Jugendliche in der Psychodynamischen Psychotherapie - Inge Seiffge-Krenke - E-Book

Jugendliche in der Psychodynamischen Psychotherapie E-Book

Inge Seiffge-Krenke

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Beschreibung

Umfassend – bewährt – auf neuestem Stand - Das Grundlagenwerk für die Therapie mit Jugendlichen - Das bewährte Lehrbuch - Enthält zahlreiche Fallvignetten Bei diesem Buch handelt es sich um eine völlige Neubearbeitung des bewährten Lehrbuches »Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie mit Jugendlichen«, das seit der Erstveröffentlichung im Jahr 2007 mehrere Auflagen erfahren hat und für den die Autorin den Heigl-Preis erhalten hat. Die Neuausgabe wurde gründlich überarbeitet und trägt dem Wandel der Krankheitsbilder und neuen Möglichkeiten der Behandlung in den letzten Jahren Rechnung. Folgendes ist neu hinzugekommen oder wurde erweitert: - Mentalisierungsbasierte, interaktionelle und bindungsbezogene Therapie - Therapie mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund und ihren Eltern - Therapie struktureller Störungen, Therapie trans*Jugendlicher, Einfluss der Medien - Konflikt vs. Strukturdiagnostik im Sinne der OPD-KJ - Qualitätssicherung und Therapieprozessforschung Dieses Buch richtet sich an: - PsychotherapeutInnen in Klinik und Praxis - AusbildungskandidatInnen und Studierende des Studiengangs Psychotherapie

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EPUB

Seitenzahl: 837

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Inge Seiffge-Krenke

Jugendliche in der Psychodynamischen Psychotherapie

Kompetenzen für Diagnostik, Behandlungstechnik, Konzepte und Qualitätssicherung

Impressum

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Speicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Klett-Cotta

www.klett-cotta.de

© 2007/2020 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten

Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von © photocase/k_t

Datenkonvertierung: Kösel Media, Krugzell

Printausgabe: ISBN 978-3-608-98359-3

E-Book: ISBN 978-3-608-12049-3

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20460-5

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

Vierte, vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe des Titels »Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie mit Jugendlichen«, 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

Inhalt

Vorwort

1. Kapitel

Einleitung

2. Kapitel

Theoretische Kompetenz: Das Jugendalter aus psychodynamischer und entwicklungspsychologischer Sicht

Frühe psychodynamische Ansätze: Von Freud zu Blos

Weiterentwicklungen: Selbstpsychologie, Objektbeziehungstheorien, intersubjektive Ansätze und die Bedeutung des Körpers

Die psychodynamischen Akzentsetzungen in den letzten Jahren

Begrenzungen der psychodynamischen Adoleszenztheorien: Warum brauchen Jugendlichen-Therapeuten entwicklungspsychologische Kenntnisse?

Die Sicht der Entwicklungspsychologie: Der kompetente Jugendliche

Von der Defizitorientierung zur Ressourcenorientierung

3. Kapitel

Ursachen für die Zunahme und Veränderung psychischer Störungen

Veränderungen in den ätiologischen Modellen und Krankheitswandel

Neue Trends: Balance zwischen internalen und externalen Faktoren

Zunahme von psychischen Störungen bei Jugendlichen: Epidemiologische Studien und Krankenkassen-Statistiken

Zunahmen bei einzelnen Störungen, Modediagnosen, Geschlechtsspezifität

Stabilität von Störungen

Komorbidität als jugendtypisches Phänomen

Gesellschaftliche Veränderungen als Ursachen für die Zunahme und Veränderung von psychischen Störungen

Erdrückende Realitäten: Kumulierung von Stressoren in der Gruppe psychisch auffälliger Jugendlicher

Vulnerabilität und Resilienz

4. Kapitel

Diagnostische Kompetenz: Der diagnostische Prozess

Der Weg in die Therapie: Die Behandlungsmotivation von Jugendlichen

Diskrepanzen in den Symptombeschreibungen, unklare und instabile Diagnosen

Wer ist eigentlich der Patient? Wer braucht eine Therapie?

Anonyme Online-Dienste und »bewusste Unaufrichtigkeit« und »Vagheit« in der dyadischen Gesprächssituation

Wie kann man traumatische Erfahrungen kommunizieren und verstehen?

Indikationen zur Psychotherapie bei Jugendlichen

Vorgehen in den probatorischen Sitzungen, Nutzung des OPD‑KJ-Interviews als Tool

Szenisches Verstehen und OPD-KJ – kein Widerspruch

Indikationskriterien und die Unterscheidung zwischen bewusster und unbewusster Behandlungsmotivation

Diagnostische Hilfen

Diagnostische Arbeit mit der OPD-KJ

Die Erstellung der Fallkonzeption mit Hilfe der OPD-KJ

5. Kapitel

Diagnostische Kompetenz: Einige typische Störungsbilder

Hysterie/Dissoziative Störungen

ADHS

(Borderline-)Persönlichkeitsstörungen

Jugendliche Psychosen

Destruktives Körperagieren: Selbstverletzendes Verhalten und Essstörungen

Probleme mit der sexuellen Präferenz und der Geschlechtsidentität, Transgender

Sexualisierte Gewalt: Sexualstraftäter

Antisoziales Verhalten, Delinquenz, Weglaufen, Schulabsentismus

Depression

Suizidalität

Traumatisierungen

6. Kapitel

Psychodynamische Kompetenz: Was heißt »psychodynamisches Arbeiten«?

Was heißt »psychodynamisches Arbeiten«?

Aktuelle Veränderungen in der Erwachsenenpsychotherapie: Von der Kunst der Deutung zur Macht der Beziehung

Berufsbild und Tätigkeit des Jugendlichen-Psychotherapeuten

Essentiell für die Versorgung: Der Berufsstand des psychodynamischen Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten

Was macht einen »hinreichend guten« Jugendlichen‑Psychotherapeuten aus?

Vergleich zwischen erfahrenen und unerfahrenen Therapeuten

7. Kapitel

Behandlungstechnische Kompetenz: »Der Versuch, auf einen fahrenden Zug aufzuspringen«

Historischer Exkurs: Spaltung zwischen Befürwortung und Ablehnung der Jugendlichenbehandlung

Die Einhaltung des Rahmens

Grundregel und Arbeitsbündnis

Symbolisierungsfähigkeit und die Bedeutung der Mentalisierung

Umgang mit Phantasien und dem Unbewussten

Arbeiten mit Träumen

Die Arbeit mit der »inneren Bühne«: Geschichten, Filme, neue Medien

Nutzung von Spielen, Zeichnungen und Kunst

Deuten versus »containen«

Arbeit in der Beziehung, Bindungsaspekte

Gegenübertragungsphänomene und -probleme

Reparieren von Brüchen: »rupture and repair«

Spezielle Widerstands- und Abwehrformen

Traumata, Sprachlosigkeit und Agieren

Agieren in und außerhalb der Therapie

Abstinenz und analytische Neutralität

Grenzen setzen, Triangulierung und der ödipale Verzicht

Phasenspezifische Besonderheiten: Übergangsobjekte, Sexualität, Umgang mit Autonomie

Sexuelle Entwicklung von Jugendlichen und das Geschlecht des Therapeuten

Negative therapeutische Motivation und negative therapeutische Reaktion

Beendigung der Therapie

8. Kapitel

Behandlungstechnische Kompetenz: Begleitende Elternarbeit

Elternarbeit: Zielsetzungen, triadische Kompetenz und die »Achillesferse«

Der Beginn der Elternarbeit in den probatorischen Sitzungen

Unterschiedliche Typen von Elterngesprächen

Funktion und Themen der Elternarbeit: Stärkung der Elternkompetenz

Hinweise zur Technik in Elterngesprächen

Therapieende und Therapieabbrüche

9. Kapitel

Kulturelle Kompetenz: Die Arbeit mit ausländischen Familien

Der erste Kontakt: Unterschiedlicher Ausdruck von »Störungen« und die Bedeutung des Schamaffekts

Die therapeutische Haltung im Setting, modifiziertes Abstinenzkonzept

Fragen zum technischen Vorgehen

Interethnische Heiraten, unterschiedliches Akkulturationsniveau zwischen Eltern und Kindern und die Arbeit mit Vätern

Offenheit für andere Werte und Erziehungsvorstellungen, Identitätsprobleme und Autonomieschuld

Besondere Gegenübertragungsgefühle und -gefahren

10. Kapitel

Behandlungstechnik bei traumatisierten Patienten und Patienten mit strukturellen Beeinträchtigungen

Nutzung verschiedener Krankheitsmodelle: Von der Konflikt- zur Struktur- und Traumapathologie

Konflikt- und Strukturfokus in psychodynamischen Therapien

Strukturgebende Therapien und die Bedeutung von Mentalisierung und Bindung

Übertragungsfokussierte Therapie (TFP)

Adolescent Identity Treatment (AIT)

Mentalisierungsbasierte Therapie für Adoleszente (MBT-A)

Die Psychoanalytisch-interaktionelle Methode (PIM)

Umgang mit traumatisierten Patienten

11. Kapitel

Flexibilisierung der Behandlungsformen: Von der KZT zum stationären Setting

Flexibilität des therapeutischen Prozesses

Beratung und Krisenintervention

KZT und Fokaltherapie

Einzeltherapie

Gruppentherapie

Stationäres Setting

12. Kapitel

Forschungskompetenz: Qualitätssicherung und Veränderungen in psychodynamischen Behandlungen

Warum wird Qualitätssicherung für die Zukunft der Jugendlichen-Therapeuten immer bedeutsamer?

Ergebnisse der Evaluationsforschung in der Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie

Prozessanalysen: Kommunikationsanalysen und Schulung des Umgangs mit »ruptures« in der therapeutischen Beziehung

OPD-KJ in der Diagnostik und Qualitätssicherung

Verbesserung des Strukturniveaus und der Mentalisierungsfähigkeit

Faktoren, die einen Einfluss auf den Psychotherapieprozess und das Psychotherapieergebnis haben: Moderatoren der Veränderung

Forschung zu Therapieabbrüchen

Qualitätssicherung in der Kinder- und Jugendlichen-Therapie – mehr als nur eine Frage der Effizienz

Literatur

Personenregister

Sachwortregister

Vorwort

Meine Beschäftigung mit dem Gegenstand dieses Buches hat eine lange Geschichte. Zunächst ist zu sagen, dass ich neben einer psychoanalytischen Ausbildung für die Behandlung von Erwachsenen auch eine Ausbildung für die psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Therapie von Kindern und Jugendlichen absolvierte, und diese kombinierte Erfahrung in beiden Altersbereichen war sehr entscheidend für meine Beschäftigung mit jugendlichen Patienten, ebenso wie meine Tätigkeit als Entwicklungspsychologin mit meinen zahlreichen Forschungsarbeiten(1) über Jugendliche und ihre Eltern nicht nur in Deutschland, sondern auch in vielen anderen Ländern.

Mein erstes Buch über psychoanalytische Psychotherapie bei Jugendlichen entstand 1986. Neue Möglichkeiten der Behandlung, aber auch der Krankheitswandel(1) waren Anlass für die umfassende Neukonzeptualisierung, die ich in Psychoanalytische und tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie mit Jugendlichen 2007 vorlegte, ein Buch, das im gleichen Jahr den Heigl-Preis erhielt. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Therapie von Jugendlichen eine solche Aufmerksamkeit erhielt.

Seither sind einige Jahre vergangen, in denen eine umfangreiche Forschung(2) zu den neurobiologischen(1) Grundlagen psychischer Störungen stattfand, in denen die neuen Medien(1) in nie geahnter Weise Einfluss auf unseren Alltag und die therapeutische Praxis nahmen, in denen viele Patienten mit Migrationshintergrund(1) in unsere Ambulanzen kamen und in denen die Notwendigkeit, die Effizienz(1) unserer Behandlungen zu evaluieren, immer deutlicher wurde. Dass reale Traumatisierungen(1) viel häufiger sind als noch vor Jahrzehnten wahrgenommen und strukturelle Störungen im Zunehmen begriffen sind, wurde offenkundig und hat zu zahlreichen spezifischen Behandlungsformen(1) für diese Störungsgruppe geführt. Das vorliegende Buch baut auf den früheren Arbeiten auf, es nimmt zugleich die neueren Entwicklungen in den Blick und reflektiert sie für die therapeutische Praxis. Auch der Titel wurde geändert, um deutlich zu machen, dass psychodynamische(1) und tiefenpsychologisch fundierte Therapien unter dem Dach »Psychodynamische Therapie (TP)« einen guten Platz gefunden haben, was nicht nur dem internationalen Sprachgebrauch entspricht, sondern zugleich den zukunftsträchtigen Entwicklungen Rechnung trägt. Ab 2020 wird es nämlich in Deutschland einen neuen Studiengang, Master in Psychotherapie(1) geben, in dem psychodynamische(1) Verfahren ihren Stellenwert haben; dies wird auch zu Veränderungen in den Weiterbildungen(1) für psychodynamische(2) Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen führen. Psychodynamische Konzepte und Behandlungsformen(3) haben damit eine erhebliche Aufwertung und Professionalisierung erfahren – eine sehr erfreuliche Entwicklung.

In den letzten Jahren haben mich die Gespräche und der Austausch mit Freunden und Kollegen wie Hans Hopf(1), Gabriele Scherning, Annegret Boll-Klatt(1), Mathias Kohrs(1), Luise Reddemann(1), Annette Streeck-Fischer(1), Manfred Cierpka(1), Harald Freyberger(1), Verena Kast(1), (1)Gerd Rudolf(1), Henning Schauenburg(1), Kerstin Westhoff(1), Christiane Ludwig-Körner, Norbert Kohl, Dieter Sens, Gitta Binder-Klinsing, Jürgen Grieser(1), Anke Hüter, Daniela Pfannkuch und Shmuel Shulman(1) sehr bereichert. Die jahrzehntelange Arbeit in der Therapie und Supervision,(1) in verschiedenen Ausbildungskontexten, in Beratungsstellen(1), in der Kinderpsychosomatik, der Kinder- und Jugendpsychiatrie, in Gemeinschaftspraxen sowie die Arbeit in der OPD-KJ(1)(u. a. mit Klaus Schmeck(1), Susanne Schlüter-Müller(1), Heiko Dietrich(1), Helene Timmermann(1), Petra Adler-Corman(1) und Fabian Escher(1)) bedeuten mir viel. Die Begeisterung für die Psychodynamik(2) hat uns (Franz Resch(1), Günter Presting, Ulrike Rastin und mich) in der Buchreihe Psychodynamik kompakt zu einer jahrelangen kreativen Zusammenarbeit geführt, in der Bände für Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten(1) entstanden. In der Arbeitsgemeinschaft Psychodynamischer Professorinnen und Professoren haben wir uns, allen voran Jürgen Körner(1) und Cord Benecke(1), sehr für die Belange einer zukunftsträchtigen psychodynamischen(3) Aus- und Weiterbildung(1) engagiert. Ich bedanke mich bei allen Weggefährten sehr herzlich, und dazu gehören auch Dr. Heinz Beyer vom Verlag Klett-Cotta, der mit Nachdruck und Geduld diese Überarbeitung begleitete, sowie Thomas Reichert, der wiederum wie bei meinen früheren Büchern umsichtig und kompetent lektorierte.

1. Kapitel

Einleitung

»Würdest du mir bitte sagen, welchen Weg ich einschlagen muss?«

»Das hängt in beträchtlichem Maße davon ab, wohin du gehen willst«,

antwortete die Katze.

»Oh, das ist mir ziemlich gleichgültig«, sagte Alice.

»Dann ist es auch einerlei, welchen Weg du einschlägst«,

meinte die Katze.

»Hauptsache, ich komme irgendwohin«, ergänzte sich Alice.

»Das wirst du sicher, wenn du lange genug gehst«, sagte die Katze.

(Lewis Carroll(1), Alice im Wunderland, 1865, S. 103)

Psychodynamische Psychotherapeuten leisten nicht nur den größten Anteil, sie sind in der ambulanten und stationären Versorgung(1)(1) von Jugendlichen unverzichtbar. Ihr therapeutischer Zugang, ihre Haltung(1) und ihre Kompetenzen sind in einer Altersgruppe gefragt, die keineswegs leicht zu behandeln ist. Auch formal haben sich die Voraussetzungen für psychodynamische(4) Jugendlichen-Therapeuten verbessert. Seit In-Kraft-Treten des Psychotherapeutengesetzes(1) 19991 wurde die Ausbildung(3) von Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten(2) und deren berufliche Grundlage auf eine neue, sichere Basis gestellt. Der 8. Deutsche Psychotherapeutentag (DPT) forderte bereits 2006 in einer einhellig verabschiedeten Resolution, für Kinder- und Jugendlichen-Therapie eine Mindestquote von 20 % der Bedarfsplanung(1) vorzusehen, es dauerte allerdings einige Zeit, bis diese realisiert wurde (Schwarz, 2019)(1). Dies erbrachte tatsächlich neue Kassensitze, konnte aber das Stadt-Land-Gefälle(1) strukturell nicht beheben. Inzwischen liegen neue Informationen zur Bedarfsplanung(2) vor, ist die Reform der Aus- und Weiterbildung(1) in Psychotherapie in Deutschland u. a. durch die im Bundestag (12/2019) verabschiedete Novelle des Psychotherapeutengesetzes, basierend auf dem Referentenentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit, vorangeschritten, eine Approbationsordnung wurde vom Bundesrat am 14. 2. 2020 verabschiedet, Weiterbildungsordnungen werden folgen.

Ab 2020 wird es also einen neuen Studiengang Master in Psychotherapie(2) (zumeist an psychologischen Instituten) geben, der psychodynamische(6) Perspektiven im Studium – nach einer jahrzehntelangen Dominanz verhaltenstherapeutischer(1) Verfahren – gleichberechtigt unterrichtet und erforscht und in der die Lehre altersübergreifend ist, also diagnostische und therapeutische Perspektiven in Bezug auf Kinder, Jugendliche und Erwachsene integriert. Erst nach Abschluss dieses verfahrens- und altersübergreifenden Studiums kann eine Weiterbildung(4) in einem speziellen Verfahren, z. B. psychodynamische(4), d. h. tiefenpsychologisch fundierte (TP), und psychoanalytische Therapie (PA(1)) bei Kindern und Jugendlichen angeschlossen werden mit der Möglichkeit des Erwerbs der jeweils anderen Fachkunde für die jeweils andere Altersstufe. Die Durchlässigkeit und Flexibilität ist also sehr groß geworden, und der Beruf des Kinder- und Jugendlichen-Therapeuten(3) deutlich aufgewertet und dem des Erwachsenentherapeuten gleichgestellt.

Diese Neuerungen in der psychodynamischen(7) Aus- und Weiterbildung(5) – und dass international »psychodynamisch« die gebräuchliche Form ist – sind der Grund dafür, weshalb in diesem Buch zumeist der Begriff psychodynamisch gebraucht wird, unter dem im deutschen Kassensystem die Finanzierung(2) von tiefenpsychologisch fundierten und von analytischen Psychotherapien mit Kindern und Jugendlichen erfolgt. Die Psychodynamik(8) ist also das »gemeinsame Dach«, unter dem international, aber auch in den anderen deutschsprachigen Ländern, diagnostische und therapeutische Arbeit geleistet wird.

Dieses Buch hat sich zum Ziel gesetzt, auf dem Hintergrund von Theorien, Forschungsbefunden(3) und therapeutischer Praxis einen Beitrag zu wesentlichen Arbeitsschwerpunkten von Jugendlichen-Psychotherapeuten zu leisten. In den letzten 20 Jahren hat sich das Interesse an dieser Entwicklungsphase – der Jugend – verstärkt und die therapeutische Vorgehensweise stark verändert, und zwar auf Grund von folgenden Entwicklungen:(1)

Eine größere Differenzierung in den ätiologischen(1) Faktoren, die das Verständnis des Einflusses von Entwicklungsfaktoren hervorgebracht und dazu geführt haben, dass diese verstärkt in der therapeutischen Arbeit benutzt werden.

Neurobiologische(2) Erkenntnisse und Ergebnisse der Bindungsforschung(1) wurden stark rezipiert und in ihrer Bedeutung für die Adoleszenztherapie reflektiert.

Der frühen Entwicklung wurde in ihrer Bedeutung für die spätere Psychopathologie(1) stärker Rechnung getragen, etwa durch die Wahrnehmung der Bedeutung früher Traumatisierungen(1) und belastender Lebensereignisse.

Zugleich wurde die Adoleszenz(1) als »Fenster der Vulnerabilität(1)(1)« begriffen, als zentrale Schnittstelle, von der aus sich weitere psychopathologische(2) Entwicklungen, z. B. als Einflüsse auf das junge Erwachsenalter (»emerging adulthood(1)«), zeigen.

Gravierende gesamtgesellschaftliche Veränderungen(1), der Einfluss der neuen Medien(2), Veränderungen in den Familienformen(1) und eine zunehmende kulturelle Diversität waren in diagnostische und therapeutische Konzepte zu integrieren.

(1)Jugendliche Patienten heutzutage unterscheiden sich deutlich von jenen, die noch vor 20, 30 Jahren therapiert wurden. Dieser Krankheitswandel(2) hängt auch mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen(2) zusammen, wie ich in diesem Buch belegen will. Wesentliche Impulse zur Beachtung der Realität(1) – im Vergleich zu den unbewussten(1) Phantasien(1) – kamen von der Bindungsforschung(2). Sie sollen in den nächsten Kapiteln dargestellt werden, ebenso wie entwicklungspsychopathologische(1) Befunde, die von besonderer klinischer Relevanz sind.

Aufgrund der beschriebenen Veränderungen werden Fragen der Diagnostik (etwa durch OPD-KJ), der Behandlungstechnik und auf psychodynamischem Denken gründende neue Behandlungsmethoden(2) wie strukturorientierte Psychotherapie(1), MBT (Mentalisierungsbasierte Therapie)(1) und TFP (Übertragungsfokussierte Psychotherapie)(1) in diesem Buch einen besonderen Schwerpunkt ausmachen. Dabei geht es auch um Fragen der Unterscheidung zwischen Konflikt(1)- und Strukturpathologie(1) sowie Traumapathologie(1).

(1)(2)In Anbetracht der Möglichkeit, die »zweite Chance«(1)(1)(Blos, 2015, S. 19) zur grundlegenden Veränderung der psychischen Struktur zu nutzen, ist die psychodynamische Behandlung(5) von Jugendlichen eine große Aufgabe, die die Kompetenz von Therapeuten herausfordert. Ein Kapitel dieses Buches wird sich daher Fragen der Kompetenz und Professionalisierung (Wer sind wir? Was macht einen »hinreichend guten«(1) Jugendlichen-Therapeuten aus?) widmen. Die später zusammengetragenen Evaluationsstudien(1) unterstreichen, dass diese Altersgruppe sehr von einer solchen Therapie profitiert; die Effektstärken(2) liegen nur wenig unter denen für Erwachsenenbehandlungen. Aber neben der Effizienz(3) hat die Forschung(4) noch viele andere spannende Ergebnisse zur Psychotherapie bei Jugendlichen zu bieten.

(2)(3)Eine psychodynamische Behandlung(6) von Jugendlichen kann sich – wie in weiteren Kapiteln dieses Buches nachgewiesen werden soll – in ihrem Verlauf und in behandlungstechnischer Hinsicht sehr von einer Erwachsenenbehandlung unterscheiden. Daher ist es besonders wichtig, die entwicklungspsychologischen Basisdaten dieser Entwicklungsphase zu kennen, konturieren sie doch den Hintergrund, vor dem sich der psychodynamische Prozess(7) zwischen Therapeut und jugendlichem Patienten entfaltet.

Ich möchte hervorheben, dass, wenn aus Gründen der Vereinfachung von »Therapeut« und »Jugendlichem« gesprochen wird, immer alle Geschlechter gemeint sind. Desgleichen möchte ich betonen, dass, wenn (3)(4) im Folgenden der Begriff der »Adoleszenz(2)« verwendet wird, er ganz unterschiedliche Entwicklungsabschnitte umgreift. Neuere entwicklungspsychologische(5) Forschung(5) hat gezeigt, dass frühere Konzepte einer prolongierten oder sogar pathologisch prolongierten Adoleszenz(1)(1) (Blos, 1954)(2) nicht mehr zutreffend sind, sondern dass das Auftreten eines neuen, bislang unbekannten Entwicklungsabschnitts zwischen Jugendalter und Erwachsenenalter (»emerging adulthood(2)«, Seiffge-Krenke, 2015a) heute die Regel ist, was für Jugendlichen-Psychotherapeuten die Behandlung von jungen Menschen bis zum 23. Lebensjahr bedeuten kann. Bis zum 21. Lebensjahr muss die Therapie allerdings begonnen worden sein.

(6)Insgesamt wird in diesem Buch durch die Integration vielfältiger interdisziplinärer Theorien und Befunde, durch deren Illustration in Form von Falldarstellungen und dadurch, dass der Fokus auf wesentliche Arbeitsschwerpunkte (wie Diagnostik(1), Fallkonzeption(1), neue Krankheitsbilder(3), neue Behandlungsformen(3), Arbeit an der therapeutischen Beziehung, technische Fragen in der Jugendlichenbehandlung, Elternarbeit(1) und Qualitätssicherung(1)) gelegt wird, Jugendlichen-Therapeuten in der Aus- und Weiterbildung(6) und Jugendlichen-Therapeuten bei ihrer praktischen Arbeit ein komplexer theoretischer Rahmen(1), ein hilfreiches Gerüst an Einsichten und Techniken angeboten. Dabei werden, zusammenfassend, vier Schwerpunkte gesetzt:

theoretische Kompetenz,

diagnostische Kompetenz,

behandlungstechnische Kompetenz und

Forschungskompetenz.

In einem Kontext von hohen Einwanderungsraten wie in der Schweiz, in Österreich und in Deutschland wird die kulturelle Kompetenz(1) als spezifische diagnostische und behandlungstechnische Kompetenz ebenfalls eine Rolle spielen.

2. Kapitel

Theoretische Kompetenz: Das Jugendalter aus psychodynamischer(9) und entwicklungspsychologischer(7) Sicht

(8)Die altersmäßige Umgrenzung des Jugendalters als Entwicklungsabschnitt ist nicht einfach. Während der Beginn der Adoleszenz(3) noch relativ eindeutig das Alter von 12 bis 13 Jahren umfasst, bereitet die Bestimmung der obersten Grenze zunehmend Schwierigkeiten. Das Ende der Adoleszenz ist erreicht, so(1)Freud (1905a), wenn das Individuum ein nichtinzestuöses Liebesobjekt gefunden hat – ein schwierig zu definierendes Kriterium. In der entwicklungspsychologischen Forschung(6) wurde vor einer Reihe von Jahren ein neues, eigenes Stadium zwischen später Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter entdeckt, »emerging adulthood(3)« (1)(Arnett, 2000; Seiffge-Krenke, 2015a).

(9)Orientiert am historischen Verlauf werden in diesem Kapitel zunächst die Konzeptionen der klassischen Vertreter psychodynamischer(10) Adoleszenztheorien wie Sigmund(2) und Anna Freud(1) sowie die Reflexion ihrer Ansätze in älteren Arbeiten vorgestellt. Dann werden die Objektbeziehungstheorien, interaktionistische(1) Ansätze(1) und die Selbstpsychologie(1) dargestellt, deren Ideen, obwohl sie keinen eigenständigen Beitrag zur Theorie der Adoleszenz(4) geleistet haben, bis heute in den meisten aktuellen Ansätzen vertreten werden. Die Bindungstheorie, die im Rahmen der Vorstellung entwicklungspsychologischer Befunde und Theorien besprochen wird,(3) stellt ein Bindeglied zwischen Psychoanalyse und Entwicklungspsychologie dar. Schließlich geht es in diesem Kapitel um Beziehungsentwicklung, Körperkonzept(1), Identität(1) und Stressbewältigung(1) des Jugendlichen, die vor dem Hintergrund der Verarbeitung belastender Erfahrungen bei vielen Patienten bedeutsam sind. Dies wird in den Rahmen(2) der Familienentwicklung in dieser Altersphase eingebettet.

Frühe psychodynamische(11) Ansätze: Von Freud(3) zu Blos(3)

Für alle psychodynamischen(12) Ansätze ist das Konzept des Unbewussten(2) zentral, können unbewältigte frühe Konflikte alle späteren Beziehungen belasten und zu psychischen Symptomen führen (2)(Boll-Klatt & Kohrs, 2018)(2). Dabei ist die Kontinuität zwischen normalen und gestörten Entwicklungsprozessen(1) ein Diktum, das besonders für die Adoleszenz(5) gilt.

Auf die frühen Ansätze von Sigmund Freud(4), von Anna Freud(2) und Erik H. Erikson(1) wird(2) nur kurz eingegangen, da ihre Bekanntheit vorausgesetzt werden kann (vgl. Seiffge-Krenke, 2003a). Etwas ausführlicher wird die Theorie von Peter Blos(4) dargestellt, der sich besonders um eine Differenzierung in einzelne Entwicklungsabschnitte und ihre speziellen Aufgaben bemüht hat.

Sigmund Freud(5): Adoleszenz(6) als endgültige Lösung des Ödipuskomplexes(1), Bisexualität(1)

(1)Das psychodynamische(13) Studium der Adoleszenz(7) begann bekanntlich 1905 mit dem entsprechenden Kapitel in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie(1)«, in denen Sigmund Freud(6) das Erreichen einer endgültigen Sexualorganisation(2) als entscheidendes Charakteristikum dieser Entwicklungsphase(1) herausstellte. Die dort von ihm vertretene Sicht, die Adoleszenz sei vor allem eine Neuauflage ödipaler Probleme(2), hatte weitreichende Konsequenzen; angesichts der Vielzahl von Patienten, die mit ihren Eltern ein spezielles Schlafarrangement(1) teilen, finden wir diese Sichtweise heute erneut bedeutsam (vgl. Kapitel 3).

In wesentlichen Zügen wiederholt(1) die Adoleszenz(8) nach Freud(7) den Ödipuskomplex(2) und muss ihn endgültig lösen. Um das Ziel der reifen Sexualität(3) zu erreichen – nach Freud(8) die Unterordnung der erogenen Zonen unter das Genitalprimat und die Anerkennung der Generationsgrenze(1)(4) –, hat der Jugendliche mehrere Entwicklungsaufgaben zu bewältigen: Er muss den Ablösungsprozess(1) von den Eltern vollziehen, also auf inzestuöse Objektbesetzungen verzichten, sowie gleichgeschlechtliche Neigungen aufgeben, also heterosexuelle(1)(5) Objekte wählen. Wir würden heute die homosexuelle(1) Objektwahl hinzufügen wollen. Interessant ist, dass Freud(9) auf ein bisexuelles Durchgangsstadium(1) hingewiesen hat, besonders deutlich bei den Mädchen, aus heutiger Sicht angesichts der vielen Patienten mit Transgender(1)-Problematik bemerkenswert.

Freuds(10) Sichtweise der »zweiten ödipalen Phase(1)« war sehr einflussreich. In den folgenden Jahren haben dann Siegfried (1)Bernfeld (1923), Alfred Adler (1927)(1) und August Aichhorn (1925)(1) von einer eher praktischen Seite her zum Verständnis von Jugendlichen beigetragen. Aichhorns behandlungstechnisches Vorgehen in der Therapie dissozialer(1) und delinquenter Jugendlicher ist hier zu nennen. Bernfelds protrahierter Typus, dadurch gekennzeichnet, dass er weit über die normale Altersstufe hinaus adoleszente Verhaltensweisen beibehält, ist heute vor dem Hintergrund der neuen Phase des »emerging adulthood(4)« besonders interessant. Blos (1965)(5) beschrieb den spezifischen Ablauf der Adoleszenz(9) beim männlichen Geschlecht, Helene Deutsch (1944)(1) die frühe Adoleszenz bei Mädchen. Sie arbeitete das bisexuelle Schwanken(2)als besonders offenkundig bei Mädchen heraus. In der Tat lässt sich belegen, dass weibliche Jugendliche in der frühen Adoleszenz mit gleicher Heftigkeit heterosexuelle(2) und homoerotische(2) Beziehungen aufnehmen (vgl. Seiffge-Krenke, 2017a).

Anna Freud(3): Entidealisierung(1) der Eltern, Trauerarbeit(1) und jugendspezifische Abwehrmechanismen(1)

(2)Anna Freud(4) beschäftigte sich eingehender als ihr Vater mit diesem Entwicklungsabschnitt. 1936 veröffentlichte sie zwei Aufsätze, »Das Ich und das Es(1) in der Pubertät(1)« und »Triebangst in der Pubertät«, in denen sie die konfliktträchtige und quantitative Veränderung der Triebe mit dem Eintritt in die Pubertät belegt. Für sie bedeutet

(3)(2)»die Pubertät(2) ihrem Wesen nach die Unterbrechung einer Periode friedlichen Wachstums, […] das Weiterbestehen von innerem Gleichgewicht und Harmonie dagegen eine abnorme, nicht eine normale Erscheinung, die dringend einer Behandlung bedarf« (A. Freud, 1960,(5) S. 21).

(4)(3)Anna Freud(6) hält die Verlagerung libidinöser Besetzungen der Elternrepräsentanzen(1) auf nichtinzestuöse Objekte außerhalb der Familie für das zentrale Problem der Adoleszenz(10). Hierzu ist eine spezielle Trauerarbeit(5)erforderlich, die an einen realen Objektverlust(1) erinnert.

Im idealen Fall reduzieren sich Angst und Schuldgefühle(1) mit dem Abzug von Besetzungen. Zur Bewältigung der Ängste setzt das Ich alle ihm zur Verfügung stehenden Abwehrmechanismen(2) aus jeder Entwicklungsstufe ein. Im Einzelnen unterscheidet Anna Freud (1958,(7) S. 269)(4):

(6)Abwehr(1) gegen infantile Bindungen(1) durch Verschiebung der Libido auf andere Objekte (abrupte Besetzung außerfamiliärer Objekte wie Freunde) bzw. durch Verkehrung eines Affektes(1) in sein Gegenteil (Verleugnung(1) von positiven Gefühlen, provokantes, aggressives Verhalten);

Abwehr(2) gegen triebhafte Impulse durch Askese(1)(1) (den Versuch, jegliche Triebbefriedigung zu unterdrücken; dazu gehören auch Bedürfnisse wie Schlaf und Nahrung) bzw. durch Intellektualisierung(1) (die gedankliche Meisterung der Triebwünsche, die sich oft in endlosen Diskussionen über abstrakte politische Themen äußert).

(7)(5)Anna Freud(8) hebt besonders die Abwehrmechanismen(3) der (2)Askese(2) und der Intellektualisierung(2) als für das Jugendalter charakteristisch hervor. Da sich diese Abwehrmechanismen(1) gegen Triebabkömmlinge aus allen prägenitalen Phasen richten, ist das pathologische Erscheinungsbild des Jugendlichen variabel und unberechenbar. Fluktuationen zwischen extremen Gegensätzen – wie Ablehnung vs. Erfüllung eigener Triebimpulse, Hass vs. Liebe zu den Eltern, Auflehnung vs. Abhängigkeit von den Eltern, idealistisches, selbstloses vs. egozentrisches(1), berechnendes Verhalten – sind ihrer Auffassung nach für Jugendliche angemessen und durchaus normal. Dieser Umstand lässt eine Differentialdiagnose(1) zwischen jugendtypischem »Aufruhr« und wirklicher Pathologie zum Problem werden (A. Freud, 1958)(9).(8)(1) Wichtig ist auch das Konzept der Entwicklungslinien. Anna Freud (1965)(10) hat darauf hingewiesen, dass Imbalancen in einzelnen Entwicklungsbereichen relativ häufig sind.

Erikson(3): Identitätsentwicklung(1)(2) und die Notwendigkeit eines Moratoriums(1)

Im Vergleich zu Freuds Konzeption gibt Erikson dem Unbewussten und der psychosexuellen Dimension weniger Raum und bezieht den Entwicklungskontext stärker ein. Seine Arbeiten (Erikson, 1950, 1956, 1970 [2003]) verdeutlichten, dass das Phänomen der Adoleszenz(11) nicht nur durch eine Zunahme der Triebimpulse und deren Abwehr begründet werden kann, sondern eine psychosoziale Notwendigkeit darstellt, die wesentlich zur Integration(1) des Jugendlichen in die Gesellschaft beiträgt. Auf jeder der acht von ihm beschriebenen Entwicklungsstufen hat das Individuum einen typischen Konflikt zu lösen, dessen befriedigende Bewältigung und Integration in die nächstfolgende Stufe die Voraussetzung für eine gesunde Entwicklung des Ichs und der Ich-Identität(3) bilden.

(2)Die Adoleszenz(12), als fünfte seiner Grundphasen, wird durch die Antithese von Identität(4) vs. Identitätsdiffusion(1) charakterisiert. Erikson(4) weist darauf hin, dass Jugendliche eines Moratoriums(2) bedürfen, bevor sie als junge Erwachsene endgültig eine spezialisierte Arbeit ergreifen können und zur Intimität fähig sind (Erikson, 1970 [2003](5)). Die endgültige Identität(5), wie sie am Ende der Adoleszenz feststeht, schließt die Auseinandersetzung mit allen bedeutsamen Identifizierungen(1) der Vergangenheit ein. Dass diese Integration(2) eine schwierige Leistung der Ich-Synthese darstellt, die nicht ohne Konflikte und Krisen abläuft, verdeutlicht das folgende Zitat:

(2)»Es ist nicht immer einfach, sich daran zu erinnern, daß […] die Adoleszenz(13) kein Leiden ist, sondern eine normative Krise, das heißt eine normale Phase erhöhten Konflikts, gekennzeichnet sowohl durch eine scheinbare Schwankung in der Ich-Stärke(1) wie durch ein hohes Wachstumspotential.« (6)(Erikson, 1970 [2003], S. 167 f.)

(3)(3)Die Weiterentwicklung der Identität(6) geschieht also in einer Phase, die Erikson(7) als »normative Krise« bezeichnet. Mit Identitäts- oder Rollendiffusion sind dagegen für den Heranwachsenden problematische Entwicklungsverläufe gemeint. Erikson (1970 [2003])(8) sieht im Potential einer Gesellschaft, das dem Jugendlichen ermöglicht, sich mit neuen Rollen zu identifizieren und ein Moratorium zulässt(2), eine wichtige Hilfe bei der Identitätsbildung(4)(7). Damit kommt Erikson(9) den Theorien, die in der Entwicklungspsychologie(10) u. a. auf der Grundlage umfangreicher Studien gegenwärtig vorherrschen, sehr nahe(4).

Das Fünfphasenmodell(1) der Adoleszenz(14) von Peter Blos(6)

(2)Zu den umfassendsten psychodynamischen Arbeiten über die Adoleszenz(15) zählt das 1962 in den USA (1973 in deutscher Sprache) erschienene Buch On adolescence von Peter Blos(7), das mehrere deutsche Auflagen durchlief (zuletzt Blos, 2015, 9. Aufl.). Bis heute ist es das Standardwerk über die psychodynamische(14) Theorie der Adoleszenz geblieben. Blos(8), ein enger Weggefährte von Erikson(10) aus Karlsruher bzw. Wiener Tagen, versucht, den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter durch Differenzierung in fünf Phasen der psychischen Entwicklung überschaubarer zu machen.

(3)(2)Präadoleszenz: Zunahme des Triebdrucks, Banden-Stadium und Tomboy-Verhalten. Während der Präadoleszenz (etwa 10. bis 12. Lebensjahr) führt der Triebschub zu einem Wiederaufleben der prägenital geprägten inneren Welt des Kindes. Nahezu jedes Erlebnis – z. B. Zorn, Furcht, sportliche Betätigung – kann sexuell(6) stimulierend wirken. Die Genitalien dienen als unspezifisches Organ der Spannungsabfuhr; erst ab der Adoleszenz(16) werden sie ihre exklusive Empfindsamkeit für zumeist heterosexuelle(3)(7) Reize erhalten. Jugendliche in diesem Entwicklungsabschnitt haben Spaß an schmutzigen Worten und analen Witzen, waschen sich ungern, machen gerne Geräusche nach und verhalten sich häufig oral gierig (9)(Blos, 2015).

(4)(3)Als Konsequenz der verstärkten Triebzunahme werden Abwehrmechanismen(4) wie Verdrängung, Reaktionsbildung, Verschiebung etc. verstärkt eingesetzt. Zugleich entwickelt der Präadoleszente Tätigkeiten, die ihm in der Gruppe der Gleichaltrigen Anerkennung und Prestige verschaffen. In diesem Alter tritt auch die Sozialisierung der Schuld auf. Geteilte oder projizierte Schuldgefühle(2) sind Gründe für die wachsende Bedeutung der Gruppenzugehörigkeit. Natürlich glückt die Abwehr(3) nicht vollkommen, und so finden wir in der Präadoleszenz eine Reihe von Symptomen, die als Spannungsventile anzusehen sind, wie Magen- und Kopfschmerzen, Nägelknabbern, Herumbeißen auf den Lippen, Herumspielen an den Fingern, den Haaren sowie erhöhte motorische Unruhe.

(5)(4)Die Hauptaufgabe dieser Phase stellt der schwierige und langwierige Ablösungsprozess(2) von den primären Bezugspersonen dar, dabei stand für Blos die Mutter im Zentrum. Die typischen Bewältigungs- und Aktivitätsformen von Jungen und Mädchen unterscheiden sich auffallend: Jungen zeigen eine mädchenfeindliche Einstellung. Sie meiden Mädchen bzw. setzen sie herab, necken sie und verhalten sich angeberisch, wenn sie mit ihnen zusammen sind. Bei den Mädchen ist diese Phase(3) durch einen Aktivitätsschub (Tomboy-Verhalten,Dalsimer, 1979) gekennzeichnet, indem jungenhaftes Benehmen einen Höhepunkt erreicht. Häufig haben Jungen in diesem Alter Größenideen; das Thema des Tötens, Unterwerfens, Demütigens taucht in endlosen Variationen auf. Dies wird verstärkt durch das Zusammensein in gleichgeschlechtlichen Peergruppen (Banden-Stadium). Blos (2015)(10) erklärt das Verhalten der Jungen durch das Wiederauftauchen der Kastrationsangst(1); das der Mädchen, ähnlich wie Helene (2)Deutsch (1944), durch eine Verleugnung(2) der Weiblichkeit. Passive Bestrebungen werden bei beiden Geschlechtern überkompensiert. Der entscheidende Unterschied zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen in diesem Stadium besteht darin, dass Mädchen ihre Prägenitalität wesentlich stärker verdrängen (11)(Blos, 1965). Bis auf das jungenhafte Benehmen verhalten sie sich angepasst und ruhig und zeigen eine Neigung zum Tuscheln und zu Geheimnissen (Mack(1)Brunswick, 1940).

(6)(5)Frühadoleszenz: Homosexuelles(1)(8) Durchgangsstadium, bisexuelles Schwanken(3), Agieren(1) und Ich-Ideal(1). Im Stadium der Frühadoleszenz (etwa 13 bis 14 Jahre) beginnen der Trennungsprozess(1) von den frühen Objektbindungen und die Hinwendung zu libidinösen, extrafamiliären Objekten. Der besondere Charakter der frühen Adoleszenz(17) ist so durch die Absetzung der inzestuösen Liebesobjekte und als Folge davon durch die frei werdende Objektlibido gekennzeichnet. Die Suche nach einem neuen Objekt folgt zunächst noch einem narzisstischen(1) Schema: Man schließt Freundschaft mit Gleichaltrigen, an denen man ein bestimmtes Charakteristikum besonders liebt, das man selbst gern hätte. Aus diesem Grunde sind Freundschaftsbeziehungen in diesem Altersabschnitt latent(1) oder manifest homosexuell(3)(9): Der Freund übernimmt Teile des Ich-Ideals(2) als Substruktur des Ichs. Ein Grund für die Beendigung einer solchen homosexuell(4)(10) getönten exklusiven Freundschaft sind daher auch unvermeidliche Frustrationen, in denen der Freund auf gewöhnliche Proportionen schrumpft. Ein typisches Beispiel für eine solche frühadoleszente Freundschaft zwischen Jungen, in der sich Idealisierung(1) und Erotik verbinden, ist jene zwischen Tonio Kröger und Hans Hansen in Thomas Manns Erzählung(1) »Tonio Kröger«.

(7)(6)Bei den frühadoleszenten Mädchen finden wir sehr enge und intime gleichgeschlechtliche Freundschaften. Hinzu kommt eine typische Form der Idealisierung(2): der »Schwarm«, eine idealisierte und erotische Beziehung, die sich auf ältere Männer und Frauen beziehen kann. Eindrucksvolle Beispiele dazu gibt Karen Horney(1) in ihren Jugendtagebüchern (Seiffge-Krenke & Kirsch, 2002)(1). Das Objekt einer solchen Schwärmerei wird passiv geliebt mit dem Ziel, ein wenig seiner Aufmerksamkeit und Zuneigung zu erlangen. Stärker als bei den erotisch getönten Jungenfreundschaften dieser Altersstufe tritt der passive und masochistische Charakter (das Quälen, die Sehnsucht) hervor, die Bisexualität(4)(11) wird weniger verdrängt. Damit greift Blos(12) die Idee von Freud(11) und Deutsch(3) bezüglich des heftigeren bisexuellen Schwankens von Mädchen auf. Das Nachlassen der bisexuellen(5)(12) Tendenz bei beiden Geschlechtern zeigt dann den Eintritt in die eigentliche Adoleszenz(18) an.

(8)(7)Laufer (1964)(1) weist auf die Bedeutung des Ich-Ideals in diesem Entwicklungsabschnitt hin. (9)Charakteristisch ist auch das von (13)Blos (1964) beschriebene Agieren(2). Das Agieren(3) dient hier einer progressiven Entwicklung. Wenn der Heranwachsende fähig ist, seine eigenen Gedanken zu analysieren und Theorien zu bilden (Stadium der formalen Operationen nach (1)Piaget & Inhelder, 1972)(1), macht das »Probehandeln(1) im Denken […] das Agieren(4) entbehrlich« (14)(Blos, 1964, S. 128).

(10)(8)Mittlere Adoleszenz(19): Zunahme an Narzissmus, Aufgabe der bisexuellen(2) Einstellung, Hinwendung zum heterosexuellen(4)(13) Objekt, split parental imago. Charakteristisch für die Phase der eigentlichen oder mittleren Adoleszenz (etwa 15 bis 17 Jahre) ist die Aufgabe der bisexuellen(14) Einstellung und die Hinwendung zu heterosexuellen(5)(15) Liebesobjekten. Der Entzug von Besetzungen von den Eltern führt zu einer verstärkten Besetzung des Ichs mit narzisstischer(2) Libido, die zu einer Reihe charakteristischer narzisstischer(3) Zustände führt (wie Überschätzung des Selbst, Selbsterhöhung auf Kosten der Realitätsprüfung(1), extreme Empfindlichkeit und Selbstbezogenheit, überscharfe Wahrnehmung, zum Teil an Halluzinationen erinnernd). In gewisser Hinsicht ähnelt dieser Zustand einer beginnenden Psychose(1)(2)(Bernfeld, 1923). (11)(9)Das narzisstische(4) Stadium ist als positives Stadium im Loslösungsprozess anzusehen. Es liefert dem Jugendlichen die narzisstische(5) Gratifikation, die für die Ablösung(4) von den Eltern notwendig ist. Phantasieleben(1) und schöpferische Betätigung erreichen in diesem Entwicklungsabschnitt einen Höhepunkt; recht häufig wird ein Tagebuch geschrieben. Das Niederschreiben erlebter Vorstellungen und Emotionen verhindert zumindest teilweise das Agieren(5)(3)(Bernfeld, 1931).

(12)(10)Mit der endgültigen Bewältigung des Ödipuskomplexes(3), die bis in die Spätadoleszenz reichen kann, sind die affektiven Zustände des Trauerns(1) (Verzicht(1) auf die ödipalen Eltern) und des Verliebtseins (Fortschreiten der Libido zu neuen Objekten) verbunden. (13)(11)In der mittleren Adoleszenz(20) findet man verstärkt Abwehrprozesse(2) wie Intellektualisierung(3) und (3)Askese(3) (A.(11)Freud, 1936). Beide Abwehrmechanismen(5) sind für die westeuropäische Kultur besonders bedeutsam. (15)Blos (2015) beschreibt auch die Bewältigungsform des Uniformismus(1): die Neigung, in einer Gruppe unterzutauchen, die eine Angst bindende Funktion hat.

Die »Normallösung« der adoleszenten Entwicklung – darauf hat schon (12)Freud (1905a) hingewiesen – besteht in der Objektfindung, d. h. in einer Ablösung(5) von den primären und der Wahl von nichtinzestuösen Liebesobjekten. In dieser Phase kann man bei Jugendlichen Übergangsobjekte(1) beobachten. (14)(2)(12)Die Neigung von Jugendlichen, jedermann als entweder gut oder schlecht, entweder klug oder dumm, entweder aufregend oder langweilig, entweder aktiv oder passiv zu bezeichnen, ist nach (16)Blos (1976) in einem gespaltenen(1) Elternbild begründet (»split parental imago«).

(15)(13)Spätadoleszenz: Irreversible sexuelle(16) Einstellung, Aufschubmanöver. Die Spätadoleszenz (etwa 18 bis 20 Jahre) ist eine Phase der Konsolidierung, in der es zu einer Stabilisierung der Ich-Funktionen(1) kommt, zu einer einheitlichen Identität(8), verbunden mit einer stabilen Selbstdarstellung. In dieser Phase werden eine konstante Objektbesetzung sowie eine irreversible sexuelle(17) Einstellung (vorzugsweise verbunden mit einem genitalen Primat) erreicht. Es ist zugleich eine Phase relativer Reife, denn der Jugendliche bemüht sich um die Ausarbeitung eines einheitlichen Ichs. Wir wissen über den Weg der Persönlichkeitskonsolidierung allerdings noch recht wenig, da, wie (17)Blos (2015, S. 152) ausführt, »Integration(3) eben leiser vor sich geht als Desintegration«. (16)(14)Dass im Alter von 18 bis 20 Jahren eine Sexualwahl(18) getroffen ist, wird auch daran deutlich, dass Homosexuelle(5) sich ab diesem Zeitpunkt als permanent homosexuell(19) betrachten (18)(Blos, 2015).

(4)(17)(15)In einer weiteren Arbeit beschreibt (19)Blos (1954) die Aufschubmanöver, die Jugendliche in der prolongierten Adoleszenz(2) unternehmen. Bernfeld(4) beobachtete bereits 1923 das Phänomen, die Phase der Kindheit noch etwas auszudehnen, verbunden mit einem gewissen Widerwillen, den Entwicklungsprozess(2) zum Abschluss zu bringen. Angesichts der heutigen Verlängerung und Ausdehnung, wie sie in der neuen Entwicklungsphase des »emerging adulthood(5)« (Seiffge-Krenke, 2015a) beschrieben wird, ist das eine interessante Perspektive. Therapeutische Implikationen hat dieses Verharren erst, wenn eine bestimmte Toleranzgrenze überschritten wird und die Unfähigkeit zur Lösung der elterlichen Bindung ursächlich mit pathologischen Fixierungen zusammenhängt. Die Ausbildung einer historischen Kontinuität des Ichs ist eine besondere Leistung dieses Entwicklungsabschnittes, in dem Patienten verstehen, dass man »wohl nur eine Zukunft(1) haben [kann], wenn man auch eine Vergangenheit hat« (20)(Blos, 2015, S. 155).

(5)(18)(16)Postadoleszenz: Konsolidierung, Experimentieren, Aussöhnung mit den Eltern. Die Postadoleszenz (21 bis 25 Jahre) stellt eine Übergangsperiode zwischen Adoleszenz(21) und Erwachsenensein dar. Es kommt zu einer Konsolidierung sozialer Rollen und der Berufswahl bzw. dem Abschluss der Berufsausbildung. Die emotionale Entwicklung(2) ist allerdings keineswegs zum Abschluss gekommen. Dies sieht man an dem typischen Verhalten des postadoleszenten Experimentierens – im Bereich von Sexualität(20) mit potentiellen Liebesobjekten, zudem mit neuen Lebensformen. Im Gegensatz zur Spätadoleszenz ist wichtig, dass die Ziele schließlich in Form von dauerhaften Bindungen, Rollen oder einer dauerhaften Berufswahl umgesetzt werden können.

(6)(19)Es ist aber anzumerken, dass in diesem Entwicklungsabschnitt zugleich psychische Erkrankungen in ein manifestes Stadium eintreten und eine besorgniserregend hohe Sterblichkeitsrate (aufgrund von Unfällen und Suiziden(1)) vorliegt. (20)Ein weiterer wichtiger Aspekt der Postadoleszenz liegt in dem Bemühen, mit den Eltern auf Distanz ins Reine zu kommen. Darunter versteht (21)Blos (2015) die Aussöhnung mit den elterlichen Interessen und Haltungen bzw. mit dem gleichgeschlechtlichen Eltern-Imago. Der Übergang von der Spät- zur Postadoleszenz ist fließend; Erikson (1956)(11) umgreift sogar beide Phasen in seiner Formulierung des psychosozialen Moratoriums(3): Der Jugendliche experimentiert und ist – bei gewissen Erwachsenenvorrechten – von Erwachsenenpflichten noch entbunden, genießt also ein Stück Freiraum.

Die Altersangaben des Modells sind als grobe Orientierungsmarken zu verstehen; insbesondere die letzten Phasen haben sich gegenwärtig zeitlich sehr ausgedehnt (Seiffge-Krenke, 2015a).

Weiterentwicklungen: Selbstpsychologie(2), Objektbeziehungstheorien, intersubjektive(1) Ansätze und die Bedeutung des Körpers

(3)(7)Es ist auffällig, dass in weiteren Konzeptualisierungen und Schriften über das Jugendalter Ich-Entwicklung, Phantasien(2), Realität(2)(1), Grenzen und Bindung, also Objektbeziehungs(1)(2)- und Selbstaspekte, eine große Rolle einnehmen und praktisch gleichwertig mit den Aspekten des Körpers betrachtet werden. Die Arbeit von (1)Sandler und Sandler (1999)(1) stellt ein gutes Beispiel für die Integration(8) dieser Konzeptionen dar.

Von der Ich-Psychologie(1) zur Objektbeziehungstheorie(3) und Selbstpsychologie(4)

(5)Zwei Theoretikerinnen waren und sind besonders wichtig und als Pioniere anzusehen: Anna Freud(12) und Melanie Klein(1). Wie bereits dargestellt, beschäftigte sich Anna Freud(13) besonders mit Ich-Aspekten, und ihre Formulierungen der Abwehrmechanismen(3) sind insofern eine direkte Weiterentwicklung dieser Ich-Funktionen(2). Auch der Widerstand(1) ist eine Ich-Funktion(3). Anna Freud(14) hat viele Jugendliche behandelt und spezifische Ausführungen zur Theorie und Technik formuliert, die bis heute im Anna Freud(15) Centre vertreten werden (2)(Sandler et al., 1982; Fonagy & Target, 2000)(1)(1). Sie hat besonders die Arbeiten von Margaret (1)Mahler (1968) beeinflusst, die die komplexe Aufgabe der Ablösung(6), »separation«, beschrieben hat, bei Mahler allerdings bezogen auf die frühe Kindheit.

(6)(2) Melanie Klein(2) hat eher den interpersonalen Aspekt betont. Die sehr frühen Objektbeziehungen(2) zwischen Mutter und Baby sind Klein zufolge Beziehungen zu Teilobjekten, durch das Aufspalten in Gut und Böse als frühe Ordnungsgebung. Für sie wird die innere Welt durch Prozesse der Projektion(1) und Introjektion(1) kreiert, wobei es bei Überwiegen der guten mütterlichen Erfahrung zur Internalisierung eher guter innerer Objekte kommt (Klein, 1928). Unbewusste(3) Phantasien(2) sind für Melanie Klein(3) von großer Bedeutung, während Anna Freud(1) die Realität(2) stärker betont.

Während bei Freud(16) das Subjekt, insbesondere dessen triebhafte Anteile, und das Unbewusste(4) zentral sind, verlagert sich in den Objektbeziehungstheorien(4) der Schwerpunkt auf das Selbst und die Beziehungsebene. Das Selbst entsteht aus einem interaktiven Zusammenspiel im Raum zwischen Mutter und Kind. Auch bei den Interaktionisten(2) wird die Bezogenheit als Begegnung zwischen zwei Subjekten konzeptualisiert, die sich wechselseitig beeinflussen (1)(Bohleber, 1999). Diese wechselseitige Bezogenheit ist entscheidend und trägt zum Aufbau des Selbst eines Kindes oder Jugendlichen bei (1)(Winnicott, 1969a). Die Intersubjektivität(2) ist einer der Schlüsselbegriffe für diese theoretischen Neuerungen (2)(Bohleber, 2013).

(7)Die Überschneidungen zwischen den verschiedenen Ansätzen können auch auf die Biographie der Theoretiker zurückgeführt werden. Winnicott(2) z. B. war auf einzigartige Weise durch das England der 1940er Jahre geprägt, als die Anna Freud(17)-Melanie Klein(4)-Kontroversen(2) stattfanden. Obwohl er mit manchen Gedanken von Klein später nicht mehr einverstanden war, nahm er ihre Idee der internalisierten Objektbeziehungen(3), ihre Konzepte über präödipale(1) Teilobjekte und primitive Aggression(1) sehr ernst. (8)Die Theorien von Melanie Klein(5) führten zur Gründung einer Objektbeziehungsschule(5), zu der Theoretiker wie Donald Winnicott(3), Michael Balint(1), Ronald Fairbairn(1) und Wilfred Bion(1) gehörten. Sie stimmten Klein(6) bezüglich der frühen Spaltungsprozesse(2) zu, aber auch Anna Freuds(18) Überlegungen zur frühen Hilflosigkeit des Ichs, das nicht auf die mütterliche Unterstützung zurückgreifen konnte – eine Idee, die Winnicott(4) später durch die »Einheit zwischen Mutter und Säugling« verstärkte. Kleins(7) Konzept der unbewussten(5) Phantasien(3) war sehr einflussreich, aber auch Anna Freud(19) hatte schon auf die Bedeutung des Phantasielebens(3) hingewiesen, wenngleich sie die realen(3) Lebensbedingungen ungleich stärker beachtete als Melanie Klein(8).

Objektbeziehungs- und Bindungstheoretiker

(3)Während Triebaspekte und deren Abwehr(4) bei Anna Freud(20) im Vordergrund standen, beschäftigte sich Melanie Klein(9) stärker mit den frühen Mutter-Kind-Beziehungen(1) und konzeptualisierte diese als Teil-Objekt-Beziehungen mit einer deutlich aggressiven(1) Note. Melanie Klein (1946)(10) hat wenig über das Jugendalter geschrieben und sie hat auch nur weniges zur Jugendlichenbehandlung publiziert, u. a. die Analyse(1) der 15-jährigen Lisa, vermutlich die ihrer Tochter Melitta Schmideberg. Allerdings hat sie darauf hingewiesen, dass manche Symptome der Adoleszenz(22) die Ängste der paranoid-schizoiden oder depressiven(1) Position aus der frühen Kindheit aufgreifen. Über die depressive(2) Position von Melanie Klein(11), in der es schließlich gelingt, böse und gute Anteile der Mutter zu einem ganzen Objekt zu integrieren, schrieb (5)Winnicott (1965, S. 176):

»This is Klein(12)’s most important contribution, in my opinion, and I think it ranks with Freud(21)’s concept of Oedipus complex. The latter concerns(1) a three body relationship and Klein’s(13) depressive(3) position concerns a two body relationship, that between the infant and the mother.«

Die frühen Objektbeziehungen(4) haben zunächst einen sehr archaischen, aggressiv-verfolgenden Charakter. In der Therapie mit Jugendlichen können solche frühen Objekterfahrungen wiederauftauchen und zu einem sprachlosen(1) Agieren(6) führen (vgl. Kapitel 7). Bowlby (1980)(1) hat später in der Bindungstheorie(4) die Suche nach dem guten Objekt, einen regelrechten »Trieb nach Bindung«, postuliert. An der Tavistock Clinic werden die von Klein(14) entwickelten Konzepte der Spaltung(3), der Teil-Objekt-Beziehungen bis hin zur depressiven(4) Position in der Behandlung von Jugendlichen nach wie vor vertreten und durch Bowlbys(2) Konzept der Bindung ergänzt (1)(Bronstein, 2001).

Das Bindungskonzept ist insofern von Bedeutung, als es um die Reaktion auf Trennung(2) und Verlust(2) geht. In den theoretischen Weiterentwicklungen wurde dann die Funktion der Bindung für die Symbolisierung und Mentalisierung (Fonagy et al., 2019)(2) herausgearbeitet.

Winnicott(6), der sich zunehmend als »Unabhängiger« zwischen den Fronten(4) von Melanie Klein(15) und Anna Freud(22) empfand, fügte den Kleinschen Vorstellungen über die primitiven dyadischen Phantasien(4) die Konzepte des Übergangsraumes(1), Übergangsobjektes(2), Übergangsphänomens(1) hinzu (7)(Winnicott, 1969b), die auch auf Jugendliche anwendbar sind und in den technischen Überlegungen zu Jugendlichenbehandlungen auftauchen (vgl. Kapitel 7). Dies gilt auch für das »containing(1)« oder die »holding function(1)« – Konzepte, die darauf aufbauen und Aspekte der Triangulierung(1)(1) vorwegnehmen. Für Winnicott(8) repräsentierte Freud(23) das väterliche Prinzip(1) (Moral, Rationalität, Objektivität, Sekundärprozess) und Klein(16) das mütterliche Prinzip(1) (Emotionalität, die Welt der gespaltenen(4) und Teilobjekte, die primitiven Identifikationen und Projektionen, die im Primärprozess vorhanden sind). Er hob die Bedeutung der Symbolbildung(1) hervor, ebenso wie das akkurate »affect attunement(1)«. Therapeuten, die auf der Basis der Winnicott(9)schen Ideen arbeiten, beschäftigen sich mit der »hinreichend guten Bemutterung« (»good enough mothering«) und dem Erlernen von Takt, Timing und den angemessenen Grenzen – Dingen also, die sich an die Bindungstheorie(5) anlehnen und das prompte Wahrnehmen und angemessene Reagieren thematisieren. Für (10)Winnicott (1974 [2002]) war das Konzept der fördernden Umwelt sehr wichtig. Sein primäres therapeutisches Ziel(1) mit Jugendlichen bestand immer darin, die therapeutische Beziehung(1) dazu zu nutzen, die Deprivation in der mütterlichen Versorgung zu kompensieren.

In diesem Rahmen(3) spielt auch die projektive Identifikation(1) – ein Konzept, das als Erstes von Melanie Klein (1946)(17) eingeführt wurde – eine große Rolle. Es beschreibt die klinische Erfahrung, dass eine Person etwas von sich selbst in eine andere Person projiziert und dort kontrolliert. Meistens handelt es sich um intolerable oder schwierige, problematische Anteile. Die projektive Identifikation(2) enthält einen Aspekt der Projektion(2), der »containt(2)« (2)(Bion, 1967a) und nach und nach in der Therapie modifiziert(1) werden sollte (vgl. Kapitel 7).

Selbstpsychologie(9): Identität(9) und Narzissmus(6)

(10)(10)Obgleich auch die Selbstpsychologen (1)Kernberg (1978) und Kohut (1979a)(1) keine genuin jugendpsychologischen Arbeiten verfasst und keine Jugendlichen behandelt haben, werden ihre Theorien von Jugendlichen-Therapeuten stark rezipiert. Dies hängt möglicherweise mit den narzisstischen(7) Phänomenen als Durchgangsstadium in der Adoleszenz(23) zusammen, die schon Blos(22) in seinen frühen Arbeiten als »aggrandiertes Selbst(1)« beschrieben hat. Kohut (1979b)(2) hatte an erwachsenen narzisstischen(8) Patienten, die einen Mangel an Selbstkohäsion zeigen, schwere Defizite des Selbstwertgefühls(1)(1) beobachtet. Beide Narzissmustheoretiker haben unterschiedliche Behandlungskonzepte entwickelt.

(11)(11)Winnicott(11) ist, wie dargestellt, einerseits als Objektbeziehungstheoretiker,(6) andererseits als Selbstpsychologe(12) einzuordnen, was kein Widerspruch ist, denn für ihn entsteht das Selbst aus Beziehungen. Ähnlich wie Anna Freud(24) spekulierte Winnicott (1969a)(12) darüber, dass die Störungen des Jugendlichen oft sehr schwer von normalen Entwicklungen zu unterscheiden seien. Er weist auf die narzisstischen(9) Borderlinezüge(1), die jugendliche Patienten haben, und die unbewusste(1)(6) Destruktivität hin, was seine Herkunft aus der kleinianischen(1)(18) Richtung anzeigt. Sehr zentral ist Winnicotts (1969a)(13) Hypothese, dass Jugendliche letztlich unbewusst(7) an der Beseitigung ihrer Eltern arbeiten:

»Growing up means taking the parents place. It really does. In the unconscious fantasy growing up is inherently an aggressive act and a child is no longer child-size« (Winnicott, 1971,(14) S. 169).

(13)(12)Von ihm stammt auch der Begriff »das falsche Selbst(1)«. In der Selbstpsychologie nimmt das Selbst seit Kohuts(3) Ausführungen einen großen Raum ein, sind die Selbstwirksamkeit(1), d. h. die Fähigkeit, die eigene (innere) Welt zu beeinflussen, und die spiegelnden(1) Erfahrungen wichtiger Anderer bedeutsam (1)(Milch, 2019). Im Zusammenhang mit der eigenen Identitätsentwicklung(5)(13), aber auch der Beziehungsentwicklung ist »the capacity to be alone« (15)(Winnicott, 1965) zentral und wird in der Arbeit mit Jugendlichen thematisiert (1)(Erlich,1998)(2).

(14)(14)Andere Autoren wie Palombo (1990)(1) beschäftigen sich mit Kohuts(4) Begriffen des »cohesive self« und des »nuclear self«.(15)(9)(15) Palombo berichtet, dass bei vielen Jugendlichen, die er in Langzeittherapie(1) hatte, im Alter von ungefähr 17 Jahren erstaunliche Veränderungen auftraten. So nahm der Widerstand(2) gegen den therapeutischen Prozess ab, die Jugendlichen waren weniger konfrontativ, auch gegenüber ihren Eltern, zeigten ein größeres Gefühl von Verantwortlichkeit für ihre eigenen Handlungen und deren Konsequenzen und waren in der Planung ihrer Zukunft aktiver(2). Diese Veränderungen scheinen Palombo zum einen durch den therapeutischen Prozess bedingt, zum anderen aber auch ein Ergebnis der Stabilisierung des Gefühls des Selbst (»sense of cohesive self«) zu sein. Die Jugendlichen hatten offensichtlich im Vergleich zu den aufregenden früheren Jahren eine neue innere Balance erreicht.

»Developmental breakdown« und zentrale Onaniephantasie(1)

Die Arbeiten von Moses(2) und Eglé Laufer (1984)(1) kombinieren Freuds(25) Konzentration auf die Sexualität (3) mit Anna Freuds(26) Konzept der Abwehr und ihrer eigenen Idee eines Entwicklungszusammenbruchs, speziell bezogen auf die sexuelle(21) Identität(1). Die Laufers(2)(3) haben sowohl in privater Praxis als auch in einer »Outpatient«-Klinik mit schwer gestörten suizidalen(2) Jugendlichen psychodynamisch gearbeitet.

Von besonderer Bedeutung ist die so genannte zentrale Onaniephantasie(2), die die Auflösung des Ödipuskomplexes(4) enthält: Es handelt sich um eine komplexe Phantasie(5), in der die verschiedenen regressiven(1) Befriedigungen und die sexuelle(22) Identifikation(2) beinhaltet sind. Onanie(1) und Onaniephantasien(3) werden als Äquivalent eines Probehandelns(2) (Laufer, 1980)(4) angesehen. Die ödipalen Phantasien(1) der Jugendlichen werden, wenn auch in maskierter Form, zum Bewusstsein zugelassen. Nach Laufers Dafürhalten ist die zentrale Onaniephantasie(4) ein universelles Phänomen, das unabhängig davon auftritt, ob der Jugendliche masturbiert(2) oder nicht.

Die Geschlechtsreife bedeutet eine große Belastung der Abwehrorganisation(4)(6)(5). Einige Jugendliche nehmen die Veränderung ihres Körpers als eine Katastrophe für ihre innere Welt wahr und reagieren mit einem psychotischen(2) Zusammenbruch, andere fühlen sich von ihrem Körper als einem schlechten Objekt verfolgt und angegriffen bzw. ignorieren ihn (1)(Sidoli & Bovensiepen, 1995)(1). Der Körper, der in nicht-symbolischer Weise mit dem Körper der Mutter gleichgesetzt wird, wird abgelehnt, ignoriert, als bedrohlich erlebt. Dies kann verstehen helfen, warum Jugendliche ihren Körper regelrecht attackieren, etwa bei Anorexia(1) nervosa, bei selbstverletzendem Verhalten(1) und bei Suizidalität(3) (vgl. Kapitel 5).

Die psychodynamische(15) Objektbeziehungstheorie(7) hat weitere Konzepte vorgestellt, nach denen der Umgang mit dem Körper u. a. als Umgang mit verinnerlichten Objekten oder als Urphantasie des Verschmolzenseins verstanden wird. Eine wichtige Rolle bei dem Prozess der Individuation kommt dem Vater im Rahmen(4) der Triangulierung(2)(2)(Rotmann, 1978)(1) zu, der die enge Mutter-Kind-Symbiose(2) aufbricht. Fällt der Vater in dieser Funktion aus und ist die Mutter nicht in der Lage, abwechselnd bei ihrem Kind die Wünsche nach Verschmelzung(1)(1), nach Differenzierung und Individuation wahrzunehmen und zu beantworten, läuft sie Gefahr, das Kind Bedingungen auszusetzen, die zur Psychose(3) oder Psychosomatose(1) führen können. Da die Adoleszenz(24) nach Blos (2015)(23) die Phase der 2. Individuation ist, kommt der Triangulierung(3)(3) mit dem Vater nun eine verstärkte Bedeutung zu.

Die psychodynamischen(16) Akzentsetzungen in den letzten Jahren

In den letzten Jahren sind die klassischen Ansätze reflektiert und Ideen der Objektbeziehungstheoretiker(8), der Intersubjektivisten(3), Bindungstheoretiker(6) und (16)Selbstpsychologen integriert worden. Auffällig ist jedoch, dass mit wenigen Ausnahmen keine wirklichen konzeptuellen Neuentwicklungen für das Jugendalter vorgenommen worden sind. Es sind gegenwärtig eher Akzentsetzungen zu verzeichnen, bei denen offenkundig verstärkt empirische Ergebnisse aus der Entwicklungspsychologie(11) und der Neurobiologie(3) rezipiert wurden.

Von der Orthodoxie zur Pluralität

Lässt man die Konzeptionen des letzten Jahrhunderts von ihrem Beginn in der frühen Psychoanalyse, die stark trieborientiert war, über eine lange Periode der Gegenbewegung, die ihren Fokus(1) stattdessen auf das Selbst, die Interaktion(3), die Objektbeziehungen legte, bis heute passieren, so ist bemerkenswert, dass es praktisch keine neuen eigenständigen Konzeptionen über die Adoleszenz(25) gibt. Mit wenigen Ausnahmen, dazu gehören etwa Winnicott(16), Blos(24) und Laufer(5), gibt es keine wirklichen konzeptuellen Neuentwicklungen; und die gerade genannten Autoren haben in den 1950er bis 1980er Jahren publiziert.

Neuere Übersichten über die psychodynamische(17) Entwicklungspsychologie, etwa die in dem von Annette Streeck-Fischer (2018)(2) herausgegebenen Reader, enden in der Baby- und Kleinkindzeit. Ich hatte schon erwähnt, dass die Konzeptionen der Selbstpsychologie, der Objektbeziehungstheoretiker, die sich auf die frühe Interaktion zwischen Mutter und Baby beziehen, für die Adoleszenz(26) übernommen wurden. Ob das dem Entwicklungsstand vieler jugendlichen Patienten und deren Eltern-Beziehung überhaupt angemessen ist, wurde nie kritisch hinterfragt. Meiner Ansicht nach ist eine solche Generalisierung vor allem für Patienten angemessen, bei denen es zu einer massiven Wiederbelebung früher archaischer Ängste und Beziehungsmuster kommt, bei denen Sprachlosigkeit(2) und Agieren(7), aber auch überwältigende negative Emotionen vorherrschen. Hier sind besondere therapeutische Ansätze vonnöten, wie sie teilweise in Kapitel 7, vor allem aber in Kapitel 10 geschildert werden.

Es gibt also keine konzeptuellen Neuschöpfungen, sondern eher einen Transfer von Konzepten aus der Baby- und Kleinkindzeit in die Adoleszenz(27); dabei ist, wie erwähnt, die Intersubjektivität(4) einer der Schlüsselbegriffe (Bohleber, 2013)(3). Generell hat offenkundig eine Wendung von der Orthodoxie zur Pluralität stattgefunden (Bohleber, 2019)(4), in der weniger die Loyalität zu den frühen Konzepten Freuds, sondern eher die Komplexität und der Facettenreichtum der psychodynamischen(18) Konzepte mit Fokus auf Beziehungen betont wird. Die folgenden Ausführungen beschreiben also eher ein Gewichten, Akzentsetzen.

Festhalten am Krisenbegriff

Bürgin (2002)(1) stellt die Adoleszenz(28) als zwangsläufig krisenhaft dar. Auch andere Autoren halten weiterhin am Krisenbegriff fest. Waddell (2002)(1) schreibt in diesem Kontext mit Emphase von »terror of maturation, individuality, change and unspeakable sexuality« (S. 380). Ein Festhalten am Krisenbegriff gilt auch heute weithin für viele Therapeuten. Streeck-Fischer (2006)(3) macht auf einen entscheidenden Unterschied aufmerksam: Für sie gilt die »Adoleszenzkrise(1)« vor allem für traumatisierte(2) Patienten, die die normalen Anforderungen der Adoleszenz, die »normative Krise(1)« nach Erikson(12), nicht bewältigen können. Ihre Abgrenzung eines normalen Verlaufs (z. B. gelegentlicher Alkohol- und Drogenkonsum, sexuelle Experimente, Unzufriedenheit, Langeweile, provokantes Verhalten gegenüber Eltern/Erwachsenen) von einem krisenhaften Verlauf (Missbrauch von Drogen und Alkohol, promiskuöse sexuelle Beziehungen oder vollständiger Rückzug, Schulverweigerung(1), von Angst oder Aggression(1) überwältigt werden, Hasstiraden auf Eltern/Erwachsene) erscheint mir als sehr sinnvoll.

Schwierigkeiten, zwischen »normal« und »pathologisch« zu unterscheiden

Bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Krankheitsbildern (vgl. Kapitel 5) werden wir darauf stoßen, dass viele psychodynamische(19) Autoren die Schwierigkeiten bei der Einschätzung der Psychopathologie(3) hervorheben. Dazu zählen etwa kurzzeitige Symptombildungen (wie Schnittsymptome(2), Essstörungen(1), Körperagieren(1)), die teilweise durch mediale Ereignisse ausgelöst(1) oder durch die Wirkung der sozialen Medien im Freundeskreis bedingt sind. Auch normale Jugendliche können durch die für dieses Entwicklungsalter typische starke Tendenz zu Projektion(3), Verleugnung(3), Grandiosität und extremer Selbstbeschäftigung beinahe psychotisch(4) anmuten. Vor allem ihre Neigung zum heftigen Körperagieren(2) kann beunruhigen: Waddell (2002,(2) S. 367) schreibt, dass dies bei Psychotherapeuten elternähnliche Ängste (»parental-type anxieties«) hervorrufen kann. Schleske(1), Meng(1) und Bürgin(2) (Schleske et al., 2002) heben hervor, dass solche psychotisch(5) anmutenden Symptome einen anderen diagnostischen(2) und prognostischen Wert haben können als bei Erwachsenen. Wir werden in Kapitel 3 und 5 darauf stoßen, dass einige adoleszente Symptome eine hohe, andere eine relativ geringe Stabilität haben. Bei der Beurteilung der Jugendlichen muss deshalb der ganze Entwicklungsprozess(3) betrachtet und darf nicht lediglich auf Symptome fokussiert werden. Auch (1)Bloch (1995) betont die Wichtigkeit, herauszufinden, ob etwa die Abwehrmechanismen(5)(7) eine adaptive Funktion haben, ob sie altersangemessen sind und ob insgesamt die Entwicklung voranschreitet.

Intersubjektivität(5) und »Parental sponsorship«

Die Intersubjektivität(6) steht zwar im Zentrum der theoretischen Neuerungen in der Psychoanalyse (5)(Bohleber, 2013), dies gilt jedoch kaum für Konzepte zum Jugendalter. Die Sicht der Interaktionspartner wurde konzeptionell nicht einbezogen. Der Blick bleibt weiterhin lediglich darauf gerichtet, inwiefern Eltern den Entwicklungsraum bereitstellen. Schon Blos (1985)(25) hat darauf hingewiesen, dass für die adoleszente Entwicklung die Unterstützung der Eltern (»parental sponsorship«) dringend notwendig ist, so sei es bei der Ich-Idealbildung(3) wichtig, dass der Vater »give his blessing to his son’s emerging(6) manhood«. Mentorenartige Beziehungen werden bis ins mittlere Erwachsenenalter gesucht (Seiffge-Krenke, 2012b), vor allem in Zeiten erschwerter Identitätsentwicklung(6). (2)Bloch (1995, S. 78) verdeutlicht dies anhand der Autobiographie des amerikanischen Schriftstellers Sherwood Anderson (1876 – 1941)(1), in der dieser (2)seinen Vater als lächerlich und peinlich im öffentlichen Auftreten beschreibt und berichtet, dass er sich als Kind oft für ihn geschämt hat.

»Ich war oft mit Bitterkeit erfüllt und wünschte manchmal, dass er nicht mein Vater wäre. Ich habe sogar einen anderen Mann als meinen Vater erfunden. Um meine Mutter zu schützen, erfand ich Geschichten von einer heimlichen Heirat mit einem starken, fremden Mann.«

Anderson(3) entwickelte einen Familienroman(1), weil sein Vater ihm niemals Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Er wertete seinen Vater ab, aber er suchte auch eine Art von »sponsorship« bei ihm. Intersubjektiv(7) bedeutsam ist, dass es die deutlich spürbare depressive Stimmung des Vaters war, und sein Beziehungsangebot, was dann zu einer neuen, einer veränderten Beziehung zwischen beiden führte.

Große Bedeutung von Triangulierungsprozessen

Triangulierungsprozesse(4) sind in der therapeutischen Beziehung mit jugendlichen Patienten heute bedeutsamer als früher (vgl. Kapitel 7 und 8). (3)Eine gelungene Triangulierung(5)(4) umfasst die Fähigkeit, gleichzeitig eine Beziehung zu Mutter und Vater zu haben und zu akzeptieren, dass beide Eltern parallel auch eine Beziehung zueinander haben. Diese Beziehungsform muss dann verinnerlicht werden. Meng(2), Schleske(2) und Bürgin(3) (Meng et al., 2002a) betonen, dass die Triangulierung(6)(5) auf der gelungenen Individuation-Separation(1)(1)(Mahler, 1968)(2) im Verlauf der früheren, präödipalen(2) Entwicklung aufbaut. Nach (3)Fonagy und Target (1996)(2) schließt eine gelungene Triangulierung(7)(6) die Fähigkeit ein, dem Dritten eine Innenwelt, die von dem Selbst unabhängig ist, zuzubilligen.

(1)In der Adoleszenz(29) gewinnen trianguläre(7) Phänomene(1) erneut an Aktualität, da eine neue Lösung erarbeitet werden muss (2)(Grieser, 2004). Wenn das Kind eine trianguläre, ödipale Beziehung nicht ausreichend verinnerlicht hat, kommt es im Jugendalter bei dieser Umgestaltung leicht zu Störungen bzw. im ungünstigen Fall zum Entwicklungszusammenbruch (Schleske et al., 2002)(3). Die triadische(8) Fähigkeit ermöglicht es dagegen, Hilfe eines Dritten zuzulassen, der einer übermäßigen regressiven(2) Annäherung an ein ödipales Objekt entgegenwirkt. Dies erscheint heute, in einer Zeit mit geringer Generationendifferenzierung(2) (vgl. Kapitel 3), als wichtiger denn je.

Ist der Ödipuskomplex(5) noch zeitgemäß?

Nachdem der Ödipuskomplex(6) bei Freud dominante Konzeption war, galt er lange Zeit als obsolet, frühe Bindungen zwischen Kind und Eltern wurden wichtiger. In letzter Zeit wurde, auch im Zuge der Zunahme der Zahl von Patienten mit Transgender(2)-Geschichte und der Eintragung eines dritten Geschlechts im Personenstandsregister, darüber reflektiert, ob das binäre System und damit auch der Ödipuskomplex(7) noch zeitgemäß ist (1)(Quindeau, 2017). Freud (1905a)(13) verweist in den »Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie« auf die unvermeidliche ödipale(4) Krise, die er auf das 3.– 5. Lebensjahr legt. Für Freud(14) diente der ödipale Konflikt(3) zwei bedeutsamen Aufgaben: zum einen dem Ermöglichen einer Geschlechtsidentität(1) und zum anderen der Einhaltung der Generationsgrenzen(3). Jungen wie Mädchen erleben die Unrealisierbarkeit ihrer ödipalen Wünsche. Wie geschildert, wird die Adoleszenz(30) aus der Sicht bedeutender Theoretiker als eine Neuauflage (und endgültige Lösung) des Ödipuskomplexes(8) angesehen.

Die Lösung des ödipalen Konfliktes(4), der ödipale Verzicht(2), ist auch heute noch von großer Bedeutung, ja ihre Bedeutung hat meiner Beobachtung nach sogar zugenommen und erfordert therapeutische Interventionen (vgl. Kapitel 7). Triadische(9) Kompetenzen von Kind und Eltern, die in normalen Familien schon früh ausgebildet sind, sind die Voraussetzung für diese Lösung. Dennoch muss das Kind lernen, dass es aus der Beziehung der Eltern ausgeschlossen ist (Seiffge-Krenke, 2017a). Im klinischen Kontext haben wir viele alleinerziehende Eltern oder Eltern, bei denen die Paarbeziehung brüchig und konfliktbeladen ist, so dass Kinder oftmals eine unangemessen starke Funktion als Partnerersatz oder als Bollwerk gegen den Partner bzw. als Selbstobjekt(1) eines Elternteils bekommen. Das Vorhandensein einer inneren, triadisch strukturierten Objektwelt und damit vorhandener flexibler, triadischer Innenräume ist nicht gegeben. Die Konstellationen, auf die wir im klinischen Alltag bei Jugendlichen häufig treffen, sind daher in der Regel solche, bei denen eine reife Triangulierung(8)(10) nicht geglückt ist und lediglich dyadische Beziehungen vorliegen.

Vom Ödipuskomplex(9) zur emanzipatorischen Schuld

Bloch (1995)(1)(1)(3) reflektiert, welche Folgen die Autonomieentwicklung(1) von Jugendlichen auf die Beziehung zu ihren Eltern hat. Sie empfinden Schuld wegen ihres Bedürfnisses nach Ablösung. Diese »emancipatory guilt«(2) hält er für sehr wichtig; so ist es z. B. charakteristisch, dass Jugendliche ihre Eltern in den Leistungen übertreffen wollen, aber dass sie das nicht auf Kosten der Eltern tun möchten. Aus heutiger Sicht ist die emanzipatorische Schuld(3) eher noch häufiger zum Thema in der Therapie geworden, insbesondere bei ausländischen Patienten aus einem anderen Kulturkreis, wo Individuation weniger wichtig ist als Verbundenheit mit der erweiterten Familie.

Bloch (1995)(4)(4) weist auch auf die große Bedeutung von defensiven Identifikationen in der Adoleszenz(31) hin. Identifikationen sind im Grunde Zeichen einer progressiven Entwicklung. Eine defensive Identifikation(3) ist die mit den schwachen Eltern. (2)Die Adoleszenten vermitteln das Gefühl: »Ich bin nicht stärker als meine Eltern, sondern ich bin schwach oder sogar schwächer als meine Eltern«. Entsprechend treten im Zuge der Autonomiewerdung(1) »separation guilt« oder »emancipatory guilt«(5) (Bloch, 1995) auf. (5)Während von Freud(15) die ödipale Schuld(1) als für die Adoleszenz typisch angesehen wurde, lässt Blochs Arbeit mit Jugendlichen den Schluss zu, dass manches, was als ödipale Schuld(2) interpretiert(1) wird, eigentlich Emanzipationsschuld (6)ist.

Beachtung der Beziehung zwischen Phantasie(6) und Realität(4), zwischen »being« und »doing«

Die Beziehung zwischen Phantasie(1) und Realität(5) findet konzeptionell und in Therapien mehr Beachtung. Erlich (1993)(3) unterstreicht, dass Grenzziehung für die Realitätstestung wichtig ist: Das Ich muss zwischen internal und external unterscheiden lernen. Es werden Tagträume(1) entwickelt, weil die Realität den eigenen Bedürfnissen nicht gerecht wird. Er unterscheidet des Weiteren zwischen Tun und Sein im Sinne von Donald W. Winnicott (1971)(17). In der Adoleszenz(32) müssen »being« und »doing« integriert werden. Im Jugendalter sind die Grenzen zwischen psychischer und äußerer Realität fließend. »Acting out(1)« wird nicht nur als Regression(3) angesehen, sondern auch als Möglichkeit der Etablierung einer psychischen Realität.

(6)Freud(16) hatte darauf hingewiesen, dass die präpubertären Wünsche und Phantasien(7) gefahrlos annehmbar waren, aber von der Pubertät(4) an die gleichen Wünsche und Phantasien mit einer neuen Bedeutung befrachtet sind. Der Körper ist jetzt in der Lage, sexuelle(23) und aggressive Phantasien direkt umzusetzen und wirklich zu schwängern oder zu töten (Bürgin, 2002)(4). In der Adoleszenz(33) bekommen Omnipotenzen(1) daher eine neue Bedeutung. Möglichkeit und Wirklichkeit, Wunsch und Realität(7) müssen nun schärfer auseinandergehalten werden (1)(Eiguer, 1996). Besonders in Bezug auf schwer gestörte Jugendliche hat (4)Streeck-Fischer (2006) betont, dass die Grenzen zwischen Phantasie(2) und Realität(8) beachtet werden müssen, dass Rettungsphantasien(1)