Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Für Julien, Glücksritter mit Migrationsgeschichte, läuft es eigentlich gut: Der preisgekrönte Gestalter genießt ein Leben in Wohlstand und Erfolg. Endlich scheinen sich ihm auch die Tore zur besseren Gesellschaft zu öffnen - da kommt ihm das Schicksal in die Quere … Denn eine Mail, die doch noch aus dem Spam gerettet wird, verändert nicht nur sein Leben, sondern auch das der Menschen, die ihm begegnen: durch die Erfahrung, einmal in die Wirklichkeit der Anderen einzutauchen - und den Sex, der keine Klassenschranken kennt. Sechs Menschen, sechs Perspektiven, sechs Stimmen: Der dialog- und temporeich erzählte Roman enthält alles, was der erste Band einer Trilogie, die »Sex und Sozialkritik« heißt, braucht: Drama und dokumentarische Härte, Phantasie und Pedanterie, Humor und himmelschreiende Ungerechtigkeit, Kitsch und Klamauk, Lust in all ihren Spielarten – und einen atemberaubenden Cliffhanger. »Sex und Sozialkritik« ist ein breit angelegtes Panorama der bürgerlichen Mitte, angesiedelt im Hamburg des ersten »Jahrhundertsommers« 2018: als »Die Mannschaft« ihren Weltmeistertitel verteidigen wollte, das Bürgergeld noch Hartz Vier hieß und die Kanzlerin Angela Merkel. Ein historischer Roman aus der Zeit vor dem großen gesellschaftlichen Umbruch durch Pandemie, Kriege und Inflation. Eine Geschichte über Alltagsrassismus und Klassendünkel, verstaubte Geschlechterrollen und Homophobie, aber auch ungeahnte Möglichkeiten, plötzlichen Chancen, mutige Entscheidungen und unverbrüchliche Liebe. Mit einem Kapitel aus »Julien Lemaire« gewann Gabriel Gerling 2023 beim 3. LITFEST homochrom den Publikumspreis in der Kategorie Romane.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 720
Veröffentlichungsjahr: 2024
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Gabriel Gerling
Julien Lemaire
Sex und Sozialkritik I
Roman
Texte: © Copyright by Gabriel Gerling 2024
Covergestaltung: © Copyright by Gabriel Gerling 2024
Verlag:
Gabriel Gerling
Berliner Straße 48-50
51063 Köln
Vertrieb:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Für Vera
»Es geht nur darum,
ein guter Geliebter und ein guter Sohn zu sein,
ein überaus dankbarer, zärtlicher Mann,
und mir scheint,
daß ich diese beiden Eigenschaften besitze.«
Denis Diderot,
Briefe an Sophie
Impressum
Widmung
Zum Geleit
Inhalt
Die falschen Leute
Licht im April
Das macht meine Frau
Neue Herausforderungen
Es gibt zu tun
Unter Kollegen
Geist und Gespür
Kant und Diderot
L’ homme de sa vie
Ja keine Ahnung
Grundlagen interkultureller Kompetenz
Der Mann am Strom
Zu verschenken!
Die richtige Massnahme
Supernova
Alle siebzehn
Juli ruft an!
Ein Gefühl von Vollmond
Deine Ehre
Keine Tabus
Eine Landkarte der Liebe
Nemesis
Die Zigarette davor
Expect the Unexpected
Blaue Stunde
App. 27
Die richtigen Leute
Jovan, Maurizio, Ali (Julien I)
Un homme et une femme
Erfolg, Glück, Liebe (Julien II)
Biopause
Keiner von uns, keiner von euch
Das mittlere Kind (Henning)
Henning almighty
Julien rechtet mit Gott
Morgens um fünf verfluchte Henning seine Arbeit, weil er als Einziger in der Straße so früh raus musste. Er hasste das Amt und sich selbst, wenn er im Stockfinsteren oder maximal vogelzwitschernden Morgenrot losfuhr, schrie »Scheiße!« und »Könnt mich alle mal!« und krampfte die Hände um das kalte Lenkrad. Es ging aber nicht anders, wenn man einen Platz in der Tiefgarage bekommen wollte. Außerdem war es für Henning zwingend notwendig, der Erste in seiner Abteilung zu sein. Nur dann konnte er bei offener Tür arbeiten, ohne mit jemandem sprechen zu müssen, Fenster auf Kipp, während der Kaffee durchlief und die Stadt langsam erwachte. Natürlich gab es Spezialisten, die nur wegen der Tiefgaragenproblematik früh kamen und sich dann die Zeit vor der Öffnung fürs Publikum anders vertrieben: Abendblatt lesen, Kaffee trinken und auf den warten, der die Franzbrötchen mitbringt. Erst wenn die Vorgesetzten kamen, öffneten sie ihr Outlook, denn vorher lohnte es nicht, Mails zu checken und in den Terminkalender zu schauen. Selbstredend war Henning keiner von denen. Es gab genug zu tun, allein für Dokumentation ging ja schon ein halber Arbeitstag drauf, wenn man es anständig machte – so wie Henning: worauf es ankam, wusste keiner besser als er. (Dass ihm Siggi regelmäßig mit Sozialdatenschutz kam, geschenkt.)
Wenn die Damen und Herren Kollegen dann nach und nach eintrafen, war Henning aufgetaut, und jeder bekam einen passenden Kommentar. (»Die Drei hatte Verspätung? Schon wieder?« – »Ja, dann kauf dir statt Kippen mal eine anständige Luftpumpe! Meine Güte!« – »Natürlich sagen sie, dass sie nicht kontrollieren können, ob du deinen Dienstantritt nachträglich am Rechner korrigierst – musst du wissen, ob du das glaubst!« etc.) Richtig warmgelaufen, wickelte er ab Punkt acht seine sechs bis acht Kundengespräche ab. Um zwölf ging er in die Kantine, wo es zwar jeden Tag etwas an dem seiner Ansicht nach viel zu teuren Mittagessen auszusetzen gab, aber auf die dort stattfindende Kommunikation konnte er als Nichtraucher schlecht verzichten. Denn außer der Raucherecke am Hinterausgang bot die Kantine die einzige Möglichkeit, den wirklich heißen Scheiß zu erfahren. Nach der Pause schrieb er seine Vermerke, telefonierte hinterlassene Anrufe ab, bearbeitete Anträge, und wenn nicht irgendwelche Mehrarbeit anfiel (Vertretungsfall, Siggis lästige Datenqualitätslisten, Arbeitskreis o.ä.) oder uneingeladene Bittsteller vor seiner Tür standen, ging er pünktlich um vier nach Hause. Zehn Tage Plus reichten als Überstundenpolster, falls mal was war.
Sah er in die Gesichter der Leute vor seinem Schreibtisch, dachte er meistens arme Sau oder Wichser, und wenn er einen Typen mal ganz in Ordnung fand, blieb der trotzdem eine arme Sau. Die Frauen waren allesamt nicht sein Fall: aufgehübschte Türkinnen, tätowierte Asibräute, dumme Teenagermütter und weltfremde Studentinnen. Letztere fingen als Erste an zu heulen, wenn er ihnen ihre Lage klar machte. Da saßen sie mit ihrem Bachelor Regionalstudien Lateinamerika oder dem nutz-losen Phantasiediplom für Mediengestalter von der Privatschule und kapierten erst, wenn Henning ihnen Vermittlungsvorschläge vom Zeitarbeitsunternehmen neben die Eingliederungsvereinbarung und den Kugelschreiber mit Jobcenterlogo legte:
»Sie sind arbeitslos, gute Frau. Zeit, aufzuwachen.«
Er musste den Leuten gar nicht erst mit Leistungsentzug drohen. Es reichte meistens, wenn er sie fragte, ob sie sich denn ein Leben lang von ihm diktieren lassen wollten, wie ihr Leben zu laufen habe. (»Ja, mein Freund, da kuckst du, aber so sieht es aus, wenn du dich nicht langsam mal kümmerst. Ich hab dir deine Nikes finanziert, das ist dir doch klar, oder?«) Die schwuchteligen Edelkanaken mit ihren fadengezupften Augenbrauen nahm er gern etwas härter ran. Bei ihnen war es sinnvoll, die Macht, die man hatte, nicht nur anzudeuten. Und schließlich gab es auch eine Sanktionsquote zu erfüllen.
Wenn er in der Dienstbesprechung saß, in der es oft genug nichts zu besprechen gab und sie nur Zeit und Steuergelder verschwendeten, beobachtete er seinen Teamleiter Hajo, der ihnen regelmäßig Powerpointpräsentationen vorspielte, die wichtige geschäftspolitische Ziele abbilden sollten und deren Inhalte Hajo vermutlich selbst nicht verstand. Dann war Henning klar, dass Führungskraft für ihn keine Option bedeutete. Sowohl Hajos Unfähigkeit als auch das aufgeblasene Besprechungsritual und überhaupt der Unsinn, der an der Leitung eines Teams hing, hielten Henning davon ab, in die Personalentwicklung zu gehen und sich auf höher dotierte Posten zu bewerben. Seit zehn Jahren saß er in dieser Behörde, hatte jede Namensänderung mitgemacht, er kannte alles und alle, jede Sau, die sie durchs Dorf getrieben hatten: Zu viele Langzeitbezieher, zu wenige Integrationen in Arbeit, Jugendarbeitslosigkeit, Ausländer, Alleinerziehende – Henning hatte sie alle gehabt, und er hatte auch das Aussitzen gelernt, das Wegducken und das Weiter-wie-immer, und es ging eben weiter wie immer. Da, wo er saß, blieb er unbehelligt. Weil er der Einzige war, der seinen Job trotz allem ernst nahm, holte er sich zwar regelmäßig seine Dienstaufsichtsbeschwerden ab, die hatten jedoch keine Konsequenzen. Welche auch? Beamter im gehobenen Dienst, da müsste er sich schon der Vorteilsnahme oder Untreue schuldig machen, damit was passierte. Aber Henning war gnadenlos unbestechlich; das, was er verdiente, reichte ihm als alleinstehendem Enddreißiger ohne besondere Ansprüche. Auf die Idee, sich mal woanders zu bewerben, war er noch nie gekommen, denn da würde es kaum besser sein. Vielleicht würde er nicht um fünf Uhr aufstehen müssen, aber vermutlich wäre es anders scheiße. Also blieb er, wo er war, schrie morgens sein Lenkrad an, machte abends einen Haken hinter den Tag und wartete.
Irgendwann würde ja mal was sein.
Auf der letzten Weihnachtsfeier hatte er versucht, Insa etwas näherzukommen – nicht körperlich, sondern mit Kompliment und mal ein Getränk holen. Insa gehörte erst seit drei Jahren zum Team. Sie sah gut aus, war energisch und tickte ähnlich wie er, was den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit, Sozialleistungsbezug und Eigenverantwortung anging. Aber Insa hatte einen Freund, außerdem wollte sie Karriere machen, die konnte sich mit Henning nicht aufhalten. Nachdem sie ihn hatte abblitzen lassen, führte Henning sie gern mal ein bisschen vor, wenn sie besonders wichtig tat – nicht zu oft, denn dadurch ließ er sich herab auf das Niveau von Oliver, dem nöligen Ex-Streetworker, der einen auf soziales Gewissen machte und Insa aus Prinzip kritisierte. Mit ihm in eine Schublade gesteckt zu werden war das Letzte, was Henning wollte; er legte Wert drauf, auf seine eigene Art unbequem zu sein. Nach Siggis Weggang aus dem Team war Oliver sein bevorzugter Gegner – wobei Henning jemanden, der ständig auf das System schimpfte, aber gern Gleitzeit und 30 Tage Urlaub im Jahr mitnahm, nicht wirklich ernst nehmen konnte.
Manche Kollegen ließen ihren Frust an den Leistungsbeziehern aus, andere arbeiteten ihr Helfersyndrom ab. Henning tat nichts dergleichen, er war weder frustriert noch hilfsbereit. Die Bittsteller waren ihm egal. Es nützte ja nichts, die Welt war, wie sie war, und wenn einer Geld vom Staat wollte, dann musste er das und das tun, so lief es eben. Wozu also das Gejammer über Ungerechtigkeit, Missachtung der Menschenwürde etc.?
Henning handelte immer gesetzeskonform, und da er deswegen auch Ermessen ausüben musste, tat er manchmal sogar Gutes. Denn natürlich gab es Typen, die konnten einfach gar nichts. Früher wären die im SPAR ihres Onkels als Leergutannehmer oder Hofkehrer untergekommen, aber solche Jobs gab es ja heutzutage nicht mehr, und was konnten die Typen dafür? Bei denen schaute Henning auch mal großzügig weg. Grundsätzlich tat er das nicht, denn jeder war selbst für seine Lage verantwortlich, ob Henning oder Arbeitsloser. Keiner kriegte hier was geschenkt.
Henning wohnte am äußeren Rand des Speckgürtels, nah genug, um seinen Arbeitsweg in erträglicher Zeit bewältigen zu können – wenn man davon absah, dass er um fünf Uhr aufstehen musste. Im Leben konnte er sich nicht vorstellen, in der Stadt zu wohnen. Viel zu teuer, alles verprollt oder versnobt, und natürlich zu viele Kanaken.
Die Ecke der Kleinstadt, in der er lebte, war gesichtslos, aber bezahlbar und ruhig. Es gab eine S-Bahn-Station, zwei Tankstellen, eine Polizeiwache und einen Griechen, ansonsten hauptsächlich Einfamilienhäuser. An dem einen verwanzten Wohnblock mit Zigeunern und anderen Arbeitslosen kam Henning fast nie vorbei. Die Zigeuner kamen auch nie in die Siedlung mit den Blumennamen, wo Henning eine Dreizimmerwohnung mit Aussicht aufs Wirsingfeld besaß, in einem Zweifamilienhaus am Ende der Straße. Das Ehepaar mit Kind wohnte Gott sei Dank unter ihm, Kindergetrampel über seinem Kopf hätte er nicht ausgehalten.
Wenn er die Nachbarn sah, nickte er nur und sah zu, dass er weiterkam. Wer sich den ganzen Tag über mit Leuten auseinandersetzen musste, der hatte abends keinen Nerv mehr für Smalltalk.
Henning war kein Soziopath. Er hatte nur mit den falschen Leuten zu tun. Aber seine Stunde würde kommen.
Und mit ihr auch die richtigen Leute.
Die Sonne tauchte auf hinter den Häusern jenseits des Fleets, langsam breitete sich das Licht in Juliens Büro aus. Es floss über den Schreibtisch, ergoss sich auf den Boden, durchbrach die gläserne Wand, die den Raum vom Rest der Etage trennte, und erfüllte schließlich das gesamte Loft. Einige der Mitarbeiter auf der Fläche hoben die Köpfe, Anett blinzelte, Harriet schloss die Augen und hielt ihr Gesicht lächelnd dem Licht entgegen. Das Licht erreichte sogar Erik in seiner Ecke. Der warf einen wütenden Blick in Richtung des Büros, das einmal das seine gewesen war und in dem nun Julien saß.
Julien öffnete alle Fenster und ließ den Geruch des Hafens herein, den Duft von Schlick und Brackwasser und verladenem Kaffee. Es war jetzt schon angenehm warm, in den nächsten Tagen sollten es über zwanzig Grad werden. Er hängte sein Jackett in den Schrank; das informell aufgekrempelte weiße Hemd hielt er heute für stilistisch angemessener. Ein sanfter Luftzug strich über die Papiere auf dem Schreibtisch. Julien packte sie zusammen, legte den Stapel in eine Schublade und startete die beiden Macs. Mit der bloßen Hand wischte er über das kühle Leder der Barcelona Chairs, dann hockte er sich hin und überprüfte die Glasplatte des Besuchertischs auf Wasserglaskringel und Staub. Bis zum Termin hatte er noch Zeit. Er ging in die Küche und schaltete die Espressomaschine ein. Während sie sich aufheizte, holte er drei Gläser aus dem Schrank, nahm eine Flasche Medium aus dem Wasserkasten, stellte alles auf ein Tablett und brachte es in sein Büro. Zurück in der Küche, machte er einen Espresso, den er dort im Stehen trank, dabei schaute er auf den sich langsam füllenden Fleet.
Der Besuch kam ein bisschen zu früh, aber Julien hatte die Fenster schon wieder geschlossen und saß an seinem Schreibtisch, als er den Fahrstuhlgong hörte, und dass sie vorne am Empfangstresen nach ihm fragten und Carmen ihnen knapp und unfreundlich antwortete. Aus dem Augenwinkel sah er zwei Leute die gläserne Wand passieren; sie blieben kurz stehen, um hereinzuschauen.
»Ach, wie schön!«, hörte er die Frau sagen. Sie klopften, erst jetzt sah Julien auf. Er lächelte und ging zur Tür.
»Frau Schwacke, bonjour«, sagte er und reichte der Frau die Hand. »Julien Lemaire. Freut mich.«
»Schön, dass es so schnell geklappt hat, Herr Lemaire.« Die Schwacke wies auf ihren Begleiter. »Mein Kollege Jonas Weidenfeld.«
Der Kollege Weidenfeld, streng gescheitelt, vollbärtig und um einiges jünger, drückte Juliens Hand fester als notwendig.
»Sie haben es hier ja wirklich - Entschuldigung, darf ich einmal …« Die Schwacke trat an die Fensterfront und sah hinaus. »Wunderschön!« Sie wandte sich um zu Julien. »Die Miete ist bestimmt nicht ohne.«
»Tja.« Weidenfeld war im Türrahmen stehen geblieben, die Hände in den Hosentaschen. »So ist das wohl im Herzen des Kapitalismus.«
»Tout a un prix.« Julien lächelte. »Nehmen Sie doch Platz. Was darf ich Ihnen anbieten? Wasser, Cappuccino, Espresso?« Er wies auf die Besucherecke.
»Für mich nur ein Wasser«, sagte Weidenfeld. »Danke, ich bediene mich.«
»Einen Cappuccino, gern«, sagte die Schwacke.
»Ich bin gleich zurück«, sagte Julien, immer noch lächelnd.
Während er sich in der Küche um den Cappuccino kümmerte, ließ er die Atmosphäre nebenan ihre Wirkung tun. Von der Sonne beschienen, den Fleet zu ihren Füßen, genossen sie die Aussicht und das Gefühl, an der richtigen Stelle zu sein. Ihr prospektiver Dienstleister hatte einen guten Namen, an den Wänden und in den Regalen konnten sie aussagekräftige Referenzen sehen. Es klappte jedes Mal. Julien ging mit dem Cappuccino zurück und schaute zu Erik hinüber. Erik starrte auf seinen Bildschirm, die Lippen zusammengepresst.
Heute führte das alles zu nichts, was nicht grundsätzlich daran lag, dass seine Besucher eine Stiftung für sozialpolitische Bildung vertraten. Im Gegenteil war Meret Schwacke ganz offensichtlich angetan von Julien und seiner Inszenierung. Das Projekt, für das sie ihn gewinnen wollten – die Gestaltung einer Schriftenreihe zur Entkräftung von Stammtischparolen – war ihm eigentlich zu politisch. Julien scheute das Risiko, als irgendwie links angesehen zu werden, abgesehen davon würden sie ihm wahrscheinlich sowieso zu wenig Geld bieten. Aber die Stiftung hatte prominente Mitglieder, was Beziehungen und interessante Folgeaufträge bedeuten könnte, wenn er es richtig anstellte. Nur deswegen war er überhaupt auf ihre Terminanfrage eingegangen.
Die Veröffentlichungen, die sie ihm jetzt zeigten, ernüchterten ihn. Er erkannte, dass sie etwas Zeitgeistiges wünschten, etwas Akademisches, aber naiv Illustriertes, dem man schon nach einem Jahr sein Verfallsdatum ansehen würde. So etwas konnte und wollte er ihnen nicht liefern.
Dass sie nicht zusammenkamen, lag aber vor allem an Weidenfeld. Er zeigte Julien deutlich, dass er nichts von ihm hielt.
»Ja, jetzt, wo wir hier so sitzen, weiß ich gar nicht, ob wir bei Ihnen überhaupt richtig sind«, sagte Weidenfeld.
»Das hatte ich schon am Telefon angedeutet«, entgegnete Julien an die Schwacke gewandt; mit dem Mann zu reden hatte überhaupt keinen Zweck. »Ich habe mich ehrlich gesagt gefragt, wie Sie auf mich gekommen sind?«
»Wegen der Trinkwasserkampagne«, sagte die Schwacke, »also die fand ich großartig.«
»Ah. Verstehe.«
Vor ein paar Jahren hatte Julien eine Plakatserie für eine Initiative gegen die Privatisierung von Wasser entworfen: eine Gefälligkeit für einen Mann, mit dem er ein paar Nächte verbracht hatte und der Teil des Orgateams war. Das Honorar hatte eher symbolischen Wert, und als die Plakate in Druck gingen, war es mit dem Mann längst vorbei. Obwohl er sie gut fand, verwendete Julien sie nie als Referenz, denn sie passten seiner Meinung nach nicht in sein Portfolio. Auf der Website der Kampagne waren sie aber immer noch zu sehen. Dass die Schwacke sich gerade darauf bezog, sagte eigentlich schon alles.
»Das ist aber das einzige Projekt in der Art. Ansonsten habe ich mit Politik oder Gemeinnützigkeit nichts zu tun«, sagte Julien.
Weidenfeld setzte sein Glas auf dem Tisch ab, hart wie eine Kampfansage. »Ganz ehrlich? Das würde mich auch wundern.«
»Aha. Warum?«
Weidenfeld machte eine Geste in den Raum hinein. »Warum! Ernsthaft? Wenn ich mich hier so umsehe–«
»Was meinen Sie?«
»Das alles hier passt ja nicht wirklich zu Gemeinnützigkeit.«
»Finden Sie, ein Büro in der Schanze wäre glaubwürdiger?«, fragte Julien lächelnd. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie solche Vorurteile haben.«
»Vorurteile ist gut. Ich meine … Also, wenn wir schreiben, dass nicht die Armen an ihrer Armut schuld sind, sondern das System, und Sie sollen das illustrieren? Das ist schon irgendwie … Na ja.«
»Das heißt, weil wir auf Stühlen sitzen, die sechstausend Euro kosten, verstehe ich nichts von Armut?«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Weidenfeld, er klang verärgert. Natürlich hatte er es so gemeint.
»Wie dann?«
»Das ist doch offensichtlich. Wenn–«
Die Schwacke runzelte die Stirn und unterbrach ihren Kollegen. »Ich glaube«, sagte sie und sah Julien tief in die Augen, »es wird eher am Budget scheitern als an der Glaubwürdigkeit.«
»Was auf dasselbe herauskäme, n’est-ce pas?«
»Sie machen es uns nicht leicht.«
»Verstehen Sie mich nicht falsch«, sagte Julien, »ich finde das Projekt gut. Es hat ja auch mit Haltung zu tun. Und da stimme ich völlig mit Ihnen überein.«
»Dann doch«, sagte Weidenfeld.
»Natürlich! Aber es geht doch nicht nur um das Umsetzen von Text und ein paar Grafiken. Wir wollen beide, dass es gut wird. Sie haben Ihren Anspruch an die Inhalte und ich meinen an die Gestaltung. Wenn ich mir aber die Erzeugnisse Ihrer Stiftung ansehe–«
»Erzeugnisse!«, sagte Weidenfeld, das klang definitiv verächtlich.
Julien ignorierte ihn. »–dann habe ich den Eindruck, dass Ihre Vorstellungen von Qualität und von Zeit, und damit auch von Budget, andere sind als meine.«
Sie schwiegen. Das Schweigen hielt an, bis es kurz davor war, unangenehm zu werden. Was gab es noch zu sagen? Sie passten nicht zueinander. Den Termin hätten sie sich sparen können.
Die Schwacke seufzte. »Sehr schade!«, sagte sie. »Keine Chance?«
»Ich fürchte nein.«
Weidenfeld erhob sich zufrieden. »Okay, dann – wo haben Sie denn Ihre Toiletten? – Sorry.«
»Kein Problem«, sagte Julien höflich, »links und wieder links.«
Weidenfeld verließ das Büro. Die Schwacke seufzte noch einmal und zog ihren grünen Kaschmirschal enger um ihre Schultern.
»Tja, Herr Lemaire«, sagte sie und lächelte.
»Tja, Frau Schwacke.« Julien lächelte zurück. Er leerte sein Glas und behielt es in der Hand.
»Ich finde es wirklich schade«, sagte sie, »denn – ganz ehrlich? Ich glaube, Sie wären der Richtige für unser Projekt.« Dabei schaute sie ihn wieder so an.
Julien hielt sein Glas fest in der Hand. »Wie kommen Sie darauf?«
»Sie sind so … Wie soll ich sagen? So bestimmt. Die brauchen wir für unsere Arbeit, Bestimmtheit.«
»Vielen Dank«, sagte Julien.
»Außerdem glaube ich, so unpolitisch, wie Sie tun, sind Sie gar nicht.«
»Glauben Sie.«
»Ja, das sagt mir mein Gefühl.«
Ihren Versuch, privat zu werden, blockte er sofort ab. »Ich will Ihre Gefühle nicht verletzen«, antwortete er kühl, »aber ich bin wirklich der unpolitischste Mensch der Welt.«
»Und ich würde schon vermuten, dass Sie wissen, was Armut ist.«
»Ach so?«
»Nur, weil Sie es hier so schön haben … Ich meine, das ist ja kein Grund. Das eine schließt das andere nicht aus.«
»Sie finden also nicht, dass ich ein Glaubwürdigkeitsproblem habe?«
»Ach, Herr Lemaire, kommen Sie!« Sie lachte. »Frisch von der Uni, beseelt von der reinen Lehre – nehmen Sie ihm das nicht übel.«
»Sowieso nicht«, sagte Julien. Was interessierte ihn dieser Mann. Was interessierte ihn diese Frau? Er stellte sein Glas auf dem Tisch ab. »Es tut mir wirklich leid, aber so, wie ich es einschätze, wird das Projekt sehr langwierig. Über das Titelblatt wird abgestimmt, jede einzelne Illustration lang und breit im Plenum diskutiert. Nach einer Woche steht das alles in keinem Verhältnis mehr. Nehmen Sie es mir nicht übel.«
Ihr Gesichtsausdruck fror ein bisschen ein. »Haben Sie was gegen Basisdemokratie?«
»Natürlich nicht.«
Das war billig von ihr. Er hatte sie gekränkt.
»Ich will bloß sagen, ich habe für so etwas leider keine Zeit. Und man muss auch mit dem Herzen dabei sein. Das bin ich nicht. Ich habe andere Prioritäten«, sagte Julien.
»Die ich überhaupt nicht kritisiere.«
»Das würde ich Ihnen auch nicht unterstellen.«
»Tja dann – schade, wie gesagt.«
Sie erhoben sich gleichzeitig, sie schaute ihn noch einmal an, freundlich, fast verschwörerisch.
»Vielleicht ein andermal«, sagte sie.
»Vielleicht«, sagte er und gab ihr die Hand. »Hat mich sehr gefreut.«
Weidenfeld stand im Türrahmen. »Ach, sind wir durch?«
»Evidemment.« Julien reichte ihm lächelnd die Hand. Er begleitete die beiden nicht zum Fahrstuhl, sondern nickte nur noch einmal, schloss dann die Tür hinter ihnen und riss alle Fenster auf. Er lehnte sich hinaus und atmete tief ein.
Dass es nicht zu einem Auftrag gekommen war, fand er nicht weiter schlimm, im Gegenteil war er erleichtert. Mit jemandem wie Weidenfeld würde er keine Sekunde zusammenarbeiten können. Solche Projekte brachten ihn nicht weiter. Außerdem kamen sie ihm viel zu nah.
Als Harriet ihren Tee ausgetrunken hatte, war ihr noch immer keine passende Headline eingefallen. Dabei hatte sie sich Zeit gelassen, die Tasse mit beiden Händen umfassend und nach jedem Schluck spürend, wie die heiße Flüssigkeit ihre Speiseröhre hinab lief und ein angenehm warmes Gefühl in ihrer Brust erzeugte. Sie bildete sich ein, dass gleichzeitig die spirituelle Essenz des Tees in ihr Hirn aufstieg und sie bereicherte. Bis heute waren die besten Momente die Sonntagmorgen, an denen sie ohne Wecker früh aufwachte, sofort aufstand, um sich einen Tee zu kochen und sich damit wieder ins Bett zu legen; den ersten Schluck trank sie mit geschlossenen Augen und lauschte dem vor dem Fenster entstehenden Tag. Sie war dann eins mit sich und der Welt, froh, dass es niemanden gab, der neben ihr lag.
Hier in der Agentur waren die einzigen Trostmomente ebenfalls die Teemomente, und sie tat ihr Möglichstes, sie in irgendeiner Form zu zelebrieren. Sie passte die Zeiten ab, in denen sich niemand in der Teeküche aufhielt, um dort das Kochen des Wassers und das Ziehen des Tees in ihrer schönen dunkelroten Tasse zu beaufsichtigen. Sie entzog sich dem Drumherum und dem Denkprozess, der sie beschäftigte, indem sie, an die Spüle gelehnt, auf den Wasserkocher oder in die Tasse starrte. Zurück am Arbeitsplatz versuchte sie dann, das Gefühl von Nichts noch ein bisschen zu konservieren, indem sie langsam trank und auf die erhellende Kraft des Tees hoffte.
Heute hoffte Harriet vergebens; der letzte Schluck war getrunken, von Geistesblitz keine Spur. Sie war zu weit abgetaucht, das Sinnieren über den Tee hatte sie weggeführt von ihrem Thema: Einsatzmöglichkeiten von hydrophobem Spezialzement. Sie stellte ihre Tasse ab und ließ ihren Blick durch die Agentur schweifen.
Alle um sie herum schienen konzentriert bei der Arbeit. Susan links neben ihr photoshopte an einer Illustration, erst jetzt nahm Harriet ihr pausenloses Geklicke wahr. Anett gegenüber starrte auf ihren Bildschirm, hinter dem sie halb verborgen war. Das Mausklicken, das etwas leiser klang, verriet ihre einzige Bewegung. Harriet wandte sich um, dort saß der Praktikant, den sie an eine Art Beistelltisch gequetscht hatten. Sein Arbeitsplatz war dem Raum zugewandt, sodass die Sonne von hinten auf seinen Bildschirm fiel. Um etwas sehen zu können, kniff er ständig die Augen zusammen und beugte sich weit vor. Der Praktikant war bestimmt einsneunzig groß, Harriet fand es entwürdigend, wie er an dem winzigen Tisch über seiner Tastatur hing. Auch Jan und Erik saßen konzentriert vor ihren Rechnern.
Julien war der Einzige, der nicht auf der großen offenen Fläche arbeitete. Er hatte ein eigenes Büro, durch eine gläserne Wand vom Rest der Etage getrennt: ein durchgestyltes Schaufenster, in dem er sich beim Arbeiten bewundern lassen konnte. Harriet sah zu ihm herüber. Sein Besuch war gegangen, er räumte das benutzte Geschirr auf dem niedrigen Glastisch zusammen. Die breite Fensterfront seines Büros ging auf den Fleet hinaus. Harriet hätte selbst gern ein Büro mit Fleetblick gehabt, oder wenn schon kein eigenes Büro, dann wenigstens einen Arbeitsplatz. Auch deshalb hielt sie sich oft in der Teeküche auf, weil sie von dort aus hinunter auf das Wasser zwischen den Häuserschluchten schauen konnte, den Ponton, die Menschen. So wie Harriet es verstand, war Julien kein Angestellter der Agentur, sondern Freelancer und Mieter seines Büros. Sie bedauerte, dass sie kaum mit ihm zu tun hatte. Sie fand es sympathisch, dass er das alles hier nicht ernst zu nehmen schien, am wenigsten Erik, der ihr mit seiner Wichtigtuerei auf die Nerven ging. Sie beobachtete Julien, wie er das Geschirr in die Küche brachte, spülte und in den Schrank zurückstellte.
Es wurde einfach nichts mit dem Spezialzement, wieder schweifte sie ab! Harriet sah auf die Bildschirmuhr. Erst halb zwölf! Sie beschloss, jetzt schon Mittagspause zu machen. Vielleicht lag es ja am fehlenden Frühstück, dass sie sich heute auf nichts konzentrieren konnte? Der Zusammenhang zwischen vernünftiger Ernährung und geistiger Leistungsfähigkeit war ihr durchaus bewusst. Praktischerweise würde sie durch eine frühe Pause auch den anderen entkommen; auf gemeinsames Sushi hatte sie überhaupt keine Lust. Auf einsame Antipasti im Hanseviertel allerdings auch nicht! Harriet überlegte kurz und rief Andrea an.
»Harriet, wie schön. Das ist ja Gedankenübertragung!«
»Ach wirklich?«, fragte Harriet erfreut. »Wie das?«
»Ich dachte eben noch, wie lange wir uns nicht gesehen haben, obwohl du jetzt fast nebenan arbeitest«, sagte Andrea, »und dass ich dich doch mal wieder anrufen muss.«
»Wollen wir heute Mittag zusammen essen? Du hast nicht zufällig Zeit?«
Harriet ignorierte Susan, die sich demonstrativ mit ihrem Stuhl von ihr wegdrehte, senkte aber die Stimme. Susan fühlte sich immer von ihr gestört. Gott sei Dank verließ sie die Agentur Ende der Woche, um in ihr Heimatdorf bei München zu ziehen und dort ihren Jugendfreund zu heiraten. Im Grunde alles Spießer, dachte Harriet.
»Heute … Also wenn, dann aber nicht zu spät«, sagte Andrea. »In einer halben Stunde?«
»Gerne! Wo wollen wir hin? In eure Kantine?«
»Davon hab ich gerade genug. Zu fettig! Was hältst du von der Kombüse? Um die Zeit kriegen wir noch einen Tisch. Wollen wir uns da treffen?«
»Nein, ich hole dich ab, was meinst du?«
»Oh, wie kommt’s? Ich dachte, du stehst nicht auf spießige KMUs?«, fragte Andrea. Harriet hörte sie lächeln.
»Grundsätzlich richtig, aber jetzt brauche ich unbedingt einen Tapetenwechsel. Und Bewegung. – Bis gleich dann, tschüss tschüss!«
Sie informierte Erik im Vorbeigehen.
»Jetzt schon?«, fragte er misstrauisch.
»Ich muss mal auf andere Gedanken kommen, Erik, mir fällt gerade nichts zu meinem Text ein.« Das war ungeschickt, aber nun schon gesagt. Erik reagierte natürlich sofort.
»Hast du Probleme damit?«
»Nein.« Harriet winkte ab. »Nein, überhaupt nicht. Ich finde es nur schwierig, so ein Thema familiär und innovativ klingen zu lassen.« Wie albern, dachte sie, aber so hatte es der Geschäftsführer des Baustoffherstellers ausgedrückt, für dessen Internetauftritt sie die Texte schrieb.
»Deswegen sollst du es ja machen«, sagte Erik. »Eine Herausforderung!«
Das war wohl ermutigend gemeint. Harriet fand es dumm.
»Selbstverständlich, mein Lieber. Nach meiner Pause.« Sie wollte los, aber so schnell ließ sich Erik nicht abfertigen. Er sieht seine zweitausend Euro durch die Lappen gehen, dachte sie, er tat ihr leid; andererseits, wenn einem der Chef leid tat, machte das den Job noch deprimierender.
»Wirst du denn rechtzeitig fertig?«, fragte Erik besorgt. »Ich meine, die Seite soll ja–«
Sie versuchte es mit Charme. »Wenn du mich jetzt gehen lässt«, sagte sie und lächelte.
»Wann bist du zurück?«
»Das weiß ich nicht genau. Ich bin mit Andrea Kröger verabredet – du weißt ja, Von de Vos und Siemssen.«
Namedropping war schlechter Stil, zog aber immer bei simplen Gemütern wie Erik. Er richtete sich sofort in seinem Stuhl auf. »Ah, ach so, ja – dann … Lass dir Zeit! Und beste Grüße!«
»Richte ich aus, sie wird sich freuen.«
»Sehr gut! Gut.«
Auf dem Weg zum Fahrstuhl warf sie noch einen Blick in Juliens Büro. Julien saß in gespannter Haltung an seinem Schreibtisch, leicht vorgebeugt, wie bereit zum Sprung. Auf einem seiner beiden Bildschirme war ein strenges, elegantes Layout zu sehen. Als sie vorbeiging, schaute er jedoch kurz auf, ihre Blicke kreuzten sich. Sie lächelte ihm zu, er nickte, ohne zu lächeln, und wandte sich gleich wieder ab.
Es war noch deutlich zu kühl für ihr dünnes Kleid. Der Wind blies ihr ins Gesicht, aber der Himmel war nahezu wolkenlos: ein herrlicher Frühlingstag! Die Arme fest vor der Brust verschränkt, ging sie schnellen Schrittes über die Schleusenbrücke, vorbei am Rathaus, die Straßen entlang. Bei der großen Kirchenruine angekommen, überquerte sie die Straße. Hier roch man schon den Hafen!
Sie betrat das Bürogebäude der Von de Vos & Siemssen GmbH & Co KG und stieg die Treppen hoch bis zur dritten Etage. Dort klingelte sie und nannte an der Rezeption ihren Namen, sie wolle zu Frau Kröger. Während die Dame hinter dem Empfangstresen Andrea anrief, sah Harriet sich um. Spießig hin oder her, sie mochte die Atmosphäre. Der Empfang hatte etwas Aus-der-Zeit-Gefallenes; im Vergleich zur halbseidenen Agentur wirkte er wohltuend seriös mit seiner elektronischen Zeiterfassung und der leisen Geschäftigkeit im Hintergrund, gedämpften Schritten auf Teppichböden, korrekt gekleideten Herren im Anzug. Die Damen trugen Kostüm oder zumindest Rock. Alle Pflanzen auf der Fensterbank waren grün und wiesen keinerlei vertrocknete Stellen auf.
»Nehmen Sie doch einen Moment Platz«, sagte die Empfangsdame und wies auf die Sitzgruppe neben der Eingangstür. »Ich erreiche Frau Kröger gerade nicht.«
»Sie erwartet mich«, sagte Harriet.
Die Dame musterte sie. Harriet in ihrem Blümchenkleid sah in ihren Augen offenbar nicht aus wie jemand, den die Leiterin der Unternehmenskommunikation erwarten könnte. »Das kann ja sein, Fräulein Hellmann«, sagte sie misstrauisch, »trotzdem muss ich ja–«
»Hollmann«, unterbrach Harriet. »Harriet Hollmann.«
»Hollmann!«, rief die Dame. »Ach so! Ja dann!«
Dass man in dieser Stadt nichts erreicht, ohne einen Namen zu haben, dachte Harriet, albern ist das. Über das Fräulein ging sie hinweg. So war das eben bei spießigen KMUs.
»Entschuldigen Sie, ich hab Sie aber nu gar nicht erkannt!«
»Das macht doch nichts.«
»Sie sind doch … sind Sie nicht eine Freundin von Frau Kröger?«
»Ja, wir kennen uns aus der Schule. Es ist aber schon her, dass ich–«
»Haben Sie die Haare anders?« Und innerhalb eines Augenblicks wich die professionelle Reserviertheit, mit der unbekannte Besucher, Vertreter und aufdringliche Frager abgewimmelt wurden, einer nahezu schwesterlichen Vertrautheit, die nur darin begründet lag, dass Harriet jetzt Fräulein Hollmann war.
»Die Haare? Ja, etwas kürzer vielleicht.«
»Also sonst hätte ich Sie doch erkannt!«
»Bestimmt!«
»Dann gehen Sie man hoch zu Frau Kröger. Wenn sie Sie erwartet, kann sie ja nicht weit sein«, sagte die Dame.
»Danke, Frau …?«
»Paulsen!«
»Frau Paulsen«, sagte Harriet, schon im Gehen begriffen.
»Ach, warten Sie – nehmen Sie doch den Fahrstuhl, Fräulein Hollmann! Ich gebe Ihnen einen Besucherausweis«, rief ihr Frau Paulsen hinterher.
»Keine Umstände, bitte, ich nehme die Treppen.«
»Haha, ja, Sie sind ja noch jung!«
»Ja, das- ja, danke.«
Von de Vos & Siemssen belegte drei der fünf Etagen des Gebäudes. Im dritten Stock befanden sich Empfang, Buchhaltung und IT, im vierten Marketing, Vertrieb und Personalverwaltung, und ganz oben saß die Geschäftsführung mit ihren Assistenten sowie die Unternehmens-kommunikation. Der Fahrstuhl endete für Normalsterbliche im dritten Stockwerk; die Mitarbeitenden der Vier stiegen dann die Treppe hoch. Die Leute aus der Fünf aber besaßen einen Transponder für den Fahrstuhl und gelangten so vom Erdgeschoss aus direkt in ihre Etage. Ihr Besuch, so er nicht abgeholt wurde, erhielt am Empfang eine Chipkarte, um den Fahrstuhl nutzen zu können. Manchen Menschen war eben nicht zuzumuten, Treppen zu steigen und dabei an Sekretärinnen und Sachbearbeitern vorbeizugehen.
Harriet wäre im Traum nicht eingefallen, den Fahrstuhl zu benutzen. Sie hatte keine Lust, beim Einsteigen dem Geschäftsführer zu begegnen. Außerdem gab es immer etwas zu sehen, wenn man zu Fuß ging, so wie sie gern die öffentlichen Verkehrsmittel nutzte, um für eine kurze Zeit Einblick in das Leben der Anderen zu erhaschen. Also stieg sie die mit blauem Teppich ausgelegten Treppen in die fünfte Etage hoch. Dort öffnete sich ein großer Flur, von dem aus alle Türen abgingen. Hier oben war es noch stiller als unten, der Boden mit einem dickeren, cremefarbenen Teppich ausgelegt. Fast alle Türen waren verschlossen, so auch die einzige Milchglastür; hinter der befand sich der Bereich des Geschäftsführers: die Büros von Berend Von de Vos und seiner Sekretärin Frau Harms auf der einen Seite, das von seiner Kommunikationsfrau Andrea Kröger auf der anderen. Und am Ende des Gangs, mit Panoramablick über die Stadt, lag der Konferenzraum.
Sie war Von de Vos noch nie persönlich begegnet und legte auch keinen Wert darauf. Daher vermied sie eigentlich, Andrea an ihrem Arbeitsplatz zu besuchen. Als eine der beiden Hollmanntöchter war sie zwar den Umgang mit sogenannten hohen Tieren von klein auf gewohnt, im Gegensatz zu ihrer Schwester aber besaß sie nicht die Gabe, sich entsprechend zu verhalten. Was sie selbst als Direktheit ansah, wurde vom Gegenüber oft als taktlos erlebt. Es mangelte ihr weder an Respekt noch an gesellschaftlichem Savoir-faire, ihr fehlte schlichtweg das Interesse. Die meisten Persönlichkeiten von Format empfand sie als erschreckend banal; die Gesellschaft, in der sie aufgewachsen war, langweilte sie über die Maßen. Es waren die Menschen außerhalb dieser Sphäre, die ihre Neugier weckten.
Leise öffnete sie die Milchglastür. Andreas Büro stand offen. Ihre Freundin saß am PC und schrieb, sie sah auf, als Harriet sanft an den Türrahmen klopfte.
»Da bist du ja! Frau Paulsen hat schon angerufen.«
»Ich bin zu Fuß hochgeschlichen, um der Prominenz aus dem Weg zu gehen«, sagte Harriet und musste über sich selbst lachen.
Andrea sah sie aufmerksam an. »Frierst du? Ich dachte, es wäre so warm?« Sie schüttelte den Kopf. »Was hast du denn auch für ein Fähnchen an!«
»Mir war heute danach. Das fehlt ja noch, dass ich meine Garderobe nach dem Wetter richte.«
»Nein, das kann man dir natürlich nicht zumuten.« Andrea lächelte. »Wenn du noch eine Minute hast, dann schreibe ich eben die Mail fertig.«
Harriet nahm auf dem Besucherstuhl Platz, einem Freischwinger mit weißen Polstern. Sie wippte ein bisschen und sagte: »Ich hab alle Zeit der Welt. Als ich Erik gesagt habe, dass ich mit dir verabredet bin, hat er mir quasi den ganzen Nachmittag frei gegeben.«
»Erik?«
»Erik Schober. Mein Chef. Und ich soll dir schöne, nein, beste Grüße bestellen.«
»Ach, der. Du liebe Zeit. Na vielen Dank. Das ist auch so ein …«
»Schnacker«, sagte Harriet. Ihre Ohren glühten, ihre Nase war immer noch eiskalt.
»Schnacker!«, rief Andrea. »Du sagst es. Gestern musste ich noch mit ihm telefonieren. Ich wollte hören, ob schon klar ist, wer unsere Aufträge bearbeitet, wenn eure Grafikerin geht.«
»Tut mir leid für euch, aber ich bin froh, wenn sie weg ist. Auch so eine furchtbare Person.« Harriet seufzte. »Ich weiß leider nicht, wer sich darum kümmern wird. Aber Erik hat ja noch ein paar Leute.«
»Das hoffe ich! Gestern konnte er mir jedenfalls noch nichts dazu sagen. – Pass auf, ich schreibe noch die beiden Mails, dann bin ich gleich entspannter. In Ordnung? Willst du ein Wasser?«
»Nein danke, mir ist noch so kalt.«
»Es wäre zimmerwarm.«
»Ich bin fein, schreib du man deine Mails.«
»Wie du meinst.« Andrea wandte sich wieder dem Rechner zu, Harriet schaute aus dem Fenster.
Auch Andrea hatte ein Büro mit Fleetblick, ein schönes, stilles, ab-schließbares Büro. Von ihrem Platz aus konnte Harriet den Michel sehen, wenn sie sich umwandte, sah sie Katharinenkirche und Elbphilharmonie. Harriet betrachtete ihre Freundin, die mit konzentrierter Miene ihre Mails schrieb. Andrea war die personifizierte hanseatische Businessfrau: dezent geschminkt, Perlen im Ohr, helle Bluse, schmale Armbanduhr. Mit dem rötlichblonden Bob und dem sommersprossigen Teint wirkte sie sehr englisch. Nicht nur optisch passte sie perfekt hierher, Andrea war auch perfekt für den Job, fand Harriet, klug, kompetent, kühl und immer gelassen. Fast beneidete Harriet sie um ihren festen Platz in der Welt. Dann fiel ihr Blick durch die offene Tür auf das gegenüberliegende Büro. Dort saß Von de Vos; sofort war es mit dem Neid vorbei. Sie hörte auf zu wippen und setzte sich auf dem Stuhl zurecht.
»Bin gleich so weit«, sagte ihre stets aufmerksame Freundin.
»Ach, alles gut«, sagte Harriet rasch.
»Was macht der Text?«, fragte Andrea, ohne aufzusehen.
Harriet überlegte; nicht zu kritisch, dachte sie. Andrea hatte ihr den Job in der Agentur vermittelt, wohl wissend, dass das für Harriet als Germanistin eigentlich nichts war. Besser als nichts, hatten sie gedacht. Seit drei Monaten arbeitete Harriet nun für WSR. Es war der falscheste Job, den sie hätte annehmen können, aber mangels Alternative und nicht zuletzt Andreas wegen wollte sie nicht gleich wieder hinschmeißen. Also antwortete sie: »Ja, läuft.«
»Klingt nicht so überzeugend. Woran arbeitest du?«
»Hydrophober Spezialzement.«
Andrea sah auf. »Okay?«
»Interessant, oder?«
»Was ist das Spezielle daran? An diesem Zement?«, fragte Andrea. Das Telefon klingelte. Sie sah auf das Display. »Entschuldige kurz.« Sie nahm ab. »Kröger. – Herr Doktor Mertens, das ist schön, dass Sie zurückrufen. Wir können unseren Termin auf nächsten Donnerstag verschieben … Ja, ich bin auch froh, da bleibt uns – genau. Ich … Ich würde dann um 15 Uhr bei Ihnen sein? Wunderbar! Ich schicke Ihnen gleich eine Terminbestätigung … Danke, Herr Doktor Mertens, Ihnen auch. Wiederhören, bis Donnerstag … Danke!« Andrea legte auf und schrieb weiter. »Du warst bei Zement«, sagte sie.
»Willst du das wirklich wissen?«, lachte Harriet. Ich könnte das nicht, dachte sie.
»Na klar.«
»Hydrophob heißt wasserabweisend. Du verbaust ihn für Autobahnen oder Rollfelder. Zum Beispiel.«
»Aha. Und den musst du jetzt verkaufen? – Ich bin gleich fertig.«
»Nein«, sagte Harriet, »die haben ihren Markt. Sie wollen nur ihre Website ein bisschen aufjazzen. Die ist aus dem letzten Jahrtausend.«
»Du liebe Zeit.«
»Eben. Das ist auch ganz nett mit dem Zement, als Texterin erfährt man ja immer neue Sachen. Was es alles so gibt auf der Welt! Leider ist der Geschäftsführer mein Ansprechpartner, und als ich ihm die ersten Texte geschickt habe und um ein Feedback bat, sagte er, das ginge erst in zwei Wochen. Das macht meine Frau, und die ist beim Skifahren.«
Andrea lachte. »Ernsthaft? Ich dachte, das ist ein Klischee.«
»Von wegen.«
Auf dem Flur waren zwei Männer zu hören, die sich laut unterhielten und näher kamen. Harriet wurde unruhig.
Andrea lächelte. »Fertig«, sagte sie. »Genau im richtigen Moment.« Sie stand auf und kippte das Fenster. Einer der Männer betrat das Büro gegenüber, ohne Andreas offener Tür Beachtung zu schenken. Der andere aber steckte den Kopf herein.
»Hey, Andrea.« Er war blond und frisch. Er trug einen dunkelbraunen Anzug und ein rosa Vichykarohemd. Seine Augen waren blau. Er nickte Andrea zu, dann fiel sein Blick sofort auf Harriet. »Du hast Besuch!?«
Harriet spürte, wie ihr die Hitze ins Gesicht schoss.
»Hallo Thies«, sagte sie. Ihn hatte sie ja völlig vergessen!
Er stutzte und lächelte, dann betrat er das Büro. »Kennen wir uns?«, fragte er.
»Also Thies, als ob du Harriet nicht mehr kennst!«, rief Andrea, während sie ihren Mantel anzog. Harriet erhob sich und zupfte ihr Kleid zurecht. Thies sah sie amüsiert an; in seinem Blick lag bereits etwas Lauerndes.
»Harriet Hollmann«, sagte sie betont kühl. »Wir waren zusammen auf dem Gymnasium.«
Thies schien zu überlegen. Sein Gesichtsausdruck erhellte sich. »Harriet Hollmann! Aber natürlich! Entschuldige, dass – schön, dich zu sehen!« Er reichte ihr die Hand.
»Sehr«, sagte sie und griff zu. »Also ja, auch sehr schön, dich zu sehen.«
»Harriet«, sagte er, noch immer ihre Hand haltend, er lächelte ein Lächeln, das eine ganze Flut von Erinnerungen in ihr auslöste. »Aber nein, warte«, sagte er, seine Hand war warm. »Ich war doch total verknallt in dich! Wie konnte ich das denn vergessen?!« Er musterte sie unverhohlen.
»Das war nicht Harriet«, sagte Andrea hinter seinem Rücken. Sie sah Harriet eindringlich an und machte eine Handbewegung zur Tür.
»Nein?«, fragte er. Es schien ihm kein bisschen peinlich.
Harriet lächelte und entzog ihm ihre Hand. Er hatte noch genau denselben Blick wie damals und denselben gedankenlosen Charme. »Das war meine Schwester.«
»Deine Schwester? Ach richtig! Wie hieß sie noch – warte … Hanna! Nein, Anna. Oder Ellen … Elinor!«
»Helen. Sie war in deiner Stufe. Ich bin zwei Jahre jünger.«
Die Tür gegenüber wurde aufgerissen. »Und noch etwas, Frau Harms! Wenn ich noch einmal jemanden mit Kaffeetasse über den Flur laufen sehe!«
»Ja, Herr Von de Vos«, kam es aus dem Zimmer nebenan.
»Das ist unprofessionell! Ich dulde das nicht!«
»Wir haben schon Aushänge in den Pantrys–«
»Aushänge, dumm Tüch! As wenn dat wat helpt! Sorgen Sie dafür, dass die Leute sich daran halten!«
»Ja, Herr Von de Vos.«
Die Tür wurde laut knallend geschlossen, Von de Vos verließ die Etage. Fürchterlich, dachte Harriet, und dass dieser Mann Thies’ Onkel war. Andrea und Thies sahen einander an.
»Tja, die Döör weer to«, sagte Thies lächelnd, sofort wandte er sich wieder Harriet zu. Seine Augen schimmerten; sie waren gar nicht blau, sondern grün. »Helens kleine Schwester. Aber wann haben wir uns das letzte Mal gesehen?«
»Ach, das ist bestimmt zehn Jahre her, wenn nicht noch länger«, sagte Harriet. Wie sie sich früher danach gesehnt hätte, dass er sie so ansah! Jetzt amüsierte es sie, sich an die Siebzehnjährige zu erinnern, die ihn heimlich angeschmachtet hatte. »Aber ich bezweifle, dass du mich überhaupt mal angesehen hast, Thies. Soweit ich mich erinnern kann jedenfalls nicht.«
Ihre Antwort schien ihn zu überraschen, etwas in seinem Blick änderte sich. »Ach was, nein? Das kann ich mir nicht vorstellen. Hast du denn damals so anders ausgesehen?«
»Eigentlich nicht.«
»Also dann ist mir das ein Rätsel.«
»Mir nicht«, sagte sie lächelnd. »Ich war nie auf den richtigen Parties. Und segeln auch nicht. Außerdem, wer kuckt schon auf die kleine Schwester, wenn er scharf auf die große ist?«
Und da wurde er tatsächlich verlegen, oder wenigstens tat er so. Mein Lieber, dachte sie, du hast dich kein bisschen verändert.
Andrea atmete hörbar aus. »Können wir dann?«
»Oh, ihr wollt los? Wohin?«, fragte Thies.
»Raus, was essen«, sagte Andrea, sie stand schon halb auf dem Flur, »und Frauengespräche führen. Falls du auf die Idee kommen solltest, mitzukommen.«
»Wie schade. Ich hatte in der Tat kurz gedacht – aber wenn ihr vielleicht später auf einen Kaffee …?«, fragte er, ohne Harriet aus den Augen zu lassen.
»Nein, Thies, heute nicht«, sagte Andrea.
»Na gut, dann ein andermal. Hat mich jedenfalls sehr gefreut, Harriet.« Thies wollte sie vorbei lassen, wie aus Versehen trat er ihr dabei genau in den Weg, sekundenlang berührte er ihren Arm. »Und entschuldige nochmal. Ich hoffe, ich kann das bald wieder gut machen«, sagte er und schenkte ihr noch einmal seinen schimmernden Blick.
»Das musst du nicht«, antwortete sie, »ich bin kein bisschen gekränkt, falls du das dachtest. Aber so, wie ich dich erinnere, denkst du das sowieso nicht.«
Als sie im Fahrstuhl standen, warf Andrea ihr einen genervten Blick zu. »Meine Güte«, sagte sie kopfschüttelnd, »Ich dachte schon, der lässt dich gar nicht mehr gehen.«
»Ja, der gute Thies. Er ist noch genau wie früher. Witzig eigentlich.«
»Was hast du erwartet? Jemand wie er ändert sich nie.«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte Harriet. Die Situation war doch irgendwie prickelnd gewesen. So hatte sie schon lange keiner mehr angesehen. Es würde sicher keine zwei Tage dauern, bis er sich bei ihr meldete. Thies ist wirklich immer noch Thies, dachte sie, denn eines hatte sie sofort gespürt: Sein Jagdinstinkt war geweckt.
Wenn er nicht auf einem Außentermin ist, geht Thies in die Kantine der Hansebank. Die Mitarbeiter der Firma Von de Vos & Siemssen sind dank einer Vereinbarung berechtigt, sie zu nutzen; das Gebäude liegt gleich um die Ecke. Die meisten von ihnen essen hier täglich zu Mittag. Es ist gut für das Betriebsklima, wenn sich der Assistent des Geschäftsführers dort sehen lässt. Das macht ihn menschlich und nahbar. Man kann ihn aus der Nähe betrachten und feststellen, dass er auch bloß Menü II isst und nicht wie die Bereichsleiter und Vertriebschefs mittags in teure Restaurants geht oder ganz betriebsam auf die Pause verzichtet. Er lächelt die Frau an der Essensausgabe an und sagt: »Das sieht aber wieder sehr gut aus, Frau Petrovič!«, denn natürlich kennt er ihren Namen; er zahlt bar aus seiner abgenutzten, edlen Brieftasche, ohne Rabatt und ohne über den Preis zu meckern, wünscht der Frau noch einen schönen Tag und trägt sein Tablett wie jeder andere auch.
Am Tisch sitzt er meistens mit Andrea und Rahn, dem Personaler; wenn Andrea nicht da ist, setzt er sich auch mal zu den Personalsach-bearbeiterinnen, die angeregt lachen und sich auf jede seiner Fragen und charmanten Bemerkungen einlassen. Er will sie nicht aushorchen, er isst und nimmt Anteil am Betriebsgeschehen wie jeder andere auch. Oder er sitzt bei den anderen Assistenten, Bergmann (Markt) und Gombrowicz (Export). Es ist nicht ganz so entspannt mit ihnen wie mit den Damen aus der Personalabteilung, denn jeder ist sich selbst der Nächste, und die beiden trauen Thies vielleicht nicht ganz über den Weg. Er ist immerhin der Neffe des Geschäftsführers. Aber Thies versteht seinen Job, denn obwohl er in der Schweiz und den USA studiert hat, ist er ein echter Hamburger Jung geblieben; wirklich niemand kann sich seinem Charme entziehen. Argumentieren, überzeugen, Konversation betreiben egal auf welchem Niveau, das beherrscht Thies wie kein Zweiter. Wo sein Onkel Berend Von de Vos in seinem patriarchalischen Auftreten eher an einen Industriefürsten aus dem 19. Jahrhundert erinnert, ist Thies schon fast volksnah. Er lacht über dieselben Witze wie alle anderen Mitarbeiter, er geht auch selbst zur Materialausgabe und holt sein Druckerpapier persönlich ab. Man könnte beinahe vergessen, dass er in ein paar Jahren der wichtigste Mann im Unternehmen sein wird (denn natürlich zieht sich Von de Vos mit ihm seinen Nachfolger heran), so authentisch wirkt er, so sympathisch und down to earth, sähe man ihn nicht abends – Sonnenbrille auf, am kleinen Finger blitzt der Siegelring – wie er in seinem Jaguar aus der Tiefgarage schießt, mit quietschenden Reifen auf die Ost-West-Achse abbiegt und in Richtung Elbchaussee davonjagt, ohne sich um rote Ampeln und Fußgänger zu kümmern.
Heute gibt es neben Cordon bleu und vegetarischer Lasagne als drittes Essen Scholle Finkenwerder Art: Immer ein lokales Gericht auf der Menükarte, darauf legt die Hansebank großen Wert. Und die Erdbeeren im Dessert kommen aus dem Alten Land und nicht aus Spanien oder Marokko. Thies nimmt natürlich Gericht III, und weil Andrea nicht da ist, setzt er sich heute mal zu den Jungs aus der IT. Die beiden ernsthaften Herren unterhalten sich über Fachliches, aber wenn der Herr Nygaard zu ihnen an den Tisch kommt, lassen sie sich gern in ein Gespräch mit ihm verwickeln.
»Das Sicherheitskonzept, das Sie da neulich vorgestellt haben«, sagt Thies, »das haben Sie sehr gut gemacht.«
»Vielen Dank.«
»Es ist natürlich eine Umstellung. Ich muss mich immer bewusst an die Verschlüsselung erinnern. Das wird bestimmt noch eine Weile dauern, bis alle das verinnerlicht haben. Aber das kann ich verstehen, wie gesagt«, sagt Thies und lächelt.
Der Blonde (Name vergessen! Der will Karriere machen. Bereichsleiter Interne Dienste ansprechen, nach Namen fragen und danach, ob der Mann was taugt) antwortet bereitwillig auf Thies’ freundlichen Kontrollversuch. »Ach Herr Nygaard, alles, was neu ist, ist ja erst mal schwierig. Es liest ja auch nicht jeder die Anleitung, das wär immerhin mal was. Und die Damen tun sich damit sowieso schwerer, haha!«
»Haha!«
»Aber wir sind selbstverständlich immer für die Kollegen–«
»Und Kolleginnen!«
»–und Kolleginnen, klar, also natürlich sind wir für die da, und der externe Servicemitarbeiter setzt sich auch neben die und erklärt ihnen alles, die Verschlüsselung, den Passwortschutz bei den Ablagen undsoweiterundsofort.«
»Sehr gut.«
Der andere Kollege isst schweigend und nickt höflich. Heute läuft es etwas zäh. Thies lässt es bei diesem Ansatz bewenden und beendet sein Essen. Er ist heute selbst nicht ganz bei der Sache. Seine Gedanken sind woanders.
Bei Harriet.
Nach der Kantine schaut er direkt bei Andrea vorbei, aber die ist noch nicht wieder zurück. Also geht er erst mal in sein Büro und ruft Mails ab, beantwortet oder löscht sie und führt ein paar Telefonate, die nicht viel Konzentration erfordern. Nach einer Dreiviertelstunde versucht er es nochmal bei ihr. Er hält sich gar nicht erst mit anrufen auf, sondern geht gleich zum Bürotrakt hinter der Milchglastür. Andrea ist da, bei offener Tür sitzt sie vor ihrem Rechner und tippt. Thies schlendert vorbei, als wolle er zu seinem Onkel, wie zufällig bleibt er vor ihrer Tür stehen.
»Ach hallo!«
»Hallo Thies.« Andrea schaut kurz auf und schreibt weiter.
»Sag mal, was ich dich fragen wollte – Harriet«, sagt er und lässt es ganz beiläufig klingen.
Nun hört sie auf zu tippen und wendet sich ihm zu. »Ja?«, antwortet sie und sieht ihn aufmerksam an.
»Ich wusste ja gar nicht, dass du noch mit ihr zu tun hattest – oder hast.« Er lehnt sich gegen den Türrahmen, die Hände in den Hosentaschen.
»Doch, wir hatten über die Jahre immer Kontakt.«
»Hast du gar nicht erzählt.«
»Ja weshalb denn auch? Ich wusste ja nicht, dass dich das interessiert. Vielmehr sie«, entgegnet Andrea.
»Ach ja, nun … Wenn man mal wieder jemanden von früher trifft …Was macht sie denn so? Beruflich, meine ich?«
»Sie hat in Berlin Germanistik und noch irgendwas studiert. Was war es noch … ach, ich komm gerade nicht darauf. Jedenfalls, da ist sie mit ihrem Magister wohl nichts geworden und hat so ein bisschen herumgejobbt. Ich hab ihr dann geholfen, hier was zu finden, aber eigentlich nur fürs Erste.«
Thies sieht nicht Andrea, sonst könnte ihm auffallen, wie angespannt ihre Haltung ist; er sieht nur auf ihren Mund, hört die Informationen, die dort herauskommen und filtert sie nach Relevanz.
»Aha. Was für einen Job?«
Andrea legt die Hände in den Schoß. »So, hat er dir nichts erzählt?«
»Wer?«
»Erik Schober. Dein Spezi aus dem Fitnessclub.«
»Erik? Sag bloß, sie arbeitet bei WSR? Seit wann denn das?«, fragt Thies überrascht. Erik! Quatscht ihn ständig mit irgendwelchem irrelevanten Scheiß voll, aber die wirklich wichtigen Informationen, die behält er dann für sich!
»Seit Januar.«
»Ach was! Und was macht sie da?«
»Texterin.«
»Texterin!« Harriet Hollmann in Eriks Agentur!
»Okay«, sagt er. »Und das gefällt ihr? War sie nicht immer so ein bisschen … intellektuell? Was man so intellektuell nennt. Oder was ich mir darunter vorstelle.« Dass solche Studiengänge Taxifahrer und Nachhilfelehrer produzieren, das hat Thies sich schon gedacht. Aber Geisteswissenschaften und Werbung? Na ja!
»Ja, das stimmt wohl«, sagt Andrea. »Eigentlich ist Werbetext auch nichts für sie. Aber von irgendwas muss man ja leben. – Ich meine, nicht, dass sie das nötig hätte«, fügt sie etwas spitz hinzu.
Thies denkt nach. Was kann er daraus machen? Mitten in seine Gedanken hinein sagt Andrea: »Sie ist Single. Das wolltest du doch sicher auch noch fragen.«
»Wieso?«
»Ach Thies.«
»Was?«
Andrea sieht ihn immer noch mit ernster Aufmerksamkeit an. »Sie ist doch gar nicht dein Typ.«
Thies lacht. Wer ist schon sein Typ? Alles, was zwei Beine hat.
Sie neigt den Kopf ein wenig. Ja, sie kennt ihn. »Und sie ist meine Freundin«, sagt sie.
»Also sag mal! Bist du eifersüchtig?«, fragt er. Er lächelt, sie erwidert sein Lächeln. Er kennt sie auch.
»Hätte ich denn Anlass dazu?«
»Ich bitte dich! Ich erkundige mich freundlich nach deiner Freundin, und du–!« Er schüttelt den Kopf und schenkt ihr einen ernst gemeinten Blick. »Außerdem, du weißt doch, sollte ich es je mit einer ernst meinen, dann doch nur mit dir«, sagt er und zwinkert. Als würde er es jemals ernst meinen.
Andrea, seine Frau für alle Fälle. Sie schaut immer noch besorgt, aber sie lächelt noch. »Da bin ich ja beruhigt«, sagt sie, bereitwillig geht sie auf sein Geplänkel ein.
»Na also.«
Er braucht einen Grund, Harriet wiederzusehen, ohne dass jemand misstrauisch wird. Jemand: Andrea. Harriet zum Essen einzuladen, das wäre zu direkt und ihm eigentlich auch zu platt. Aber da kommt ihm eine Idee. Er nimmt die Hände aus den Taschen, schlägt mit der Linken leicht gegen den Türrahmen, täuscht kurz das Weggehen an und sagt dann in besorgtem Ton:
»Aber hör mal – im Ernst, was textet sie denn da? Das ist doch keine richtige Agentur, WSR. So weit ich weiß, arbeiten die doch nur für Handwerksbetriebe und Boutiquen.«
»Na ja, und für uns.«
»Wie? Für uns?«
»Also Thies! Du hast denen doch damals den Geschäftsbericht gegeben. Susan Moser, du erinnerst dich? Die Grafikerin? Ziemlich arrogant, laut, etwas üppig … straßenköterblond …«
Oh oh, ja, Susan. Ganz unangenehme Erinnerung. Aber jeder kann mal danebengreifen.
»Und unsere Mitarbeiterzeitung machen sie auch«, sagt Andrea.
»Ach so, tatsächlich? Dann können sie ja so schlecht nicht sein. Ich werd mir wohl was dabei gedacht haben«, lächelt Thies.
»Ich könnte mir schon denken, was«, kontert sie spitz; er muss schnell zurück zum Thema:
»Und Harriet, was textet sie so?«
»Spezialzement.«
»Interessant.« Thies betritt nun Andreas Büro und setzt sich auf die vordere Ecke ihres Schreibtischs. Sie beobachtet ihn. Es muss nun anteilnehmend, aber sachlich klingen. »Das kann aber doch nichts für sie sein«, sagt er und stützt die Hand neben ihrer Tastatur auf.
»Nein, vielleicht nicht«, antwortet Andrea und wirft einen Blick auf den Flur. Sie denkt natürlich daran, welchen Eindruck das macht, wenn jetzt der Alte vorbeikommt. Das weiß Thies selbst, dass das für sie nicht so gut aussieht, aber er hat sein Image und muss auch etwas dafür tun.
»Aber jetzt, wo wir davon sprechen«, sagt er und lässt es wie einen in der Sekunde gekommenen Gedanken klingen. »Mir fällt da gerade was ein. Ich glaube, wir hätten tatsächlich was für sie.«
»Wir?« fragt Andrea, sofort beleidigt. »Was denn? Ich schreibe unsere Texte. Wir haben noch nie einen Externen–«
»Nein, natürlich nicht!«, ruft er. »Doch nicht für – nein! Aber ich bitte dich, Frau Kröger!« Andrea darf nicht misstrauisch werden.
»Ich wundere mich nur.« Sie klingt skeptisch und sieht ihn auch so an. Er muss jetzt etwas Distanz schaffen, setzt sich auf und verschränkt die Arme vor der Brust, Hände in den Achselhöhlen, Daumen nach oben, ein Zeichen von Dominanz.
»Nein, es geht um Folgendes. Heute Mittag hab ich mit den IT-Leuten zusammengesessen und wir haben über das neue Sicherheitskonzept gesprochen. Ich finde es gut, aber das Handbuch ist furchtbar. Das liest kein Mensch, und selbst wenn – man versteht es nicht«, sagt er sachlich.
»Ja, da hast du Recht. Es ist ziemlich umständlich geschrieben. Aber gut, ist eben IT«, sagt Andrea.
Sie mit ins Boot holen, als Fachfrau mitentscheiden lassen. Sie ernst nehmen, den Blick intensivieren. Er weiß, dass sie seinem Blick nicht widerstehen kann. (Wer kann das schon.)
»Ich habe natürlich zuerst an dich gedacht! Aber erstens haben andere Sachen Prio, und zweitens«, er lächelt, »wärst du damit ja – ich sag es, wie es ist – unterfordert. Das wäre schon ein bisschen, na ja, das hält nur auf. Also dich, meine ich.« Andrea ist unempfänglich für Schmeicheleien, es sei denn, sie kommen von ihm.
»Klar, für sowas hab ich eigentlich keine Zeit.« Sie zögert. »Vielleicht hast du recht und das wäre was für sie. Ich meine, schreiben kann sie ja.«
»Auf jeden Fall würde sie das besser hinkriegen als die IT. Ansprechender. Ich will nicht sagen, literarisch, aber – ansprechender eben. So, dass das auch die Kolleginnen lesen.« Harriet nicht die Qualifikation absprechen, aber sie doch leicht herabsetzen. Und wenn es gegen die weibliche Konkurrenz innerhalb des Ladens geht, ist Andrea immer auf seiner Seite. Sie lächelt, sie ist fast schon überzeugt.
»Aber ob sie Lust darauf hat? IT-Security ist auch nicht gerade sexy.«
»Immerhin besser als Zement! Oder? Außerdem ginge der Auftrag offiziell an Erik, und der nimmt auf jeden Fall an.«
»Aber wie willst du das denen von der IT beibringen? Die lassen sich doch da nicht reinreden?«
Geht doch. Andrea ist sein bester Mann.
»Ich rede mit Jansen. Seine Leute haben selbst mehr oder weniger zugegeben, dass Schreiben nicht gerade ihre Kernkompetenz ist. Der wird froh sein, dass wir ihn unterstützen.«
»Meinst du. Und wenn nicht?«
»Wenn nicht«, sagt er und steht auf. »Wenn ich ihm einen freundlichen Vorschlag mache, wird er wohl kaum diskutieren.« Er lächelt; er ist schließlich nicht irgendwer.
»Natürlich nicht. Ich nehme an, den freundlichen Vorschlag möchtest du ihr dann auch …?« Hat er sie noch nicht ganz überzeugt von seinem rein professionellen Interesse an ihrer hilfebedürftigen Freundin?
»Nein.« Er steht schon im Flur und legt die Hand nochmal auf den Türrahmen. »Übernimm du das doch bitte, würdest du? Und ich klär das mit der IT, ich versuch es gleich mal bei Jansen.« Und mit Wärme in der Stimme, leiser, vertrauensvoll: »Ich finde es wirklich großartig, dass du sie da unterstützt. Geisteswissenschaftler sind ja in der Regel nicht überlebensfähig, wenn man ihnen nicht auf die Sprünge hilft.« Noch ein bisschen Wir gegen Die und dann ist gut.
»Das ist wahr«, sagt Andrea. Na also. »Ich ruf sie an. – Sehen wir uns heute Abend?«
Und da muss er doch abblocken, ihr wieder klar machen, dass aus ihrer Vertrautheit nicht automatisch irgendwelche Ansprüche erwachsen. Thies braucht aber nicht zu lügen, als er sagt: »Im Prinzip gern, aber morgen um sechs geht es nach Göteborg. Da will ich es heute mal nicht so spät werden lassen, und ich hab sowieso noch einiges dafür vorzubereiten.« Zum Beispiel das Abendessen mit der Marketingfrau klar machen. Wie heißt sie noch, Ann? Anna? Customer Relationship Management übernimmt Thies immer gern persönlich, vor allem bei dieser schwedischen Reederei. »Tut mir leid. Aber Freitag bin wieder zurück, und dann sehen wir mal.«
»Okay. Dann viel Erfolg.« Andrea hat verstanden. Sie lächelt etwas gequält, aber sie ist ja ein tapferes Mädchen, seine Andrea.
Auf dem Weg in sein Büro plant er die nächsten Schritte. Wenn Erik zusagt, und warum sollte er nicht, muss sie auf jeden Fall mindestens einmal hierher kommen und mit den IT-Leuten reden. Thies könnte sie in Empfang nehmen als derjenige, der die Idee hatte, dorthin begleiten und das Gespräch moderieren. Danach könnte er mit ihr in die Kantine gehen (müsste dabei aber Andrea in Kauf nehmen) oder draußen irgendwo essen. Später besucht er sie dann mal in der Agentur oder – noch besser! – holt sie spontan dort ab. Er gibt sich zwei Wochen, bis er sie hat. Es ist fast wieder zu einfach, so einfach, es könnte ihn langweilen.
Aber Harriet ist anders als die, die er bisher hatte, und eigentlich wirklich nicht sein Typ. Flachbrüstig und zu mager, und dieses Kleid! Andererseits hat sie Beine bis zum Hals und einen sehr vielversprechenden Mund. Die gute Herkunft merkt man ihrer Haltung an, sie hat schon etwas Aristokratisches. Es war aber ihr Blick, der ihn geweckt hat, diese Angriffslust in den braunen (blauen?) Augen: Hinter ihrer spröden Art lauert das Weib. Bestimmt hat sie bisher immer nur irgendwelche verkopften Waschlappen im Bett gehabt und noch nie einen Mann, der ihr zeigt, was man alles aus einem weiblichen Körper herausholen kann. Dann wird es allerhöchste Zeit.
Thies sieht sie schon neben sich im Cabrio sitzen, die Elbe entlang, im flatternden Röckchen, seine Hand auf ihrem nackten Oberschenkel. Es könnte aufgrund ihrer Art aber doch ein Stück Arbeit werden; also gut, sagt er sich, drei Wochen. Die Aussicht darauf erfreut ihn, wie jede neue Herausforderung, wie die leichte Erektion, die ihm dieser Gedanke verschafft, und pfeifend schließt er die Bürotür hinter sich.
Fünfundachtzig überfällige Wiedervorlagen und sechzehn nicht beantwortete Nachrichten – ein Grund, sich sofort krank zu melden! So nicht, dachte Henning, loggte sich aus und ging zu Hajos Büro. An dessen Tür hing zwar das Bitte nicht stören-Schild, aber wenn er heute sein Pensum schaffen wollte, duldete die Angelegenheit keinen Aufschub. Er klopfte an und wartete die Antwort nicht ab, sondern trat direkt ein. Hajo saß an seinem Schreibtisch und las das Abendblatt. Überrascht schaute er auf.
»Moin Henning!«
Henning hielt sich nicht mit vorgeschobener Höflichkeit auf. »Fünf Minuten, Hajo. Es ist dringend«, sagte er in der seiner Empörung entsprechenden Lautstärke: gleich signalisieren, dass hier mindestens Alarmstufe dunkelorange herrschte, wenn nicht sogar schon hellrot. »Wenn du mal in meinen Kalender schaust, siehst du, dass ich jetzt eigentlich Besseres zu tun hätte. Ich bin dicht mit Erstvorsprachen! Aber wir müssen reden, und zwar sofort.«
»Oh«, sagte Hajo, »so dringend.«
»Noch dringender.«
»Ach so. Verstehe.« Hajo rieb die Handflächen aneinander, dadurch die sich anbahnende Überforderung eingestehend. Und das wollte ein Teamleiter sein. Lächerlich! Nichts verstand er!
Henning schloss die Tür hinter sich und nahm auf dem Besucherstuhl Platz. Hajo faltete die Zeitung zusammen, legte sie beiseite und richtete sich ein bisschen auf.
»Ja, dann erzähl mal. Was hast du denn auf dem Herzen?«
Henning fegte den Versuch, gute Stimmung zu machen, direkt vom Tisch. »Es geht um Sandras Bewerberstamm«, sagte er.
»Den hatte ich dir gestern Nachmittag noch überstellt, hast du–?«
»Deswegen ja! Ich hab mir das eben mal angesehen. Hajo, das ist eine Zumutung! Sie hat jahrelang nichts gemacht! Nichts!«
Hajo legte die Hände in den Schoß. »Ja, ach so, wirklich?«, fragte er und schaute Henning ganz betroffen an.