Jüdische Lebensweisheiten - Yuval Lapide - E-Book

Jüdische Lebensweisheiten E-Book

Yuval Lapide

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Beschreibung

Der renommierte Autor Yuval Lapide, der sich als jüdischer Religionswissenschaftler europaweit im jüdisch-christlichen Dialog engagiert, hat eindrucksvolle Lebensweisheiten aus dem Alten Testament zu Themen wie Leben und Tod, Liebe und Hass, Glück und Schicksal ausgewählt. Die Texte bringen den Leser mit den reichen jüdischen Wurzeln der Heiligen Schrift in Verbindung und geben einen Einblick in vielfältige Aspekte jüdischen Lebens und Denkens.

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Seitenzahl: 148

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Yuval Lapide

Jüdische Lebensweisheiten

Bildnachweis

Seite 6 © unsplash (Mariam Soliman), Seite 12 / 13 © unsplash (Robert), Seite 38 / 39 © unsplash (Dan Gold), Seite 62 / 63 © unsplash (Dave Herring), Seite 92 / 93 © unsplash (Patrick Schneider), Seite 110 / 111 © unsplash (Robert Bye), Seite 136 / 137 © unsplash (Dave Herring), Seite 168 / 169 © unsplash (Matt Lee), Seite 206 © Autor (Yuval Lapide)

Für die Texte der Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift vollständig durchgesehene und überarbeitete Ausgabe

© 2016 Katholische Bibelanstalt GmbH, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 2019

Ein -Buch aus der

© Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH, Stuttgart, 2019

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtgestaltung:

Weiß-Freiburg GmbH – Grafik und Buchgestaltung, Freiburg i.Br.

Umschlagmotiv: Menora © istockphoto by Getty Images/bubaone

Hersteller gemäß ProdSG:

Druck und Bindung:

Finidr s.r.o., Lípová 1965, 737 01 Český Těšín, Czech Republic

Verlag: Verlag Katholisches Bibelwerk GmbH,

Silberburgstraße 121, 70176 Stuttgart

www.caminobuch.de

ISBN 978-3-96157-105-5

eISBN 978-3-96157-965-5

Inhalt

Ein Wort zuvor

Widmung

1Wendepunkte im Leben

2Das Leben ist wundervoll – voll Wunder

3Altes loslassen und Neues mutig zulassen

4Der einzelne Mensch im Spannungsfeld der Gesellschaft

5Der Weisheit des Herzens vertrauen

6Den Blick für das Geschehen weiten

7Leben ist Verwandlung

8Wenn Ent-scheidungen not-wendend sind

Der Autor

Gut ist für mich die Weisung deines Munds, mehr als große Mengen von Gold und Silber, sagt der legendäre König David in seinem wortgewaltigsten aller Psalmen – Psalm 119, Vers 72.

In der Tat ist die Heilige Schrift von Juden und Christen – das Erste Testament – voll von weisen und wegweisenden Geschichten und Aphorismen, die das Volk Gottes im Laufe der Jahrhunderte durch seine eigenen Erfahrungen mit seinem Gott, dem Schöpfer des Lebens, gemacht und weitergegeben hat. Jüdische Weisheit kennzeichnet sich durch eine enorm starke Gebundenheit an und Verbundenheit mit dem realen Leben aus, das den aufmerksamen, lernfähigen und lernwilligen Menschen – zur Zeit der Bibel wie heute – immer wieder dazu auffordern will, nützliche geistige Lehren aus den vielfältigen materiellen Vorkommnissen des Alltags zu ziehen. Zugespitzt formuliert, lässt sich sagen, die Gesamtheit der Heiligen Schrift von Juden und Christen ist eine einzige große Sammlung in Gestalt bunter Erzählungen tradierter, immerwährend gültiger Lebensweisheiten. Diese tiefen Weisheiten, um die die jüdischen Tradenten der Bibel hervorragend Bescheid wussten, gilt es heute durch gekonnte Bibelauslegung dem darin ungeübten Leser verständlich und identifizierbar zu präsentieren. Die Geschichte des jüdischen Volkes, wie sie uns das kostbare Wort Gottes in seinen 24 Büchern des Ersten Testaments vermittelt, umfasst sowohl spannende Begebenheiten im Leben einzelner Führungsgestalten und Privatpersonen als auch Berichte über kollektive Momente im Leben des stets turbulenten Volkes Gottes in seinem be-weg-ten Entwicklungsprozess hin zur bedingungslos monotheistischen Gemeinschaft Gottes. Die breit gestreuten biblischen Geschichten sind ausnahmslos eingebunden in die fruchtbare Spannung von Theozentrik und Anthropozentrik – in den spirituellen Kampf zwischen einerseits menschlicher Ego-Logik in Verbindung mit niederer handlungsorientierter menschlicher Egozentriertheit und andererseits göttlich-schöpferischer Führungslogik im Kontext von Gottes übergeordneter Schöpfungsweisheit. Die biblischen Erzählungen laden den Leser unentwegt dazu ein, den engen Rahmen eingebrannter, unreflektierter Denk- und Verhaltensmuster zu hinterfragen und sich zu neuen Alternativen in Denken und Handeln durchzuringen, die der Spezies des gottebenbildlichen Menschen gemäßer sind.

Die vorliegende Anthologie versteht sich als erste Bekanntmachung mit der immensen Vitalität und dem Reichtum jüdischer Auslegungskunst biblischer Texte. Der neugierige Leser ist eingeladen, sich chronologisch oder themenspezifisch mit den vorliegenden Texten zu befassen. Es wird empfohlen, den aus der katholischen Einheitsübersetzung entnommenen Bibeltext in ganzer Länge bei Lektüre der Auslegung zu lesen, damit sich das Gesamtgeschehen plastisch vor Augen entfalten kann. Die behandelten Texte eignen sich sowohl für Leser, die schon Übung im Umgang mit jüdisch-tiefgründiger Bibelarbeit besitzen, als auch für Christen und Christinnen, die als Neueinsteiger mit dem breiten Feld jüdischer Bibelweisheit in Berührung kommen wollen.

Der Autor dankt der Verlagsleitung für die außergewöhnlich harmonische Zusammenarbeit sowie der Lektorin Karina Barczyk für ihre stets kompetente und hilfsbereite Begleitung bei der Erstellung dieses Buches.

Yuval LapideWeinheim an der BergstraßeSommer 2019

Widmung

Ich widme dieses Buch meinen christlichen Freunden, Wegbegleitern und engagierten Mitstreitern im jüdisch-christlichen Dialog in deutschen Landen:

Dr. Michael Volkmann, Tübingen

Dr. Johannes Wachowski, Wernsbach bei Ansbach

Dr. Sabine Siemer, Wiesbaden

Gerlinde Tekoa Segel, Studiendirektorin a.D., Mönchengladbach

Diakon Werner Born, Wiesbaden

Pfarrer Benjamin Graf, Nieder-Roden bei Offenbach am Main

Pater Josef Fischer OFM, Kloster Schwarzenberg bei Scheinfeld

Matthias Rau, Diplomingenieur MBA, Wörth bei Aschaffenburg

Matthias Steup, Oberstudienrat a.D., Neunkirchen im Siegerland

Claudia Rommerskirchen, Diplom-Ökotrophologin, Bad Brückenau

Gunnar Meyn, Diplomingenieur Maschinenbau, Kornwestheim

Claudia Hermann, Zürich, Schweiz

Pfarrer Thomas Rellstab, Programmdirektor Radio Maria, Adliswil, Schweiz

Corinne Rellstab, Assistentin des Programmdirektors Radio Maria, Adliswil, Schweiz

Edith Malachit Staudenmeyer, Montessori-Pädagogin i.R., Fridingen an der Donau

Diese prononcierten Judenfreunde stehen stellvertretend für meine zahlreichen ungenannten Freunde und Schüler europaweit, die sich bibelgefestigt entschieden haben, nach der grauenvollen Tragödie des Holocaust ihre unendlich reichen Judentumswurzeln zu entdecken und zu lieben.

Sterben, um zu leben

Ein Jahr, bevor die Hungersnot kam, wurden Josef zwei Söhne geboren. Asenat, die Tochter Potiferas, des Priesters von On, gebar sie ihm. Josef gab dem Erstgeborenen den Namen Manasse – der vergessen lässt –, denn er sagte: Gott hat mich all meine Sorge und mein ganzes Vaterhaus vergessen lassen. Dem zweiten Sohn gab er den Namen Efraim – der Fruchtbare –, denn er sagte: Gott hat mich fruchtbar werden lassen im Lande meines Elends.

Das Buch Genesis Kapitel 41, Verse 50-52

Eine überwältigende Geschichte, die märchenhaften Charakter trägt: Ein von seinen Brüdern sadistisch-egoistisch verstoßener zweitjüngster Bruder wird über die Verkettung göttlich gefügter Umstände in ein heidnisches Weltreich entführt, um dort wiederum durch göttliches Eingreifen zu ungeahnten großen Ehren gehoben zu werden. Aufgrund seiner außergewöhnlichen volkswirtschaftlichen Kenntnisse kann er dem regierenden Pharao in Ägypten einen brillanten Wirtschaftsplan entwerfen, der zum Inhalt hat, das ägyptische Volk während der bevorstehenden siebenjährigen harten Hungersnot solide zu ernähren. So etwas hat das mächtige ägyptische Imperium noch nicht erlebt. Ein als Sklave verkaufter und im ägyptischen Kerker wegen einer Verleumdungsklage inhaftierter jugendlicher Hebräer wird durch den Segen Gottes zum stellvertretenden König und obersten Wirtschaftsexperten der Nation befördert. Eine völlig ungeplante atemberaubende Karriere eines jungen Hebräers, der aus seiner kanaanäischen Heimat auf menschenverachtende Weise vertrieben und in ein fremdes heidnisches Weltreich verschleppt wird. Der hebräische Vizekönig Josef versteht von Anbeginn die göttliche Fügung seiner Verschleppung richtig zu deuten und setzt sich folglich mit Leib und Seele für eine konstruktiv-kreative Kooperation mit dem herrschenden System ein. Zu keinem Zeitpunkt wird uns ein larmoyanter, bedrückter oder gar verzweifelter Josef beschrieben. In jeder Episode seiner schmerzhaften Bemühungen, sich in das diktatorische System zu integrieren, beobachtet der aufmerksame Leser Josefs ungebrochenes und stetig wachsendes Gottvertrauen als seinen einzigen verlässlichen und unerschütterlichen Halt in der Fremde. Der Diktator Pharao ist so überwältigt von der ausstrahlenden, gottverbundenen Persönlichkeit des jungen Hebräers, dass er diesem vorbehaltlos die Tochter des obersten heidnischen Kultpriesters Asenat zur Ehefrau gibt. Das ist eine beispiellose Ehrerbietung eines Monarchen an einen kultisch-fremden „Migranten“. Die beiden in der Erzählung genannten Söhne mit den hebräischen Namen Manasse und Efraim, die Josef auf fremdem Boden geboren wurden, zeugen unmissverständlich davon, wie stark Josefs Verbundenheit mit seinen jüdischen Heimatwurzeln geblieben ist. Beide Namen „verkörpern“ auf programmatische Weise Josefs tiefe und weise Deutung seiner Mission in der Ferne. Der Erstgeborene „verkörpert“ das unbelastete geistige Loslassen, das vertrauensvolle Abgeben bitterer Erfahrungen in der jüngsten Biografie an die höhere göttliche Instanz. Damit einhergehend darf – so der Name des nachgeborenen Sohnes Efraim – neues fruchtbares Leben auf und aus den Trümmern der Vergangenheit wachsen. Der hebräische Name Efraim bedeutet wortgetreu Doppelfrucht, eine doppelte Freiheit, eine doppelte Fülle; Erfüllung erwächst Josef aus der Überwindung des Vergangenheitstraumas in Ägypten.

Der junge Hebräer hat unter dem Leid seiner Verlassenheits- und Vertreibungserfahrung gelernt, hinter dem Fluch seiner biografischen Belastungen den unverhofften reichen göttlichen Segen zu sehen. Der junge Josef transformiert auf gereifte Weise seinen Schmerz des Heimatverlusts und der mörderischen Geschwisterrivalität seiner kanaanäischen Kindheit in die neue gegenwärtige Kooperation und Koexistenz mit den neuen Menschen an seiner Seite. Durch sein mutiges und altruistisches Denken und Handeln wird Josef zu einem mächtigen Vorbild weit über die biblische Zeit hinaus. Josef versteht es trotz seines jugendlichen Alters, meisterhaft das Geschehen sinnfindend nicht auf ein rückwärtsgerichtetes WARUM zu befragen, sondern auf ein vorwärtsgerichtetes WOZU, welches neue Perspektiven aufzeigt.

Regeln dürfen durchbrochen werden

Israel streckte seine Rechte aus und legte sie Efraim auf den Kopf, obwohl er der jüngere war, seine Linke aber legte er Manasse auf den Kopf, wobei er seine Hände überkreuzte, obwohl Manasse der Erstgeborene war. […] Josef sagte zu seinem Vater: Nicht so, mein Vater! Denn Manasse ist der Erstgeborene; leg deine Rechte ihm auf den Kopf! Aber sein Vater weigerte sich und sagte: Ich weiß, mein Sohn, ich weiß, auch er wird zu einem Volk, auch er wird groß sein; aber sein jüngerer Bruder wird größer als er und seine Nachkommen werden zu einer Fülle von Völkern.

Das Buch Genesis Kapitel 48, Verse 14-19

Unsere biblische Erzählung versetzt uns an das Ende eines reichen Lebens – eines großen und erlebnisreichen Lebens des dritten Stammvaters des jüdischen Volkes – Jakob – Israel genannt. Viele herausfordernde und anstrengende Erfahrungen hat dieser dritte Stammvater in seinem Leben durchlaufen müssen, um sich als dritter Repräsentant in der Führung des werdenden jüdischen Volkes vor seinem großen Familienclan zu behaupten. Sein Partner-Gott, der Schöpfer von Himmel und Erde, hat ihm viele dramatische Höhen und Tiefen zugemutet, während welcher er sich mit der Kraft seines neuen monotheistisch-jüdischen Glaubens bewähren konnte. Nicht immer, so berichtet uns die Bibel sehr anschaulich, handelte Jakob zur vollen Zufriedenheit seines ihn herausfordernden Gottes und seiner großen Familie. Aber gewiss ist, dass er in jenen Bedrängnissen und schweren Schicksalsschlägen, die er mit zu verantworten hatte, stets zur Selbstkritik und Selbstverbesserung gewillt und bereit war. Die Schule des Lebens, in die ihn Gott von früher Jugend an im Lande Kanaan als auch über dessen Grenzen hinaus stieß, lehrte ihn, dass nicht der äußere Schein des Lebens ausschlaggebend sein sollte für weise und wegweisende Entscheidungen in den verschiedenen Situationen seines Lebens, sondern einzig die tiefe innere Einsicht in die geheimnisvollen Pläne und Führungen seines Gottes. Durch zu große Naivität ließ sich der dritte Stammvater von der trügerischen Fassade akuter Konfliktsituationen zu übereilten Handlungen ohne Rückbesinnung hineinpressen. In solchen Situationen fehlte dem Stammvater die nüchterne kritische Distanz zu äußeren Regeln, äußeren Konventionen und theatralischen Manipulationen im Verhalten seiner Mitmenschen. Jakob ist die einzige biblische Gestalt, von der uns im ersten Buch der Bibel berichtet wird, dass sie in einen einzigartigen körperlich-geistigen Kampf in der Mitte der Nacht mit einem Vertreter Gottes hineingezogen wurde. Ein Kampf, in dessen Verlauf der werdende Stammvater Jakob (= der Zurückhaltende) sich aus seiner alten ängstlichen und regelkonformen Mentalität emanzipiert, um sich seine neue Identität Israel (= Kämpfer Gottes) zu erringen. Im vorliegenden Text entscheidet sich der große Mann Israel demonstrativ, die klassische Stammesregel zu durchbrechen, derzufolge der älteste Sohn den Primärsegen und der zweitälteste Sohn den Sekundärsegen bekommen müsse. Der weise gealterte Israel entscheidet sich, seiner inneren Stimme zu gehorchen und entgegen der formalen Konvention zu handeln. Er schaut in die Tiefe und Weite der Seelen seiner Kinder und Kindeskinder und vertauscht willentlich und wissentlich deren überlieferte Reihenfolge. Er ist bereit, bei seinem erstaunten Sohn Josef und dessen Geschwistern wegen seines fremden Verhaltens Anstoß zu erregen, weil er gelernt hat, in entscheidenden Momenten des Lebens nicht „brav“ den vordergründigen Erwartungen seiner Mitmenschen zu genügen, sondern seiner tiefen inneren Überzeugung gemäß zu entscheiden und zu handeln. Der angepasste und bequeme Jakob verwandelt sich zum aufbegehrenden und unbequemen Vater Israel und wird somit zu einem Vorbild für Autorität und Autonomie.

Die Einhaltung von Regeln und Konventionen im täglichen Leben war zu biblischen Zeiten im Orient ebenso wichtig wie heute in unserem modernen und schnelllebigen Okzident. Ihre mutige und klarsichtige Durchbrechung mit dem Ziel, höhere Entwicklungsstufen zu erreichen, muss jedoch mindestens genauso wichtig bleiben – damals wie heute.

Besser im Frieden getrennt als im Unfrieden zusammen

So entstand Streit zwischen den Hirten der Herde Abrams und den Hirten der Herde Lots; auch siedelten damals noch die Kanaaniter und die Perisiter im Land. Da sagte Abram zu Lot: Zwischen mir und dir, zwischen meinen und deinen Hirten soll es keinen Streit geben; wir sind doch Brüder. Liegt nicht das ganze Land vor dir? Trenn dich also von mir! Wenn du nach links willst, gehe ich nach rechts; wenn du nach rechts willst, gehe ich nach links.

Das Buch Genesis Kapitel 13, Verse 7-9

Schon zu biblischen Zeiten gab es reichlich Streit zwischen den umherziehenden hebräischen Hirten – sowohl mit ihren glaubensgleichen Stammesangehörigen als auch mit heidnischen Nachbarn. Der offene Konflikt zwischen Vater Abraham, damals noch Abram genannt vor seiner Umbenennung durch Gott in Abraham, und seinem ihm sehr nahestehenden Neffen Lot ist der erste Streitfall in der Heiligen Schrift. Beide Männer sind vermögend – so vermögend an Schafen und Ziegen, dass sie es nicht „vermögen“, das von Gott zugeteilte neue Land in Kanaan friedlich und gut nachbarschaftlich zu besiedeln.

Vater Abraham erkennt den Ernst der unversöhnlichen Lage zwischen ihm und seinem wesentlich jüngeren Verwandten. Unter Überwindung schmerzhafter innerer Loslösungsgefühle beschließt er die Radikallösung. Anstatt unbefriedigende Scheinkompromisse mit Lot zu erzwingen, bietet er ihm eine saubere Trennung unter Einbeziehung ihrer jeweiligen großen Herden an. Eine Trennung ohne gegenseitige Beschimpfung, Beschämung oder Beschönigung der eingetretenen Unmöglichkeit einer friedlichen Koexistenz. Wie weise der große Stammvater auf den belastenden Konflikt reagiert – frei von unnötigen Schuldzuweisungen und emotionalen Ausbrüchen. Beide Streitparteien trennen sich unter Wahrung ihres besonders im Orient wichtigen Gesichts: Keiner ist überlegen – keiner ist unterlegen.

Wie wichtig eine freundschaftliche Trennung im Dienste des Erhalts einer potenziellen späteren Fortführung der Freundschaft ist, zeigt uns diese abrahamische Konfliktlösung, bei welcher eine klare, die Würde wahrende Trennung mehr Entwicklungspotenzial für beide Konfliktparteien enthält als jeder verbissene Versuch des unfruchtbaren Zusammenbleibens. Abraham präsentiert die „Scheidung“ zwischen ihm und seinem Neffen in der Haltung der Größe und Souveränität. Da das gottzugewiesene Land Kanaan ausreichend Weideland bietet, lädt er seinen wesentlich jüngeren und unerfahreneren Verwandten ein, selbst zu wählen, welches neue Territorium er präferiert. Eine ehrliche, von Herzen kommende Ent-scheidung kann, wie uns die bewegende biblische Erzählung zeigt, voller gegenseitiger Achtung und Ehrung der je unterschiedlichen persönlichen Weltbilder und Maximen geschehen.

Die Aussicht auf eine neue, in der Zukunft liegende Wiederannäherung ist weder behindert noch beschädigt. Beide Parteien trennen sich erhobenen Hauptes in beidseitiger Übereinstimmung und überlassen es höheren Führungen und Fügungen, ob eine gereifte und versöhnliche Neubegegnung zu einem unbekannten Zeitpunkt sich ereignen darf.

Die Grenzen des engen Verstandes sprengen

Nach diesen Ereignissen stellte Gott Abraham auf die Probe. Er sprach zu ihm: Abraham! Er sagte: Hier bin ich. Er sprach: Nimm deinen Sohn, deinen einzigen, den du liebst, Isaak, geh in das Land Morija und bring ihn dort auf einem der Berge, den ich dir nenne, als Brandopfer dar. Frühmorgens stand Abraham auf, sattelte seinen Esel, nahm […] seinen Sohn Isaak, spaltete Holz zum Brandopfer und machte sich auf den Weg zu dem Ort, den ihm Gott genannt hatte.

Das Buch Genesis Kapitel 22, Verse 1-3