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Mit dem Werkbeitrag aus Kindlers Literatur Lexikon. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Ein triumphierendes Bewusstsein der eigenen Kraft, ein Gefühl der Unsterblichkeit, Sehnsucht nach exotischen Ländern – das ist das Lebensgefühl des 20-jährigen Marlow. Mit dem magischen Ziel Bangkok vor Augen begibt er sich auf eine Schiffsreise, die zum lebensgefährlichen Abenteuer wird. Nach der Vitalität, nach der Romantik und den Illusionen dieser Zeit wird er sich sein ganzes Leben lang zurücksehnen.
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Seitenzahl: 89
Veröffentlichungsjahr: 2010
Joseph Conrad
Erzählung
Erzählung
Joseph Conrad, geboren am 3.12.1857, wuchs als Waise bei seinem Onkel in Krakau auf. 1874 ging er zunächst nach Frankreich, wurde 1886 britischer Staatsbürger und machte als Seemann seine Leidenschaft zum Beruf. Als er 1890 aus gesundheitlichen Gründen seinen Beruf aufgeben musste, verarbeitete er seine Reiseerlebnisse in seinen Erzählungen, unter denen »Lord Jim« (1900) und »Das Herz der Finsternis« (1902) zu den berühmtesten zählen. Joseph Conrad starb am 3.8.1924 in England.
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Coverabbildung: Piguenit, »On the Craycroft, Tasmania«, 1878 ©National Library of Australia/Bridgeman Art Library
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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www.fischerverlage.de
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ISBN 978-3-10-401236-0
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So etwas konnte es [...]
Anhang
Editorische Notiz
Daten zu Leben und Werk
Joseph Conrad, ›Jugend‹
Joseph [Józef Teodor Konrad Nałęcz Korzeniowski] Conrad
So etwas konnte es nur in England geben, wo Mensch und Meer sich gleichsam gegenseitig durchdringen– wo die See einen Platz im Leben der meisten hat und wo die meisten etwas oder auch alles über die See wissen, sei es nun zum Vergnügen, für die Reise oder als Broterwerb.
Wir saßen um einen Mahagonitisch, und die Flasche, die Rotweingläser und, wenn wir uns vorlehnten und uns mit den Ellenbogen aufstützten, unsere Gesichter spiegelten sich darin. Es war ein Unternehmer dabei, ein Buchhalter, ein Jurist, dazu Marlow und ich. Der Unternehmer war Schiffsjunge auf der Conway gewesen, der Buchhalter vier Jahre zur See gefahren, der Jurist– ein Tory, wie er im Buche stand, strenger Anglikaner, ein prachtvoller alter Bursche, die Rechtschaffenheit selbst– war Erster Offizier bei P. O. gewesen, in den guten alten Zeiten, als jedes Postschiff noch mindestens zwei vollgetakelte Masten hatte und die Boote bei günstigem Monsun mit allen Leesegeln gesetzt nur so über das Chinesische Meer flogen. Wir alle hatten unsere Laufbahn bei der Handelsmarine begonnen. Das starke Band der See hielt uns fünf zusammen und dazu der Kameradschaftsgeist unter Seeleuten, etwas, das keine Segelleidenschaft, keine Reiselust, nichts dergleichen vermitteln kann, denn das eine sind nur die Vergnügungen des Lebens und das andere ist das Leben selbst.
Marlow (jedenfalls glaube ich, dass sich sein Name so schrieb) erzählte die Geschichte, oder besser die Chronik, einer Reise:
»Ja, ich habe manches von den fernöstlichen Meeren gesehen, aber was mir am besten im Gedächtnis geblieben ist, das ist meine erste Reise dorthin. Ihr wisst, es gibt Reisen, die scheinen wie zur Illustration des Lebens gemacht, Reisen, die als Sinnbild für unser ganzes Dasein stehen können. Man kämpft, man arbeitet, der Schweiß rinnt, man bringt sich fast um, bringt sich bisweilen tatsächlich um, versucht, etwas zu erreichen– und schafft es nicht. Und nicht aus eigener Schuld. Es gelingt einfach nichts, weder im Großen noch im Kleinen– nicht das Geringste–, nicht einmal eine alte Jungfer kann man heiraten oder eine jämmerliche Fracht von 600Tonnen Kohle sicher in den Hafen bringen.
Es war schon eine denkwürdige Unternehmung. Meine erste Fahrt nach Ostindien und meine erste als Zweiter Offizier; auch für den Kapitän war es sein erstes Kommando. Und es wurde Zeit. Er war sechzig, wenn nicht älter; ein kleiner Mann mit breitem, nicht eben geradem Rücken und hängenden Schultern, ein Bein war schiefer als das andere; er hatte jenes merkwürdig In-sich-Gekrümmte, das man so oft bei Landarbeitern sieht. Ein Nussknackergesicht– Kinn und Nase wollten sich vor dem eingefallenen Munde treffen–, eingerahmt von krausem eisengrauem Haar, ein Bart wie ein Kinnriemen aus Watte, mit Kohle bestäubt. Und es waren blaue Augen in diesem alten Gesicht, die reinsten Jungenaugen mit jenem offenen Ausdruck, den manche ganz einfachen Menschen bis ans Ende ihrer Tage behalten, die seltene Gabe eines einfältigen Herzens und einer aufrechten Seele. Wieso er mich angenommen hatte, war mir ein Rätsel. Ich war Dritter Offizier auf einem schneidigen Australienfahrer gewesen, und er hatte ein Vorurteil gegen solche Schiffe, die er aristokratisch und überzüchtet fand. Er sagte zu mir: ›Hier bei uns, da werden Sie arbeiten müssen.‹ Ich habe auf jedem Schiff arbeiten müssen, entgegnete ich, auf dem ich bisher gefahren sei. ›Ah, aber hier ist es anders. Und junge Herren wie Sie, die von den großen Schiffen kommen… aber seis drum! Es wird schon gehen. Melden Sie sich morgen.‹
Und ich meldete mich. Das ist zweiundzwanzig Jahre her– ich war gerade mal zwanzig. Wie die Zeit vergeht! Selten in meinem Leben bin ich so glücklich gewesen. Stellt es euch vor! Zweiter Offizier– zum ersten Mal eine Stellung mit echter Verantwortung! Nicht für ein Vermögen hätte ich dies neue Los wieder hergegeben. Der Erste musterte mich von oben bis unten. Auch er war nicht mehr der Jüngste, aber von einem anderen Kaliber. Er hatte eine Adlernase und einen schneeweißen langen Bart. Er hieß Mahon, aber er bestand darauf, dass es ausgesprochen wurde wie ›Mann‹. Er hatte gute Beziehungen, aber irgendwie hatte er kein Glück gehabt und es nie zu etwas gebracht.
Was nun den Kapitän angeht, der war jahrelang Küstenschiffer gewesen, dann auf dem Mittelmeer gefahren und zuletzt im Westindienhandel. Nie hatte er ein Kap umrundet. Seine Handschrift war dürftig, und er hielt ohnehin nicht viel vom Schreiben. Beide waren gute, erfahrene Seeleute, das gewiss, und zwischen diesen alten Burschen kam ich mir vor wie ein kleiner Junge zwischen zwei Großvätern.
Auch das Schiff war alt. Es hieß Judaea. Ein seltsamer Name, nicht wahr? Eigner war ein gewisser Wilmer, Wilcox oder so ähnlich– aber der ist auch schon seine zwanzig Jahre bankrott und gestorben, und der Name tut nichts zur Sache. Das Schiff hatte ewig in Shadwell in den Docks gelegen. Ihr könnt euch den Zustand vorstellen. Alles war Rost, Staub, Schmutz– rußig im Rigg, das Deck verdreckt. Für mich war es, als zöge ich aus einem Palast in eine verfallene Hütte. Die Judaea war ungefähr 400Tonnen groß, mit einem altertümlichen Ankerspill und hölzernen Riegeln an den Türen– nicht ein einziges Stück Messing war zu sehen. Auf dem breiten, wuchtigen Heck prangte in großen Lettern ihr Name; eine üppige Schnörkelzier, deren Gold längst abgeblättert war, umrahmte eine Art Wappen, und darunter stand das Motto ›Kämpfe oder stirb‹. Ich weiß noch, wie mich das beeindruckte. Es lag ein Hauch Romantik darin, etwas, das mir den alten Kasten auf Anhieb sympathisch machte– etwas, das zu mir passte, zu mir und meiner Jugend!
Wir verließen London mit Sand als Ballast; in einem Hafen im Norden wollten wir Kohle für Bangkok aufnehmen. Bangkok! Sechs Jahre fuhr ich nun schon zur See und hatte bisher nur Melbourne und Sydney gesehen, schöne, ordentliche Städte, bezaubernde Städte auf ihre Art– aber Bangkok!
Unter Segeln ging es die Themsemündung hinaus, mit einem Nordseelotsen an Bord. Er hieß Jermyn und sprang den ganzen Tag in der Kombüse umher, wo er sein Taschentuch am Herd trocknete. Anscheinend schlief er nie. Er war ein elender Kerl, dem ewig ein Tropfen an der Nasenspitze funkelte; entweder steckte er in der Klemme oder hatte in der Klemme gesteckt oder rechnete damit, dass er bald in der Klemme stecken würde– jedenfalls schien er nur glücklich, wenn etwas schiefging. Er misstraute meiner Jugend, meiner Vernunft, meinen seemännischen Kenntnissen und legte es darauf an, mir das auf hunderterlei Art zu verstehen zu geben. Und er hatte ja recht. Heute scheint mir, ich wusste damals sehr wenig, und viel mehr weiß ich auch jetzt nicht; aber ein Hass auf diesen Jermyn bleibt bis auf den heutigen Tag.
Eine Woche lang arbeiteten wir uns nordwärts bis an die Yarmouth Roads, dann kamen wir in einen Sturm– den berühmten Oktobersturm vor zweiundzwanzig Jahren. Wind, Blitz, Eisregen, Schnee und eine wildgewordene See. Wir hatten wenig Ladung, und ihr bekommt einen Begriff davon, wie schlimm es war, wenn ich euch sage, dass es das Schanzkleid abriss und unser Deck unter Wasser stand. In der zweiten Nacht verrutschte der Ballast lee- und bugwärts, und inzwischen hatte es uns schon bis zur Doggerbank hinausgetrieben. Uns blieb keine Wahl, wir mussten mit Schaufeln unter Deck und versuchen, das Schiff wieder zu richten, und da standen wir also in dem riesigen Laderaum, düster wie eine Höhle, nur Talglichter flackerten auf den Balken, über uns heulte der Sturm, und das Schiff warf sich wie wild hin und her. Alle waren wir da unten, Jermyn, der Käpt’n, alle Mann, konnten uns nur mit Mühe auf den Beinen halten, taten unser Totengräberwerk und versuchten, den Sand Schaufel um nasse Schaufel nach Luv zu werfen. Bei jedem Rollen des Schiffs sah ich in dem spärlichen Licht Schaufeln aufblitzen, wo Männer zu Boden gingen. Einer der Schiffsjungen (wir hatten zwei) war so entsetzt vom Wahnsinn dieser Szene, dass er weinte, als breche ihm das Herz. Irgendwo im Schatten hörte man ihn schluchzen.
