verlieren würde, wenn er es erst auf vierhundertfünfzig oder auch nur vierhundertachtzig einschrumpfen ließ, als läge in der runden Summe eine Zauberkraft. Was für eine Arbeit aber?

Von dieser quälenden Sorge verfolgt wie von einem bösen Geist, gegen den er keine Beschwörungsformeln kannte, blieb Kapitän Whalley auf dem Scheitelpunkt einer kleinen Brücke stehen, die sich steil über das Bett eines zwischen Granitmauern eingezwängten Flusses spannte. Zwischen den Quaderwänden lag eine malaiische Hochseeprau vor Anker, halb unter dem Steinbogen verborgen, die Spieren niedergefiert, ohne einen Laut an Bord, vom Heck bis zum Bug mit einer Unmenge von Matten aus Palmblättern bedeckt. Er hatte das überhitzte Pflaster hinter sich gelassen, mit seiner Einfassung von Steinmauern, die wie die Klippen jeder Einbuchtung des Ufers folgten; vor ihm tat sich eine unbegrenzte Weite auf, wie ein gepflegter Park, mit weiten Flächen kurzen Rasens, wie grüne glatte Teppiche, mit langen Reihen alter Bäume, die als dunkle Säulen das Astgewölbe einer ungeheuren Halle zu tragen schienen.

Einige dieser Alleen endeten am Meer. Die Masten und Spieren einiger Schiffe, die weit weg lagen, den Rumpf unter der Kimm, ragten in einem feinen Gewirr rosiger Linien, wie mit Bleistift gezeichnet, gegen den klaren Himmel empor. Kapitän Whalley sandte ihnen einen langen Blick zu. Dort draußen lag auch das Schiff, das einst das seine gewesen. Es tat weh, denken zu müssen, dass es ihm nicht länger gegeben war, am Quai ein Boot zu nehmen und sich zu dem Schiff hinausrudern zu lassen, wenn der Abend kam. Zu keinem Schiff. Vielleicht nie wieder. Bevor der Kauf abgeschlossen und bis die Kaufsumme bezahlt war, hatte er täglich einige Zeit an Bord der „FAIR MAID“ zugebracht. Das Geld war an diesem selben Morgen bezahlt worden, und nun gab es mit einmal kein Schiff mehr, an dessen Bord er gehen konnte, wenn ihn die Lust ankam. Kein Schiff, das seine Gegenwart brauchen würde, für die Arbeit – zum Leben. Es schien eine ganz unglaubliche Sachlage, zu lächerlich, um von Dauer sein zu können. Und die See war voll von Schiffen aller Art. Da lag diese Prau so still unter ihren Decken aus zusammengenähten Palmblättern – auch sie hatte ihren unentbehrlichen Mann. Sie lebten beide voneinander, dieser Malaie, den er nie gesehen hatte, und dieses unförmige Ding mit dem hohen Heck, das nach einer langen Reise auszuruhen schien. Und von all den Schiffen in Sicht, nah und fern, hatte jedes seinen Mann, den Mann, ohne den auch das schönste Schiff ein totes Ding ist, ein treibender, zweckloser Klotz.

Nachdem er diesen einen Blick über die Reede geworfen hatte, ging er weiter, da es nichts mehr gab, dem er sich hätte zuwenden können, und die Zeit irgendwie hingebracht werden musste. Die Alleen zwischen den großen Bäumen erstreckten sich weit längs der Küste, schnitten einander in verschiedenen Winkeln, mit Säulen an ihrem Fuß und wucherndem Überschwang oben. Die verschlungenen Äste dort oben schienen zu schlummern; kein Blatt rührte sich, und die Gusseisenrohre der Lampenpfosten in der Mitte der Straße, goldfarben wie Zepter, verkleinerten sich in der weiten Perspektive und schienen mit ihren weißen Porzellankugeln auf der Spitze ein barbarischer Schmuck aus Straußeneiern, die in einer Reihe aufgepflanzt waren. Der flammende Himmel warf einen kleinen Purpurfleck auf die glitzernde Oberfläche der Glasschalen.

Das Kinn ein wenig gesenkt, die Hand hinter dem Rücken und mit dem Stockende eine leicht zitterige Spur in den Kies ritzend, überlegte Kapitän Whalley, dass ein Schiff ohne Mann wie ein Körper ohne Seele war, ein Seemann ohne ein Schiff aber in dieser Welt nicht viel mehr bedeutete, als ein herrenloser Baumstamm, der im Meere treibt. Der Baumstamm mochte innerlich ganz gesund sein, zäh in der Faser und kaum umzubringen, doch was bedeutete das! Das plötzliche Vorgefühl unabänderlicher Muße machte ihm die Füße schwer wie Blei.

Mehrere offene Wagen rollten hintereinander die neu eröffnete Küstenstraße einher. Man konnte über die weiten Rasenflächen weg die von den wirbelnden Speichen gebildeten Kreise sehen. Die bunten Wölbungen der Sonnenschirme hingen leicht heraus wie voll erschlossene Blüten über den Rand einer Vase; und die ruhige Fläche dunkelblauen Wassers, von einem Purpurstreifen durchkreuzt, bildete den Hintergrund für die kreisenden Räder und die weit ausgreifenden Pferde, während die turbanbedeckten Köpfe der indischen Diener, über die Horizontlinie hinausragend, am bleiernen Blau des Himmels entlangglitten. Auf einem offenen Platz nahe der kleinen Brücke bog jedes Gespann in einem eleganten Bogen vom Sonnenuntergang weg, wurde dann scharf angehalten und schloss sich der langen Reihe andrer an, die im Schritt, den tiefroten Himmel im Rücken, die Hauptallee durchzogen. Die Stämme der mächtigen Bäume zeigten alle auf derselben Seite die rote Färbung; die Luft unter dem hohen Blätterwerk schien zu brennen – sogar noch der Boden unter den Hufen der Pferde war rot. Die Räder kreisten langsam. Die Farben des Sonnenuntergangs vergingen eine nach der anderen, langsam, wie Riesenblüten, die ihre Kelche am Ende des Tages schließen. In der eine halbe Meile langen Kette sprach keine menschliche Stimme ein vernehmliches Wort, nur der leise Hufschlag war zu hören, mit dem gelegentlichen Klingeln vermischt, und die reglosen Köpfe und Schultern von Männern und Frauen, die nebeneinander saßen, ragten über die niedergelassenen Verdecke empor, wie aus Holz geschnitzt. Ein Gespann aber, das später ankam, schloss sich der Reihe nicht an.

Es flog lautlos dahin. Beim Betreten der Allee scheute einer der dunklen Braunen, bog den Hals und drückte sich schnaubend mit der Stahlkappe gegen die Deichsel. Eine Schaumflocke flog vom Gebiss gegen die seidige Schulter, und das dunkle Gesicht des Kutschers lehnte sich augenblicks vor, während die Hände in die Zügel nachgriffen. Es war ein langer, dunkelgrüner Landauer, der sich zwischen den scharfgebogenen C-Federn feierlich schwebend fortbewegte, und dessen äußerste Eleganz den Eindruck hochamtlicher Würde erweckte. Er schien geräumiger, als es sonst üblich ist, seine Pferde etwas größer, das Geschirr noch tadelloser, die Diener etwas höher auf dem Kutschbock. Die Gewänder dreier Frauen – zwei davon jung und hübsch, eine schön und voll in reifem Alter – schienen das geräumige Wageninnere ganz auszufüllen. Das vierte Gesicht war das eines Mannes mit schweren Gliedern, vornehm und hager, mit einem dicken, dunkel eisengrauen Knebel- und Schnurrbart. Seine Exzellenz...

Die schnelle Bewegung dieses einen Wagens ließ alle anderen völlig minderwertig und unansehnlich erscheinen und dazu verdammt, mühselig im Schneckentempo hinzukriechen. Der Landauer ließ die ganze Reihe in federndem Trab hinter sich. Die Umrisse der Insassen, die rasch außer Sicht glitten, hinterließen den Eindruck starrer Blicke und unbeirrter Teilnahmslosigkeit.

Kapitän Whalley hatte den Kopf gehoben, um zuzusehen, und sein Verstand, in seinen Betrachtungen gestört, wandte sich nun erstaunt, wie es der menschliche Verstand gern tut, ganz nebensächlichen Dingen zu. Es fiel ihm plötzlich ein, dass er gerade in diesen Hafen, wo er nun sein letztes Schiff verkauft hatte, mit dem ersten, das er besessen, gekommen war, den Kopf voll von dem Plan, eine neue Handelsbeziehung mit dem entfernten Teil des Archipels anzubahnen. Der damalige Gouverneur hatte ihn in jeder Weise ermutigt. Keine Exzellenz – dieser Mister Denham – dieser Gouverneur in Hemdärmeln; ein Mann, der sozusagen Nacht und Tag das schnelle Aufblühen der Niederlassung mit selbstloser Hingabe überwachte, wie eine Wärterin ein Kind, das sie liebt; ein alleinstehender Junggeselle, der mit den wenigen Dienern und seinen drei Hunden wie in einem Feldlager in dem Gebäude wohnte, das der Regierungsbungalow genannt wurde: ein Bau mit niedrigem Dach auf dem halb gerodeten Hang eines Hügels, mit einer neuen Flaggenstange davor und einer Polizeiordonnanz in der Veranda. Kapitän Whalley dachte daran, wie er in drückender Sonne zu seiner Audienz den Hügel hinaufgegangen war, dachte an den leeren Eindruck des kühlen, schattigen Raumes; der lange Tisch war an einem Ende mit Stößen von Papieren bedeckt, am anderen lagen zwei Gewehre, ein Messingfernrohr und eine kleine Ölflasche mit einer Feder darin. – Er dachte auch an die schmeichelhafte Aufmerksamkeit, die ihm der damalige Machthaber erwiesen hatte. Das Unternehmen, das auseinanderzusetzen er gekommen war, hatte seine großen Gefahren. Doch eine Unterredung von zwanzig Minuten im Regierungsbungalow hatte es glatt vom Stapel gehen lassen. Und als er sich zurückzog, rief ihm Mr. Denham, der sich schon wieder zu seinen Papieren gesetzt hatte, nach: ‚Im nächsten Monat geht die „DIDO“ auf Kreuzfahrt in Ihre Nähe. Ich werde den Kapitän nachdrücklich auffordern, nach Ihnen zu sehen.’ Die „DIDO“ war eine der schmucken Fregatten der Chinastation – und fünfunddreißig Jahre sind eine große Zeitspanne. Vor fünfunddreißig Jahren war ein Unternehmen wie das seine für die Kolonie wichtig genug, dass ein königliches Schiff geschickt wurde, um nach ihm zu sehen. Eine große Zeitspanne. Damals hatte der einzelne Mann noch seinen Wert. Männer wie er; Männer auch wie der arme Evans zum Beispiel, mit seinem roten Gesicht, seinem kohlschwarzen Backenbart und den ruhelosen Augen, der am Rande des Urwaldes, in einer einsamen Bai, drei Meilen weiter aufwärts, die erste Patenthelling zur Ausbesserung kleiner Schiffe eingerichtet hatte. Mr. Denham hatte auch dieses Unternehmen ermutigt, und doch war der arme Evans schließlich in der Heimat in traurigen Verhältnissen gestorben. Sein Sohn, hieß es, presste Öl aus Kokosnüssen, auf irgendeinem gottverlassenen Inselchen des Indischen Ozeans, um nur leben zu können. Aus dieser Patenthelling aber, in einer einsamen, waldigen Bucht, waren die Werkstätten der Vereinigten Dockgesellschaft entstanden, mit ihren drei Trockendocks, die aus gewachsenem Fels gesprengt waren, mit ihren Werften, Hafendämmen, ihrer elektrischen Lichtanlage und dem Kesselhaus – mit ihren ungeheuren Mastenkranen, die stark genug waren, um die schwersten Gewichte zu heben, und deren Oberende wie die Spitze eines eigenartigen Denkmals über das sandige Vorland und die Waldgipfel weg zu sehen war, wenn man von Westen her in den Hafen einfuhr.

Ja, das war eine Zeit gewesen, in der die Männer etwas galten: damals gab es nicht so viele Gespanne in der Kolonie, obwohl Mr. Denham, soviel er sich erinnerte, ein Buggy gehabt hatte. Und Kapitän Whalley hatte das Gefühl, als würde er von einer geistigen Rückströmung aus der großen Allee hinausgespült. Er erinnerte sich an morastige Ufer, an einen Hafen ohne Quais, an den einzigen hölzernen Landungssteg, der von der Gemeinde errichtet war und sich wackelig ins Meer hinausstreckte. An die ersten Kohlenschuppen, die auf Monkey Point errichtet wurden, dann geheimnisvoll in Brand gerieten und tagelang glimmten, so dass die einfahrenden Schiffe zu ihrer Verwunderung in eine Reede voll von Schwefeldämpfen gerieten, über der die Sonne glutrot im Mittag hing. Er erinnerte sich an die Dinge, die Gesichter und noch etwas daneben – wie an den feinen Duft einer bis auf den Grund geleerten Schale, an ein gewisses Etwas in der Luft, das sich in der Luft dieser Tage nicht mehr vorfand.

In dieser rückschauenden Stimmung, die rasch und deutlich alle Einzelheiten hervortreten ließ, wie ein Aufblitzen von Magnesiumlicht in den Nischen einer dunklen Gedächtnishalle, betrachtete Kapitän Whalley die Dinge, die einst wichtig gewesen waren, die Anstrengungen kleiner Leute, das Wachsen eines großen Platzes, was alles nun sein Gewicht verloren hatte durch die Größe des Erreichten und die Hoffnung auf eine noch größere Zukunft; das gab ihm einen Augenblick lang eine so brennende Klarheit des Zeitbegriffs, ein solches Verständnis für unsere unveränderlichen Gefühle, dass er kurz stehen blieb, seinen Stock auf den Boden stieß und ausrief: „Was zum Teufel tue ich hier!“ Er schien in Überraschung verloren; da hörte er eine klägliche Stimme einmal, zweimal seinen Namen rufen – und wandte sich langsam um.

Er sah einen Mann von altmodischem, gichtischem Aussehen gewichtig auf sich zuwatscheln, dessen Haar weiß war wie sein eigenes, dessen blühende Wangen aber glatt rasiert waren und der einen Maschenbinder trug – fast schon ein Halstuch –, dessen Stoffenden zu beiden Seiten weit vom Kinn abstanden; mit runden Beinen, runden Armen, einem runden Leib, einem runden Gesicht machte seine kurze Gestalt den Eindruck, als wäre sie mit einer Luftpumpe bis an die Grenze der Haltbarkeit seiner Kleidernähte aufgetrieben worden. Das war der Direktor des Hafenarsenals, eine höhere Art von Hafenmeister also, eine Persönlichkeit draußen im Osten, die in ihrem Machtbereich nicht ohne Bedeutung ist; ein Regierungsbeamter, über die Hafengewässer gesetzt und mit einer nicht ganz scharf umrissenen Disziplinargewalt über Seeleute aller Klassen ausgestattet. Von diesem besonderen Arsenaldirektor hieß es, dass er seine Macht als jämmerlich unvollkommen empfand, weil sie nicht die Gewalt über Tod und Leben in sich schloss. Das war eine spaßhafte Übertreibung. Kapitän Eliott war mit seiner Stellung recht zufrieden und sich der Machtfülle, die sie bot, recht wohl bewusst. Seine eitle und herrschsüchtige Gemütsart ließ nicht zu, dass sie etwa von seinen Händen unbenutzt verkümmerte. Die laute, heißblütige Offenherzigkeit seiner Auslassungen über den Charakter und die Aufführung mancher Leute machten ihn gefürchtet; wenn auch gesprächsweise manche behaupteten, ihn durchaus nicht zu scheuen, so lächelten doch andere säuerlich bei der bloßen Nennung seines Namens, und es gab sogar manche, die es wagten, ihn einen zudringlichen alten Halunken zu nennen. Doch war fast für jeden einzelnen unter ihnen allen die Aussicht, einen von Kapitän Eliotts Ausbrüchen aushalten zu müssen, so schrecklich wie etwa die völlige Vernichtung.

* * *

V

V

Sobald er ganz nahe herangekommen war, sagte er mit bärbeißigem Vorwurf:

„Was höre ich da, Whalley? Ist es wahr, dass du die „FAIR MAID“ verkaufst?“