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Rolf Hochhuth

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Beschreibung

Ein blutiger Familienkrieg ... ... wie er keiner Generation und nur selten den Familien erspart bleibt, auch heute nicht, die dank ihrer Macht, das heißt: riesiger Vermögen, obenauf sind. Diese tödlichen Konflikte werden meist ausgelöst wegen der Erbfolge: Kinder aus zweiten Ehen alter Männer, deren noch junge Mütter ihren Söhnen oder Töchtern früher die Weltreiche, heute die Konzerne zuschieben, stets auf Kosten der älteren Halbgeschwister. So hier im alten Rom Livia, dritte Frau des Augustus, ihrem Sohn Tiberius - was ihr nur glückte, weil sie die von den Römern abgöttisch geliebte Julia samt den vier Enkeln des Augustus beseitigte: Verbrechen über Verbrechen, aus dem Schlafzimmer verübt. So gelangte Livia an ihr einziges Ziel: ihren Sohn zum Nachfolger des Kaisers und Alleinerben, des Imperiums zu machen. Sie ging im Wortsinn über Leichen. «Die zwei Lieblingsthemen, die zwei Obsessionen Hochhuths: die Historie und die Frauen.» Frankfurter Allgemeine Zeitung: Harald Hartung

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Seitenzahl: 326

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Rolf Hochhuth

Julia oder Der Weg zur Macht

Erzählung

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

FrontispizMottiFamilienkriegeEin Kaiser überlebt vier Kronprinzen; als er stirbt, wird der fünfte enthauptetDie verfälschende ZeitReisezeit – LesezeitMommsen und andere Machos«Unsittlichkeit» – Vorwand: Verwandte lebenslänglich zu verbannenAurora Dreckliese und Adelheid Mommsen«Freigeist» Nietzsche: Mundwerk der KonventionWie «golden» war das Augusteische Zeitalter?Ovid, der zuviel wußte …«Julia oder Der Weg zur Macht»Tiberius vernichtet die Witwe des Germanicus, ihre Söhne und Freunde«Große» überwältigen noch ihre Chronisten: der Löwe-EffektProjektionen: Werturteile entnimmt jeder seiner ZeitEine Biographin sieht tiefer als BiographenGolo Mann rehabilitiert Tacitus und dessen FrauenbildnisseDie Rächerinnen Livia und AgrippinaEheliche Infiltration als Weg zur MachtWie alles anfing: Cäsars Testament wird gefälschtNachwortBiographische Angaben
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«Sobald die Frauen anfangen, uns Männern gleichgestellt zu werden, sind sie uns auch schon überlegen.»

CATO DER ÄLTERE, 195 V. CHR.

«Zur gleichen Zeit fand Julia den Tod, die Enkelin des Augustus, die dieser als des Ehebruchs überführt, verurteilt und auf der Insel Trimerus, nicht weit von der apulischen Küste, verbannt hatte. Dort hielt sie zwanzig Jahre in der Verbannung aus, auf die Unterstützung durch Livia angewiesen, die ihre Stiefkinder zuerst durch geheime Machenschaften aus dem Glück ins Verderben stürzte, dann aber ihr Mitleid mit den Unglücklichen offen zur Schau zu stellen pflegte.»

TACITUS, ETWA 110–120 N. CHR.

«Ich bedaure stets, daß unserer besseren Hälfte des menschlichen Geschlechts nicht mehr Einfluß auf die politischen Verhältnisse gestattet ist.»

OTTO VON BISMARCK, 1895

«Um die Frauen zu kennen, muß man sie als Schwiegermütter erlebt haben.»

OTTO FLAKE, 1960

«Schon in Sallusts ‹Catilina› spielten römische Damen gesellschaftliche, politische Schlüsselrollen; weitere Fortschritte noch geschahen unter den Claudiern … Mit im Zentrum stehen jederzeit die Frauen, Geliebten, Witwen, Mütter der Cäsaren; Archetypen insgesamt. Livia, die ewige Stiefmutter, den Blick auf ihren großen Hätschelhans, den Tiberius, gerichtet, ohne Liebe und Gnade für ihre Stiefkinder, die wahren Julier; nach des Sohnes Machtergreifung diskret aus dem Hintergrunde wirkend, majestätisch-sittenstreng zugleich und erzpolitisch und von unergründlicher Tücke.»

GOLO MANN, 1976

«Die vollkommene Niedertracht kommt nur vor, wo eine Frau gegen eine Frau agiert.»

MARTIN WALSER, 1993

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Familienkriege

Fast immer betrügen alte Männer, wenn sie spät junge Frauen geheiratet haben, ihre Kinder aus früheren Ehen ums Erbe; oft auch noch deren Mütter. Ausnahmen bestätigen nur – so selten sind sie – die Regel. Je größer das Erbe – je häufiger der Betrug. Daß zahllose Töchter und Söhne der Inhaber bedeutender Firmen später Vater oder Stiefgeschwister verklagen müssen, beweist, daß unter der Sonne nichts Neues geschieht. Denn so alt wie die Bibel und wie jedes andere Geschichtsbuch ist diese Erfahrung: Ging es vor Zeiten um die Vererbung ganzer Königreiche, so heute um bürgerliche Vermögen – ob das nun Fabriken sind oder Bauerngärten oder nur Bilder und Möbel. Auch übergehen oft sogar jene Väter ihre Kinder, die später mit Frauen verheiratet sind, die ihnen keinen Erben geboren haben. So Kaiser Augustus. Livia, von der wir hier erzählen werden, hat als seine dritte Frau kein Kind geboren, jedoch alle seine Nachkommen entrechtet, um ihren, nicht von Augustus, sondern aus ihrer ersten Ehe stammenden Sohn Tiberius auf den Thron zu bringen. Und Augustus sah dem zu … ja, half ihr dabei!

Vermutlich ist die tiefste Ursache der Unmoral des Alten eine erotische. Kam die oft viel jüngere Partnerin bei ihrem alten Mann im Bett nicht mehr auf ihre Kosten – um so mehr dann bei seinen Konten. Und selbst dort, wo die Frau an Sexualität nicht mehr interessiert ist, was oft ihr Mann verschuldet, nimmt das ihm nicht das Gefühl, ihr zu wenig geboten zu haben. Entschlossene Frauen beugen vor, wenn Gefahr besteht, daß ihre Kinder zugunsten jüngerer Halbgeschwister entrechtet werden: So hat Olympias, die Mutter Alexanders des Großen, ihre Nachfolgerin und deren Sohn ermordet. Ja, vermutlich hat sie sogar auch schon den Mörder zu König Philipp gesandt, der sie wegen dieser sehr viel Jüngeren sitzengelassen hatte.

Gemordet wird heute nicht mehr oder nur spurlos. Heute wird enterbt, indem man – weil Enterben ungesetzlich ist und anfechtbar – wertvolle Konzerne so beizeiten verkauft, daß man den Erlös der zweiten oder dritten Partnerin ausliefern kann oder auch deren Kindern, was mit Bargeld, Gold und Aktien viel unauffälliger zu handhaben ist als mit Boden und Bauten. Stirbt dann der Alte, finden Kinder und Frauen aus früheren Verbindungen meist nur noch einen Korb Äpfel anstelle des Obstgartens vor, der ihnen zugestanden hätte … So häufig das ist und so gleich im Endergebnis, so unterschiedlich sind die Wege und Umwege, dieses Unrecht zu praktizieren. Freilich darf darüber nicht vergessen werden, wie oft auch – umgekehrt – eine frühere Gattin und ihre Kinder eine späte, letzte Geliebte oder Ehefrau ihres von ihnen geschiedenen Mannes oder ihres Vaters ruchlos entrechten! So daß dann vielleicht jene Partnerin, die zuletzt vorwiegend nur noch die Pflegerin eines Alten an seinem jahrelangen Krankenlager war, nichts mehr erbt, sondern einem unversorgten Alter schon deshalb entgegenbangen muß, weil sie während ihrer späten Jahre nicht mehr berufstätig war, sondern erst die Freundin, dann aber die Diakonisse eines von seiner Familie verlassenen Mannes, um den sich seine Kinder nicht mehr kümmerten, weil sie sein Erbe schon an sich gerissen hatten …

Wir erzählen, wie entsetzlich einer schuldlos geschiedenen Frau und ihrer Tochter und deren fünf Kindern mitgespielt wurde von ihrer Nachfolgerin, die sogar zur Schwiegermutter der Tochter dieser «ausgeschiedenen» Vorgängerin geworden war und so auch zur Stiefgroßmutter der fünf Enkel.

Daß Livia – so hieß diese mörderische Erbschleicherin, die sechsundachtzig wurde – vor zweitausend Jahren als dritte Ehefrau ihres Mannes seine Erben aus zweiter Ehe, die mit ihr nicht blutsverwandt waren, ums Recht brachte, sogar ums Leben, manche auch «nur» – lebenslänglich – um ihre Freiheit, das nimmt dieser Erzählung nichts von ihrem Heutewert. Denn die Natur des Menschen bleibt! Und ist stärker als seine gesellschaftlichen, an die Zeit gebundenen und mit den Zeiten stromab gehenden Sitten und Einrichtungen. Der Trieb, sich anzueignen, was anderen gehört – ist jetzt nicht schwächer ausgeprägt als damals. Und nicht nur lernt man Ehepartner und sogar eigene Kinder bekanntlich erst während der Scheidung kennen und Geschwister erst beim Erben, sondern Menschen überhaupt erst im Krieg. Krieg ist aber immer – auch wenn kein Schuß fällt, sondern zum Beispiel geheiratet wird. Krieg zwar nicht ausschließlich. Und nicht stets obenauf, aber dann doch mindestens unten im Gefühlshaushalt. Ob nun – harmlose, zeitlose Vorfälle – nur ein sehr geliebter Sohn sich endgültig vom sehr geliebten Vater abnabelt oder eine Tochter ihrer Mutter aus dem Wege geht: Krieg als die Kehrseite der Harmonie lehrt sie uns als solche erst schätzen.

Niemand hat Lust – daher das auch niemand kann –, sich die Namen von Verwandten zu merken, die nicht die seinen sind. Wir stellen deshalb nur jene Gestalten aus den zwei sich einander zerfleischenden Familien, den Juliern und den Claudiern, vor, die man kennen muß, will man erfahren, was in den achtundfünfzig Jahren von 23 v. Chr. bis 36 n. Chr. im Hause des ersten und des zweiten römischen Kaisers, des Augustus und seines Stiefsohnes und Nachfolgers Tiberius, passiert ist; übrigens zur andauernden Mahnung, Monarchien nicht nachzutrauern.

 

Denn wenn auch die Ermordung amerikanischer Präsidenten viel häufiger zum Wechsel im Weißen Haus geführt hat, als Morde an Zaren in Petersburg den Regierungswechsel ausgelöst haben, so ist in der Demokratie doch stets nur einer «Kronprinz», also Vizepräsident. Nur einer kann fest damit rechnen, Nachfolger des Ermordeten zu werden. Während in Dynastien, fällt der Erbprinz aus, zahllose Familienmitglieder von Geburt eine Anwartschaft auf den Thron haben. Da außerdem der Monarch nicht wie der Präsident nur wenige Jahre seinen Nachfolgern im Wege ist, sondern solange er lebt: ist natürlich auch die Neigung derer, die nach der Krone greifen, ihm die Lebenszeit abzukürzen, viel ausgeprägter. Auch hassen Verwandte, sobald Rangfragen da sind, viel leidenschaftlicher einander, als Fremde einander verabscheuen … Andererseits haben konstitutionelle Monarchien einen sehr bedeutenden Vorteil für das Volk: Könige, die nicht vom Parlament gewählt werden und nicht nur wie Präsidenten zehn Jahre regieren dürfen, sind von den Parteien unabhängiger – während ein Präsident, will er gewählt werden, durchaus den Parteien nach dem Munde reden muß, sogar noch während seiner ersten Amtsperiode, weil er eine zweite sonst gar nicht erreicht. Es ist aber immer von Vorteil für jeden Staat, wenn zwischen seinem Volk und jenen, die es beherrschen, also den Parlamentariern, aus denen auch die Regierung sich zusammensetzt, noch eine dritte Institution existiert, die in ihrer Dauer vom Parlament nicht beschnitten werden kann. Allein sie kann folglich riskieren, zugunsten des mundtoten Volkes, gegen dessen Beherrscher: Regierung und Parlament – noch eine andere, eine oppositionelle Meinung öffentlich geltend zu machen. Ob ein Monarch nur eine schwache Persönlichkeit ist, hängt nicht vom Regierungschef ab, der es aber durchaus in der Hand hat, aus einem Schwächling – dann wird er von ihm in Ruhe gelassen – einen Präsidenten zu machen … Demokratie ist nur, wo – wie in der Schweiz – das Volk auch in Einzelfragen das Referendum erzwingen kann. In Deutschland, wo Volksabstimmungen überhaupt nicht erlaubt sind, ist schon deshalb keine Demokratie, sondern Parteienherrschaft …

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Ein Kaiser überlebt vier Kronprinzen; als er stirbt, wird der fünfte enthauptet

Kaiser Augustus hat noch im gleichen Jahr, in dem seine zweite Frau ihm das einzige Kind zur Welt brachte, Julia, das er aus drei Ehen gehabt hat, diese vorbildliche Mutter seiner Tochter verstoßen, um wenige Wochen später Livia zu heiraten, die im sechsten Monat schwanger war – ob bereits von Augustus, ob noch von ihrem ersten Ehemann, weiß keiner. Dem hatte sie jedenfalls ihren ersten Sohn: Tiberius – geboren. Ihn zum Nachfolger des Augustus zu machen, durch Beseitigung Julias und der fünf Kaiser-Enkel: war denn auch ein halbes Jahrhundert lang das Bestreben dieser Livia. Und führte zum Ziel. Tiberius wurde 14 n. Chr. Kaiser und brachte im selben Jahr die Augustus-Tochter Julia um, die sogar einmal mit ihm zwangsverheiratet war, und ermordete auch noch deren letzten – von drei – Söhnen, der bereits seit sieben Jahren wegen «Unsittlichkeit und Aufsässigkeit» verbannt war. So wie die älteste Schwester dieser drei Jungen, die ebenfalls wie ihre Mutter Julia hieß, wegen «Ehebruch» schon seit sechs Jahren verbannt war und noch vierzehn Jahre bis zu ihrem Tode verbannt bleiben sollte, nach Hinrichtung ihres Ehemannes als Verschwörer. Und auch noch deren Schwester, das letzte in Rom lebende Kind des einzigen Kaiserkindes Julia: Agrippina I. – war bereits in Ungnade bei Tiberius und wurde alsbald mit ihrem ältesten Sohn lebenslänglich verbannt. Ihr Ältester starb zwei Jahre später den Hungertod, nur fünfundzwanzig Jahre «alt»; sein dann auch noch verbannter Bruder Drusus III. starb ihn zwei Jahre später, ebenfalls erst fünfundzwanzig. Den Hungertod der Mutter dieser beiden Verhungerten nannten Historiker dann einen «freiwilligen», obgleich diese bedeutende Enkeltochter des Augustus sich derart gegen ihre Deportation aus Rom zur Wehr setzte, körperlich, daß ihr dabei ein Auge ausgeschlagen wurde … Diese drei in der Verbannung Verhungerten waren die Witwe und die ältesten Söhne des mit vierunddreißig Jahren im Orient vergifteten Germanicus gewesen, des populärsten Soldaten Roms, nach Cäsar und Agrippa, dem Schwiegervater des Germanicus. Der selbst noch gesagt hat, er sei vergiftet worden … Daß ganz Rom davon überzeugt war – keineswegs nur Germanicus selber und seine Witwe –, dieser zu seiner Zeit beliebteste Feldherr Roms sei das Giftmord-Opfer des Kaisers Tiberius und seiner Mutter Livia, belegt die Tatsache, daß diese zwei nicht riskieren konnten, dem Staatsakt der Beisetzung der Asche des Germanicus beizuwohnen: Sie mußten fürchten, das Volk von Rom sei nicht zu bändigen und werde sie lynchen …

Was wir untersuchen wollen: Warum Historiker, speziell deutsche, speziell jene des 19. Jahrhunderts – Mommsen-Epigonen allesamt – mit Leidenschaft Partei für jene Giftmischerin Livia und ihren Ältesten: den Thron-Usurpator Tiberius – ergreifen und sie von den Mordanklagen – ohne jeden Beweis – freisprechen, die ausnahmslos alle Zeitgenossen und antiken Historiker, die wir heute noch kennen, gegen Livia und ihren Ältesten gerichtet haben. Richten mußten! Weil in der Tat dies einzigartig ist in der gesamten Weltgeschichte: Daß einem Kaiser fünf Kronprinzen sterben, damit der von ihm gehaßte Stiefsohn Nachfolger werden kann! Starb Germanicus – der sechste dezidierte Kronprinz – «erst» vier Jahre nach dem Tode des Augustus, so waren schon zu Lebzeiten dem Kaiser seine zwei Schwiegersöhne Marcellus (mit neunzehn Jahren!) und Agrippa mit einundfünfzig und seine zwei Enkel, Lucius und Caius, binnen achtzehn Monaten, vierundzwanzig und zweiundzwanzig Jahre «alt», gestorben. Während der dritte und letzte vom Nachfolger Tiberius enthauptet wurde, bevor der neue Kaiser bekanntzugeben wagte, der alte sei tot. Und obwohl es – wie gesagt – keine anderen Herrscherfamilien irgendwo gegeben hat, seit die Welt sich dreht, in der dem Monarchen sechs Kronprinzen wegsterben – alle bis auf einen als Jünglinge, vier zu seinen Lebzeiten, der fünfte wenige Tage nach dem Tode dieses kaiserlichen Großvaters – nachweislich durch Enthauptung: beharren doch deutsche Nachschreiber der antiken Historiker darauf, es besser zu wissen als jene vor zweitausend Jahren, die Verleumder gewesen seien: Was sehr schwierig für die gewesen wäre! Unterstanden doch diese antiken Chronisten der Kontrolle, teilweise sogar jener Zeitgenossen, die noch Mithandelnde der Ereignisse gewesen waren, die sie in ihren Büchern schildern. Oder aber der Kontrolle anderer, heute verschollener römischer Historiker. Daß die zweitausend Jahre näher dem gewesen sind, was sie darstellen, kann das Rudel deutscher Mommsen-Nachschreiber in seiner pontifikalen Hochnasigkeit nicht beirren … Wir untersuchen, warum sie zum Beispiel die Kaiserin Livia und ihren Ältesten, den Tiberius, so tugendhaft schildern, wie einer im 19. Jahrhundert hat sein müssen, wenn seine Biographie von den Schullehrern der Queen-Victoria-Epoche für tauglich befunden werden sollte, sogar für «die reifere Jugend bearbeitet» zu werden, wie das in solche Bücher hineingedruckt wurde. Warum die Historiker zum Beispiel den «so feinen Menschen» Tiberius gar mit Friedrich dem Großen vergleichen (Mommsen), obwohl er den vorletzten Urenkel, ein Kind, seines Vorgängers Augustus derartigen Hungerqualen unterwirft, daß der Fünfundzwanzigjährige, der sich nichts anderes hat zuschulden kommen lassen, als von Geburt ein potentieller Thronprätendent zu sein, daß er zuletzt seine Matratze «ißt»! Da das aber eine «Sudelei» ist, die sich nicht «gehört» in den Augen der glückverdummten Nachwelt: erwähnen die meisten, die seit 1800 n. Chr. über Tiberius schreiben, dies nicht einmal …

Nicht nur Historiker – jedermann ist anders albern, vermutlich jedoch bei weitem nicht so sehr als Individuum wie als Zeitgenosse. Die unentbehrliche Einsicht Nietzsches: «Der Irrsinn ist bei Individuen etwas höchst Seltenes, aber in Völkern und Zeitaltern ist er die Regel!» – unterströmt unsere ganze Erzählung wie eine ebenfalls unentbehrliche Kloake eine Stadt und stinkt uns immer erneut dort an, wo neue Abwässer nicht nur des augusteischen Hof- und Familienlebens, sondern auch der «Geistes»-Haltung seiner neunzehnhundert Jahre später schreibenden Chronisten dieser Kloake zugeführt werden … So müssen wir noch oft an diese Grundeinsicht Nietzsches erinnern; ja, sie liegt wie ein Wasserzeichen hier unter allen Zeilen.

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Die verfälschende Zeit

Ein unlösbares Problem des Erzählers ist die Zeit: Logischer-, aber doch absurderweise vergeht sie auch in der Chronik um so rascher, je spannender der Chronist erzählt. Doch hier – er kann das nicht ändern – beginnt unvermeidbar die Fälschung. Denn rapportiert er so rasch, faktenreich, kurz und kurzweilig zum Beispiel das Wegräumen der Augustus-Nachkommen aus der Erbfolge durch Livia und ihren Sohn Tiberius: so muß der durchaus irreführende Eindruck entstehen, Livias nahezu fünfzigjährige Regierungszeit – mindestens die Familienpolitik unterstand ihr, nicht ihrem Ehemann Augustus – sei ein einziges dämonisches Mantel- und Degenstück gewesen, der dramatische Ablauf einander Jahr auf Jahr folgender Beseitigungen potentieller Thronanwärter.

Nein – Livia hatte und nahm sich viel Zeit. Nur einmal nicht: Als die zwei ältesten Söhne Julias, die vom Großvater Augustus wie vom römischen Volk vergötterten Enkel Caius und Lucius, binnen achtzehn Monaten «starben» … Sonst aber gab es in diesen Jahrzehnten – Livia lebte von 58 v. Chr. bis 29 n. Chr. – auch innerhalb der Kaiserfamilie lange währende paradiesische Friedens-Oasen: So pilgerte einst Augustus mit diesen Enkeln nach Troja, von wo die Julier, die Kaiserfamilie – der bei Vergil in Auftrag gegebenen Legendenverklärung zufolge –, durch ihren Ahnherrn Äneas nach Italien gekommen waren. Und es gab in der Reichshauptstadt jede Woche mindestens ein Fest, einen Aufzug, gab ungetrübte Jahre des glanzvollsten gesellschaftlichen Lebens … Vergleichbar, will man vergleichen, was aber doch wenig erhellt, mit dem Hofleben etwa der Kaiserin Eugenie und Napoleons III. in jenem Paris, das soeben Haussmann neu erschuf. Und vergleichbar dem Berlin Wilhelms des Letzten, das soeben Max Reinhardt, Richard Strauss und Max Liebermann zu einer Metropole auch der Kunst machten; Metropole der Wissenschaft war Berlin schon seit den Humboldts gewesen …

Livia hatte ja Zeit. Und scheint das gespürt zu haben. Zeit genug (die ihr Chronist nicht hat), ihre Schachzüge, den Tiberius zu inthronisieren, so umsichtig vorzubereiten, daß es niemandem auffiel in den Jahrzehnten, während denen sie wirkte als Mörderin. Niemandem auffiel, wie verdächtig, ja endlich: wie skandalös häufig der Tod wieder einen Kerngesunden holte aus der Augustus-Nachkommenschaft. Zeitgenossen kommen da über Argwohn – ein Schelm, der Böses dabei denkt; ein Narr, der es nicht tut – nicht hinaus. Erst im nachhinein, erst im Rückblick auf die ganze «Strecke» ihrer Opfer an den Thronstufen ihres Mannes, endlich auch ihres zum Thron drängenden und «natürlich» hingelangten Sohnes wird die – wiederholen wir – «aller Statistik Hohn sprechende Häufung von termingerechten Todesfällen» so auffallend, daß endlich keine Illusion mehr erlaubt ist: Hier lag durch die Unmöglichkeit, eine andere, plausible und amtlich anzugebende Begründung für die Beseitigungen der Frauen Julia I., Julia II. und Agrippina zu finden, eine Parallel-Aktion vor. Doch nur wer alt wurde in Rom, nur der konnte das durchschauen. Wer sehr alt wurde – wie wenige wurden das damals! –, der durchschaute auch noch, daß später den Enkeln der Kaisertochter Julia – wiederum aus der Unmöglichkeit, andere «Gründe» öffentlich angeben zu können –, daß auch denen noch eine Parallel-Aktion zu ihrer Beseitigung widerfuhr: Wie ihren Müttern Julia II. oder Agrippina I. oder wie ihrem Onkel Agrippa Postumus – 12 v. Chr., im Todesjahr seines Vaters Agrippa geboren –, widerfuhr auch ihnen, aus Rom beseitigt oder dort eingekerkert zu werden wegen «Unsittlichkeit» oder – Postumus – «schlechten Charakters». Die immer gleiche, die wahre «Schuld» dieser Nachkommen der ersten Julia konnte amtlich ja nie eingestanden werden, weil jeder Römer gesagt hätte: Die Kaisertochter, die Kaiserenkel, die Kaiserurenkel haben doch recht! Daß sie nämlich zum Thron drängten als Legitime – als Todfeinde des Tiberius und der Livia schon von Geburt. Allemal «Hochverräter» … Da sie geborene Thronprätendenten waren – waren sie auch schon geborene Todfeinde der Usurpatoren Livia und Tiberius. Doch, wie gesagt: Nur Altwerdende, nur Altgewordene durchschauten diese Beseitigungs-Aktionen als Parallel-Fälle. Dauerten sie doch von 23 v. Chr., als Julias erster Mann: ihr Vetter ersten Grades (Sohn der Kaiserschwester), der erst neunzehnjährige Publikumsliebling und Kronprinz Marcellus II., «plötzlich» starb – bis mindestens ins Jahr 36 n. Chr., als Aemilia Lepida zum Selbstmord wegen «Ehebruchs» gezwungen wird, Urenkelin des Augustus, deren Vater – Mann Julias II. – als Verschwörer hingerichtet worden ist in jenem Jahr 8 n. Chr., als seine Frau wegen «Ehebruchs» lebenslänglich verbannt wurde, wie – mit der gleichen «Begründung» – schon zehn Jahre zuvor deren Mutter Julia I.

Von 23 vor bis 36 nach der Zeitenwende – diese neunundfünfzig Jahre sind aber das Wirkungsfeld dreier Generationen, zieht man die Jahre des Kindseins und des nicht mehr öffentlich tätigen Alters ab! Wer konnte da auch nur – wie dann die später Geborenen mit einem Blick – als Zeitgenosse (Zeitgenosse von wem: von denen, die als Twens schon zu Zeiten des Augustus starben – oder Zeitgenosse jener Twens, die Livia erst am Abend ihres Lebens ihrem Sohn Tiberius zur Ermordung überlassen hatte, wie die noch immer zweifellos auf den Thron, der ja ihnen auch zukam, versessenen Urenkelinnen des Augustus?) –, wer konnte bereits als Zeitgenosse, wie Spätere, die ganze Mordstrecke überschauen und die Folge-«Richtigkeit» in ihr überblicken und die Einfallslosigkeit, den Getöteten oder Eingezwingerten immer nur dies eine Delikt anzuhängen: Unsittlichkeit; bei Verheirateten: Ehebruch? Denn jede politische Tat der Augustus-Nachkommen hätte den Beifall nicht nur des Senats – der den Tiberius haßte –, sondern mehr noch den der Aristokratie und des ganzen Volkes gehabt, die den Legitimen mehr als gewogen waren …

Doch eben dies: Daß die Jahre, die Jahrzehnte, endlich der Gedächtnisschwund, der individuelle wie der kollektive, alles verharmlosen, sofern sie es nicht sogar tilgen, indem sie jene tilgen, die noch davon wußten; eben dies, daß so die Zeit zum stärksten Verbündeten derer wird, die Unrecht getan haben, sofern nur diese selbst alles Unrecht überleben – eben dies kann kein Erzähler vermitteln, einfach deshalb nicht, weil ihm diese Zeit dazu fehlt. (Zeit ist durch nichts zu ersetzen.)

Diese stillschweigend verändernde Kraft der Zeit, neutralisierend, ja scheinbar objektivierend: als «normative Kraft des Faktischen» beschönigt, eine große Macht, wenn nicht die größte innerhalb der menschlichen Dinge: sie hat in seinem Tacitus-Essay auch Golo Mann bedrängt, bedrückt: «Die Gangart verlangsamt sich noch im ersten Kapitel, mehr im zweiten; vom rasenden Galopp kann man nicht direkt zum Schritt übergehen. Kapitel zwei bis fünf – tacitaeische Kapitel haben etwa zwanzig Zeilen – geben die Exposition, eine Zeichnung der Herrschaft und Herrschaftsbasis des Augustus. Die Basis ist eine überwiegend negative: Roms große republikanische Familien sind durch die Bürgerkriege, die Proskriptionen vernichtet worden, zumal die Besten, Kühnsten ihrer Vertreter; feige war, was übrigblieb. Der Tradition der Nobiles fühlt Tacitus sich verbunden; nur augenblicksweise, eigentlich im Widerspruch zu sich selber, ist er gerecht genug, um zu sehen, daß in ihrem Zeichen vieles verfehlt worden war … Der einzige festigt seine Macht mit voraussehender Klugheit; so viele Jahre lang, daß, wie sein Leben zur Neige geht, die allermeisten sich an einen anderen Stand der Dinge gar nicht mehr erinnern können: … wer war noch übrig, der die Republik gesehen hätte? Indem es nun mit dem alten Herrn zu Ende geht, wird in Rom geredet; für ihn, gegen ihn, für, gegen seine Verwandten, seine möglichen Nachfolger, meist gegen sie, wie die Leute so sind. Tacitus hat geringe Achtung vor dem Hauptstadtgerede, ohnmächtigem Ersatz der untergegangenen Freiheit; aber berichten tut er immer wieder darüber, es interessiert ihn, es gehört zum Bild. Während noch geredet wird, stirbt Augustus.

Die alte Kaiserin Livia hat den Palast, die Straßen ringsumher genauestens isoliert, läßt durch die Ärzte ermutigende Bulletins herausgeben, bis beides mit einem Schlag gesichert ist, der Tod des alten, die Ankunft des neuen Herrn. Der Ausdruck ist rerum potiri, Machtergreifung im Palast. Hier geht die Exposition unmerklich in das Eigentliche über, in die Chronik, und zwar mit den Worten: das erste Verbrechen des neuen Principats. Damit fängt es an: mit der Ermordung des jungen Agrippa Postumus …»

Tacitus selber schon war als Autor bekümmert, wehrlos zu sein gegen die Macht der Zeit, die jede Chronik entstellt, ja verzerrt, ohne daß der Chronist dagegen anzuschreiben vermöchte … Manfred Fuhrmann hat in seinem Essay, der die ‹Annalen› einleitet, zitiert aus der Einleitung, die Tacitus seiner Biographie des Schwiegervaters Agricola schrieb – ein so schmales Werk, das Jacob Burckhardt eben dieser Knappheit wegen neben sich auf den Schreibtisch zu legen jedermann empfiehlt, der ebenfalls eine Biographie zu schreiben habe. Fuhrmann über die Einleitung zu ‹Agricola›: «Tacitus befaßt sich dort mit der Geschichtsschreibung überhaupt: Sie war unter Domitian unmöglich, da seine Herrschaft das freie Wort unmöglich machte. So erklärt sich, daß Tacitus so lange geschwiegen hatte, daß er erst in fortgeschrittenem Alter von seinem schriftstellerischen Talent Gebrauch machte, nachdem unter den Adoptivkaisern die Freiheit des Wortes wiederhergestellt worden war. Tacitus bemerkt allerdings hierzu, daß die Wiederherstellung der äußeren Bedingungen nicht sogleich die der inneren verbürge: Die lange Tyrannei habe eine allgemeine Dumpfheit und Gleichgültigkeit erzeugt. ‹Sind wir nichts›, ruft er an dieser Stelle aus, ‹wenn in fünfzehn Jahren, einem bedeutenden Zeitraum des Menschenlebens, viele durch Zufälle und die Tüchtigsten durch das Wüten des Kaisers ihren Untergang gefunden haben, nur noch wenige und haben wir nicht sozusagen sowohl andere als auch uns selbst überlebt, da so viele Jahre mitten aus unserem Dasein herausgerissen worden sind, die uns in Schweigsamkeit, wenn wir junge Männer waren, zum Greisenalter, wenn Greise, nahezu bis an die Schwelle des Todes gebracht haben?›»

Und wie wenige nur dieser so beklagenswert wenigen, die übrig geblieben, doch nun alt geworden waren, ehe sie überhaupt beginnen konnten, zu schreiben, waren auch fähig zu schreiben und fanden dazu Zeugen oder gar noch Schriftdokumente! Was Fuhrmann hier aufdeckt im Vorwort zu dem frühesten Werk des schon nicht mehr jungen Tacitus, zeigt, wie nötig die Empfehlung Burckhardts war, die Klassiker immer neu zu lesen, weil z.B. im Thukydides eine Quelle ersten Ranges stecken könne, die als solche erst heute wir zu erkennen fähig seien! Diese Entdeckung im ‹Agricola› durch Fuhrmann enthüllt, daß bereits Tacitus die Zeit als übermächtige Widersacherin der Wahrheit gefürchtet hat. Denn da so viele «durch Zufälle und die Tüchtigsten durch das Wüten des Kaisers» untergegangen waren: wie viele Zeugen dann auch, wie viele unersetzliche Dokumente?

 

Wenn sich nun einer auch noch vorgenommen hat, wie ich hier, die Liquidierung der Augustus-Nachkommen im Zusammenhang zum erstenmal zu seinem einzigen Thema zu machen – wie könnte ausgerechnet der dann die scheinbare und nicht nur scheinbare, denn es gab auch Jahre genug, in denen nichts passierte, was dem Tiberius wieder einmal einen Augustus-Sproß aus dem Wege geräumt hätte –, wie könnte der die Normalität im Alltag der Livia-Regierungszeit darstellen? Daß er’s nicht kann, erweckt den durchaus falschen Eindruck, am laufenden Bande habe diese Tückische gewütet. Nein, das brauchte sie nicht – sie hatte ja Zeit. Und da die Normalität, die immer auch in diesen Jahrzehnten das Leben Roms, auch des Hofes, bestimmt hat, nicht darzustellen ist, so muß die Häufung der Untaten, wie der Chronist sie zusammenrafft und wie sie ja keineswegs der jahrzehntelangen Zeit adäquat ist, die Livia tatsächlich benötigte, ihren Sohn zu inthronisieren, so muß diese «unrealistische» Raffung einen fälschenden, ja die Untaten unglaubhaft machenden, also sie verklärenden, entschuldigenden Eindruck erwecken: den, der Erzähler sei paranoid, da er vor lauter Toten keine Lebenden mehr sähe, vor lauter Mord-Jahren die Friedens-Epoche nicht mehr –, die doch im Erleben der Untertanen die Augustus-Jahrzehnte tatsächlich gewesen waren! Denn den meisten Untertanen der Livia mußten die Augustus-Jahre absolut normal erscheinen, schon wegen der politischen und sozialen Friedlichkeit dieses Zeitalters. Und genau deshalb kann der Erzähler – wer immer das sein mag, wie immer er’s darstellt – die nur scheinbare (was aber nur den Hof betrifft; nicht auch das Leben der Namenlosen, die normal lebten) Normalität dieser Epoche nicht zeigen, wenn wie hier nicht die Pax Romana sein Thema ist, sondern der Verwandtenmord. Der erfolgte damals nahezu unauffällig, erstens, weil er mit höchster Ökonomie verteilt war auf achtundfünfzig (!) Jahre; zweitens, weil Zeitgenossen, während sie über das – ihnen durchaus schon verdächtige – Sterben wieder eines kaiserlichen Familienmitglieds zwar debattieren, doch noch gar nicht voraussehen können – was wir Späteren dann mit einem rückschauenden Blick übersehen und addieren: Daß noch so viele den früh gehegten Verdacht bestätigende Parallel-Morde folgen werden, weit mehr, als sogar einem Idioten noch als «Normalfälle» einzureden sind …

Doch die Zeit ist amoralisch, ja tückisch. Es liegt in ihrer Macht, eine historische Aktion wie diese Throneroberung für Tiberius nicht nur – wenn sie über Jahrzehnte hinaus in Einzelaktionen verteilt wird – als «normal» erscheinen zu lassen, sondern sie geradezu dem Vergessen zu überantworten! Denn wer – ein Beispiel – lebte noch, der schon vom Selbstmord oder der Verbannung oder der Hinrichtung der Freunde Julias I. gewußt hat, etwa des Sempronius Gracchus, eines Nachkommen des legendär-volkstümlichen Revolutionärs? Oder ihres Vetters, Neffe ihres Vaters, des Marc-Anton-Sohnes, der als Halbbruder der Julia im Hause des Augustus aufgewachsen war? Vielleicht war er Julias, der zweifachen Witwe und von Tiberius Geschiedenen, Geliebter gewesen. Gewiß aber ihr Mitverschworener, da er – so Kornemann – «dem Kaiser gar nach dem Leben getrachtet» habe. Ihm nach dem Leben getrachtet, um dessen zweimal verwitwete Tochter zu beschlafen? Das gab es nie irgendwo auf der Welt! Nein, um dieser geliebten Frau zu sichern, was ihr – nicht aber dem Livia-Sohn Tiberius – legitimerweise zustand: den Thron … Wer wußte nach Jahrzehnten denn noch, daß diese beiden Mitverschwörer der Kaisertochter – offiziell konnte man von Verschwörung doch nicht sprechen – wegen «Unsittlichkeit» umgekommen waren! Ebenso wie zehn Jahre später der Ehemann der ältesten Enkeltochter des Augustus, die Julia hieß wie ihre Mutter Julia? Sie alle waren nicht «unsittlicher» als alle anderen damals, heute, immer – sondern waren verzweifelte Zuschauer und Opfer der von Livia initiierten totalen Ausrottung des ganzen Hauses der Kaisertochter! Der Mutter Julia «Unsittlichkeit», die ihre lebenslängliche Verbannung ausgelöst hatte, war schon zehn Jahre her, als ihre Tochter Julia ebenfalls «wegen Unsittlichkeit» lebenslänglich verbannt wurde, obgleich nicht Seneca allein sagte, es sei eine Verschwörung gegen Großvater Augustus gewesen – so wie der ältere Plinius von einer «vatermörderischen» Verschwörung der Tochter Julia mit dem Sohne Marc Antons gegen Augustus gesprochen hatte: Unwiderleglich! Denn warum – hätten die zwei Julias nur herumgeschlafen – die Hinrichtung ihrer Freunde, ja (bei der jüngeren) ihres Ehemanns? Strafen für Ehebruch hat es viele gegeben in der Geschichte. Aber Hinrichtung des Ehemanns – weil seine Frau Liebhaber hat? Es ist zu idiotisch, was die Propagandisten des Hofes, die sich vermutlich auch Historiker genannt haben, was die sich an Absurditäten einfallen ließen, nur um vor Senat und Volk zu verschweigen, daß die Nachkommen des Augustus ihr Recht auf dessen Thron der Julier mit Gewalt sich endlich erkämpfen wollten, da sie längst in der Gewißheit lebten, ermordet zu werden – wie es dann ja tatsächlich auch geschehen ist –, würde der Claudier Tiberius Kaiser. Vergeblich alle. Da niemand der Livia gewachsen war, weder an Einfluß auf Augustus – schlief doch nur sie allein fünfzig Jahre in seinem Zimmer – noch an Tücke … Welche Zeitgenossen hatten so lange zu leben, daß sie noch hätten bezeugen können, wie hier einfallslos, ja schematisch, da genauso wie vor achtunddreißig Jahren ihrer Großmutter Julia I., genauso wie vor achtundzwanzig Jahren ihrer Mutter Julia II. und ihrem «deshalb» hingerichteten Vater Aemilius Paullus, sogar noch der Tochter Julias II.: der Aemilia Lepida – 36 n. Chr. «Ehebruch» vorgehalten wurde, der sie zum Selbstmord zwang, sofern sie nicht anders umgebracht worden ist, etwa durch «freiwilliges Verhungern» wie ihre Vettern Nero I. und Drusus III. Und wie deren Mutter, Aemilia Lepidas Tante: Agrippina I., die allen ehrwürdig gewesene Witwe des Germanicus, die deutsche Historiker ein «hysterisches Weib» schimpfen (Kornemann), da sie ihren Mörder und den ihrer drei Söhne: Tiberius – eines Tages vergebens bat – zehn Jahre nach dem Tode ihres Mannes –, sich wieder verheiraten zu dürfen … Natürlich einen Politiker, der dann auch im Hungerverlies qualvoll verendet: sicher nicht, weil er – vielleicht – mit der Witwe des Germanicus geschlafen, sondern, berühmter Senator, sich zur Verteidigung ihrer angestammten Rechte vor Tiberius ermannt hatte. Wie er sich Tiberius bereits zum Todfeind gemacht hatte, während der erstmals als Kaiser zum Senat sprach … Wir werden später zitieren, wie Golo Mann das erzählt hat.

Einfallslos lautete drei Generationen lang – welcher Zeitgenosse kann, wie später die Nachwelt mit einem Blick, drei Generationen überblicken –, lautete gegen Julia und ihre Mitverschworenen ebenso wie gegen Julias Tochter Julia und ihren Mitverschworenen und wie in der dritten Generation: bei den Kindern Agrippinas – die Anklage immer gleich: «Unsittlichkeit». Denn daß hier Verschwörer wirkten, die den ihnen zustehenden Thron des Vaters, des Großvaters, des Urgroßvaters Augustus erlangen wollten, anstatt tatenlos zuzusehen, wie ihr Mörder Tiberius ihn erben werde: das konnte weder dem Volk noch dem Senat eingestanden werden, deren Sympathie, ja Liebe doch nicht Livia und Tiberius gehörten, sondern den legitimen Thronprätendenten! Die Zeit selber – eine unbezwingliche Gegnerin des authentischen Erzählens – verfälscht das Geschehene. Und der Erzähler ist ohnmächtig dagegen.

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Reisezeit – Lesezeit

Zur körperlichen Erholung stellt die geistige sich nur dann ein, läuft dem Ortswechsel auch ein Zeitwechsel parallel. Also kein Buch mitnehmen, das die Gegenwart berührt, denn das stets Aktuelle leert uns so aus, als sähen wir immer nur die Tagesschau – Ausflugsreisen in die Alte Welt sind die sicherste Gewähr, sich von der Neuen zu erholen: Im Kielwasser des 8 n. Chr. aus Rom ans Schwarze Meer verbannten Ovid überlasse ich mich ganz den fünf rororo-Bändchen, die eine Frau schrieb, den Monographien Ciceros, des Augustus, Vergils, Ovids und der Sappho.

Marion Giebel liefert mir die ablenkendste Unterhaltung auf dem Wege – zu Schiff, versteht sich – nach Samothrake und Konstanza, ins Donau-Delta. So schmal sind ihre reich bebilderten Taschenbücher, daß man sich nicht einmal mit einem Jackett «belasten» muß, nimmt man eins mit zu Streifzügen ins Fremde: es paßt in die Hosentasche.

Als ich Marion Giebel fragte, warum sie, immerhin schon fünfzig, noch keine Professur habe, gibt sie die völlig unzeitgemäß-sympathische, nämlich an Karriere so gänzlich uninteressierte Antwort, die wahre Passion für die Alte Welt verrät: «Ach, da hätte ich mich doch zwischen Griechen und Römern entscheiden müssen, wäre ich auf einen Lehrstuhl ausgewesen, aber Sappho steht mir ja nicht weniger nah als Ovid!» Eine Antwort, die geradezu herausfordert, dieser gründlichen Wissenschaftlerin endlich einen Lehrstuhl anzubieten. Doch unser Universitätsbetrieb … ja, hätte Frau Giebel wenigstens ein Parteibuch, damit sie Professoren ernennen könnte, als Kulturministerin!

Wie neu und bedeutend erschließen ihre vier Römer-Biographien einem doch jene Epoche, die allen Menschen, international, interessanter ist als die meisten anderen Zeitalter. Warum? Weil die Antike, auch die Perikles-Zeit, hell wie ihr Mittelmeer-Himmel, uns mindestens im augusteischen Jahrhundert so anlockend-vertraut ist wie heute Deutschen nur noch Bismarcks und Fontanes Jahre und wie den Briten die der Queen Victoria und des Königs Edward und der ‹Titanic› und wie den Franzosen jene der Impressionisten und Maupassants und des (ihm verhaßten!) Eiffelturms und wie den Russen ihre Puschkin- bis Tschechow-Jahrzehnte. Dogmendunkle Epochen dagegen sind uns nie vertraut. Wildfremd, ja abstoßend sind schon uns heute – wie erst in zweihundert Jahren! – die von religiösem Fanatismus geschlagenen Hexenverbrenner-Zeitläufte. Wer empfände in einer Kirche, einer Moschee, einer Synagoge, was die Antike uns schenkt? Und was Hofmannsthal in die Maxime faßte: «Der Geist entfaltet seine größte Kraft corps à corps mit dem Sinnlichen.» Ja, nur dort erholt er sich. Und nur, wo er auf die Weide geschickt wird, fällt ihm etwas ein …

Daß eine Frau über vier Repräsentanten des Augusteischen Zeitalters schrieb, macht ihre Monographien hellsichtiger, intim-kenntnisreicher, als habe die wie ein Dutzend andere «nur» ein Mann verfaßt. Warum? Eine Frau, die schon oft hier genannte Livia, ist es gewesen, die so nachwirkend wie später keine mehr, wie nicht einmal Katharina die Große – ihrem ganzen Zeitalter seine Zukunft bestimmt hat, durch gewaltsame Abänderung der natürlichen Erbfolge. Hat Katharina von Rußland durch Beseitigung ihres Mannes den Zarenthron an sich gerissen, aber doch nur zu ihren Gunsten und zu denen des Sohnes ihres ermordeten Gatten – so hat Livia als dritte Frau des Augustus wahrscheinlich drei Generationen der Erben ihres Mannes die legitime Anwartschaft auf den Thron geraubt, weil die nicht ihre leiblichen Nachkommen waren!

Kaspar-Hauser-Tragödien in einer Häufung wie sonst in keiner anderen Herrscher-Familie. Tragödien wie Goethes ‹Natürliche Tochter›, aber in einer Totalität, die es schlechthin verbietet, «Zufälle» beim Ausfall der legitimen Erben auch nur noch für möglich zu halten. Auch dem Arglosesten wird verwehrt, von Zufall noch zu sprechen seit der Ermordung des dritten und letzten männlichen Augustus-Enkels. Zudem muß die gleichzeitige Ermordung seiner Mutter – der einzigen Kaisertochter Julia – durch Livia und ihren Sohn: zum Maßstab des ganzen Frevels genommen werden. Grausamkeit, die an la Bruyères Erfahrungssatz denken läßt: «Les femmes sont extrêmes; elles sont meilleures ou pires que les hommes» …

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Mommsen und andere Machos

Oktober 1992. Ein Fund ersten Ranges wird veröffentlicht, neunzig Jahre nach Mommsens Tod: die gültige Vorlesungsmitschrift der von Mommsen selber niemals geschriebenen ‹Römischen Kaisergeschichte›! Der Berliner Ordinarius für Alte Geschichte Alexander Demandt hat mit seiner Gattin, Lateinlehrerin am Altsprachlichen Gymnasium Zehlendorf, endlich das Manuskript publiziert, das Sebastian und Paul Hensel 1882 bis 1886 in den Vorlesungen Mommsens an der Berliner Friedrich Wilhelm-Universität stenographiert hatten. Zwei Männer, die Nachkommen Moses Mendelssohns waren: Ihr Vater und Großvater, der Hofmaler Wilhelm Hensel, hatte Felix Mendelssohn Bartholdys Schwester Fanny geheiratet, Sebastian war 1830 geboren, sein Sohn Paul 1860. Ein in dieser Familie ebenfalls eingeheirateter Nürnberger Antiquar Kistner, der 1974 gestorben ist, bewahrte die Vorlesungsmitschriften auf, von denen auch Wilamowitz Kenntnis hatte, der Schwiegersohn Mommsens. Der jedoch bekämpfte geradezu alle Bemühungen – es waren schon früher andere Mitschriften eines Italieners, auch deutscher Mommsen-Hörer, der Familie angeboten worden –, den fehlenden vierten Band der Römischen Geschichte zusammenzustücken. Erst Alexander Demandt, der die Hensel-Mitschriften 1980 von Kistners Erben gekauft hat, erfaßte ihren vollen Wert: Sie waren, verglichen mit den Stenogrammen anderer Mommsen-Hörer aus den Jahren 1863 bis 1886, die komplette, auch zuverlässigste Mitschrift. Und so schenkten er und seine Gattin endlich der Nachwelt den schon von Mommsens Mitwelt stets leidenschaftlich, doch vergebens dem Meister abgeforderten vierten Band jenes berühmtesten Wissenschafts-Epos der Bismarck-Zeit, dank dessen Mommsen 1902 den Nobelpreis für Literatur zum erstenmal nach Deutschland brachte. (Seltsam, daß die beiden einzigen Autoren, die als Historiker den Nobelpreis erhielten, am 30. November Geburtstag hatten: Mommsen und Churchill.) Wir erfahren durch Demandt, daß der Brite Toynbee neben Gibbon, seinem Landsmann, Mommsen als den größten Historiker überhaupt bezeichnete und daß wiederum Mommsen das Werk Gibbons «für das bedeutendste, das je über römische Geschichte geschrieben wurde», gehalten hat.

Zuweilen verging Mommsen sogar deshalb die Lust, die Kaiserzeit darzustellen, er empfand Gibbon als übermächtig … Und gewiß hat das Jahrhundert, das seit Mommsen nunmehr stromab gegangen und das gekennzeichnet ist durch eine ganze Riege erstklassiger Nacherzähler der antiken römischen Historiker; und viele dieser Nacherzähler waren direkt aus Mommsens Hörerschaft hervorgegangen – gewiß hat dieses Jahrhundert die Überlieferung wie die Resultate aus späteren Funden so gründlich aufgearbeitet, daß sensationell neue Fakten und Aspekte nun aus diesem endlich vorliegenden Band nicht herausgelesen werden können. Nötig war seine Publizierung dennoch. Und keineswegs nur aus Pietät.

Schon 1884 schrieb ein Zeitgenosse an Mommsen: «Die Welt interessiert sich vielleicht weniger für die ‹Römischen Kaiser› als für Ihre Auffassung derselben.» Wir heute, da schon längst kein international berühmter deutscher Autor mehr lebt – der letzte war Thomas Mann –, können uns ja schlechterdings nicht vorstellen, wie in allen Ländern Europas, auch in Asien und in den USA, Mommsen gefeiert wurde; allein Émile Zola hatte um 1900 noch ähnlichen Ruhm. Und tatsächlich ist für uns auch heute an Mommsen noch interessanter als an jedem Historiker sonst, wie weit er seine zuweilen höchst bedeutend gewordenen Schüler beeinflußt hat: Man denke nur an Otto Seeck, der die sechs Bände ‹Geschichte des Untergangs der antiken Welt› schrieb und damit 1912 der Haupt-Veranlasser für Oswald Spenglers ‹Untergang des Abendlandes› wurde. Denn die Mommsen-Schüler in allen Ländern prägten wohl weitergehend als andere Historiker wiederum ihre Schüler und haben, sicher oft verhängnisvoll, Mommsens Neigung «vererbt», die Alexander Demandt kritisch so umschreibt: «In Mommsens Geschichtsbild dominiert das Politische, sein Interesse für das Zivilisatorische, Kulturelle und Religiöse steht zurück. Eine Darstellung der Pax Romana fehlt. Er schildert nur das – mehrfach so genannte – Kriegstheater. Erstaunlich ist, welches Gewicht Mommsen auf die Finanzen legt. In kaum vorstellbarer Weise plagt er die Studenten mit Geldpolitik und Steuerwesen … Militär und Architektur werden unter der Rubrik Einnahmen und Ausgaben abgehandelt, deren Vorrang pragmatisch herausgestellt wird. Aus dem perfektionierten Steuerwesen erklärt sich Mommsens positive Wertung der spätrömischen Bürokratie … Die ‹Historia Augustas›, von der Mommsen (früher) schrieb, daß diese Biographien ‹die elendsten Sudeleien sind, die wir aus dem Altertum haben›, wird ausgiebig als Quelle herangezogen.»

Diese Einschränkung der Bedeutung seines Fundes ist dem Herausgeber Demandt um so höher anzurechnen, als er auch noch mutig hinzusetzt, sein Mommsen-Band werde «wohl nur das wissenschaftsgeschichtlich interessierte Publikum erreichen». Anzunehmen. Aber doch wird in der deutschen Geistesgeschichte die Frage nie mehr zur Ruhe kommen: Warum verzichtete Mommsen auf seine schriftliche Festlegung der Kaiserzeit-Chronik?