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Julien und Henning ist jedes Mittel recht, um den anderen in die Knie zu zwingen. Henning droht über die eigene Intrige stolpern, Julien sieht sich enttarnt und fragt sich: Wofür das alles? Was will ich wirklich? Entschlossen geht Elli immer geradeaus, vom Rand zur Mitte der Gesellschaft; Harriet nimmt lieber lustvolle Umwege hinaus aus ihrer Blase – aufzuhalten sind beide nicht. Sogar für den ewig hadernden Siegfried erhellt sich der Horizont (dieses Jahr wird alles besser!), während sich Thies' Welt langsam verdunkelt. Er trifft eine Entscheidung, die nicht nur sein Leben grundlegend verändert … So oder so, alles muss sich ändern: (Lebens-)Lügen, Fake News oder (Betriebs-)Geheimnisse: Alles kommt ans Licht. Doch denen, die es wagen, in die eigenen Abgründe und über den Tellerrand zu schauen, eröffnen sich neue Perspektiven, überraschende Allianzen entstehen – und überall erblüht die Liebe: Eine bessere Welt ist möglich! Teil 2 der Trilogie »Sex und Sozialkritik«
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Seitenzahl: 1268
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Gabriel Gerling
So oder so
(Alles muss sich ändern)
Sex und Sozialkritik II
Roman
Texte: ©Copyright by Gabriel Gerling 2025
Covergestaltung: ©Copyright by Gabriel Gerling 2025
Verlag:
Gabriel Gerling
Berliner Straße 48-50
51063 Köln
Vertrieb:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Für Vera
»I have no doubt I shall, please Heaven,
begin to be more beforehand with the world,
and to live in a perfectly new manner, if—in short,
anything turns up.«
Charles Dickens,
David Copperfield
Impressum
Widmung
Zum Geleit
Inhalt
Juli (Julien III)
Die Ruhe nach dem Sturm
Les enfants terribles
Das Ende der Welt, wie er sie gern hätte
L’homme de sa vie (immer noch, mehr denn je)
Wolframs Tochter (Harriet)
Feine Unterschiede
Die Verwandlung (Julien IV)
Julien und Henry (Julien V)
Der Fluch des Zigeuners
Siegfried muss los!
Unter Menschen
Feuersturm
Das Ende von Lemaire
Wer Wind sät
Männer im Hotel
Thies contra mundum
Die Gosse und die Sterne
Frauen im Café
Das Elend der Welt
Einen hat er noch
Eröffnungsspiel
Wer ihn liebt, nimmt den Zug (und dann den Jaguar)
Mann über Bord
Champagner für alle!
Sagen Sie doch Elli!
Remis
Das Wunder von Altona
Steinbock Aszendent Fisch
Die Neumann Show
Er kam und blieb (Andrea)
Dat Enn vun weg
Ankunft am Ende der Nacht
If/else
Nur aus Liebe
C’est fini
Dienstagnacht und Mittwochmorgen
Der gläserne Käfig (Julien VI)
Schau heimwärts, Julien
Neue Ufer
Einer von Denen
Männer, die sich schlecht benehmen
Kleine Schwestern
Der letzte Kunde
Zum Horizont
Véronique hatte ihm gedroht, zur Polizei zu gehen. Sie beschuldigte ihn, sich Elli unsittlich genähert zu haben, genauso sagte sie es, und dafür habe sie Beweise! Julien war geschockt, wie kam sie darauf? Sowas würde er niemals tun, sich Kindern unsittlich nähern, was sollte das überhaupt heißen? Er liebte die Kinder und sie ihn, gerade Elli; seit beinahe zwei Jahren tat er alles für sie, aber er fasste sie doch nicht unsittlich an! Véronique hörte gar nicht auf, ihn anzuschreien, er schrie zurück, wie sie dazu komme, sie erfinde das doch nur, weil sie selbst unfähig sei, für ihre Kinder zu sorgen und er sich kümmere; wäre er nicht, würden sie alle völlig verwahrlosen, und sie habe doch bloß Schiss davor, dass er wirklich zum Jugendamt gehe! Denn das hatte Julien vor. Die Familie brauchte Hilfe. Zwar hielt er nichts vom Jugendamt, die hatten ihn damals schließlich hängen lassen, aber er wusste nicht, an wen er sich sonst wenden sollte, und er würde denen vom Amt schon klar machen, wie dringend die sich um die Kinder kümmern mussten. Es war zu viel für ihn allein. Er konnte nicht mehr.
An dem Mittwochabend, an dem er zum ersten Mal in ihrer Küche saß, machte sie ihm sofort klar, er sei Schuld daran, dass ihr Leben sei wie es sei, nur seinetwegen sei sie von ihren Eltern verstoßen worden und habe von Anfang an keine Chance gehabt. Das könne er ja nun wieder gut machen, indem er seine Schuld bei ihr abarbeite, außerdem brauche sie Geld. Und auf keinen Fall dürften Jürgen und die Kinder erfahren, wer er sei. Nur wenn er dem allen zustimme, dürfe er wiederkommen, ansonsten solle er verschwinden und sich nie wieder blicken lassen. Sie rauchte, mit erhobenem Kopf sah sie ihn an, ihrer Mutter so ähnlich, dass es Julien erschauern ließ. Sie sprachen französisch, auch das verlangte Véronique, damit ihr Mann und die Kleinen sie nicht verstanden. Sie lachte und sagte, hat Jules immer noch kein Deutsch gelernt, und dass die ahl Schabrack all die Jahre nichts dagegen habe tun können! Damit meinte sie Doris. Julien fragte, ob sie ihm sagen würde, warum sie ihn bei Doris gelassen habe, und wer sein Vater sei, und wo — da schnitt sie ihm das Wort ab und sagte, vielleicht, beau gosse, vielleicht auch nicht. Erst zeigst du mal, was du kannst. Alors, que t'en dis?
Natürlich sagte er ja. Er hätte alles getan, um wiederkommen zu dürfen. Das kleine Mädchen saß die ganze Zeit über still auf seinem Schoß, an seine Brust gelehnt, eine Hand in seinem Haar, die andere auf seinem Arm, den er um sie gelegt hatte. Ihr zarter Körper strahlte solche Hitze aus, Julien begann unter seiner Trainingsjacke zu schwitzen. Er empfand sofort tiefe Liebe für das Kind und den Wunsch, sie zu beschützen. Wie er so in der unglaublich schmutzigen, nach Undefinierbarem riechenden Küche saß, lange Sonnenstrahlen fielen durch die dreckigen Fenster auf den mit Flaschen und Geschirr vollgestellten Tisch, dachte er, das hier war eine andere Art von Elend als seine Kindheit in Doris’ Straflager. Warum taten Erwachsene Kindern das an? Er war erschrocken über die Verwahrlosung, in der sie lebten. Der stumme Mann auf der anderen Seite des Tisches schaute vor sich hin, er drückte die fast verqualmte Zigarette aus und machte sich eine Neue an, alles ganz langsam, als müsse er erst überlegen, wie. Die Trostlosigkeit der Situation schnürte Julien den Hals zu. Er sah zu Véronique herüber, es durchfuhr ihn: Die ganze Zeit beobachtete sie ihn, wie er gedankenverloren das Kind auf das helle, nach Rauch riechende Haar küsste und seinerseits den Ehemann betrachtete. Die mag dich, sagte Véronique; ich mag die auch, sagte Julien und versuchte ein Lächeln, auf das ging sie aber nicht ein.
Sie trank Sekt, sie rauchte; sie fragte, wie alt bist du jetzt, sechzehn, siebzehn; sechzehn, sagte er; und gehst du noch zur Schule; nein; hast du denn Arbeit, wollte sie wissen; er sagte ja, und vielleicht bald eine Ausbildung, aber das interessierte sie nicht. Wieviel verdienst du, fragte sie; so dreihundert Mark im Monat, sagte er: sie sah ihn an, das ist aber nicht viel. Dann fragte sie noch, während sie die Zigarette ausdrückte, ob er eine Freundin habe; nein, sagte er, von Marcel erzählte er lieber nicht; aber du hattest schon mal eine, oder? Warum wollte sie das wissen? Ja, sagte er, um nicht weiter ausgefragt zu werden, warum wollten sie sowas immer wissen? Sie machte sich die nächste Zigarette an, die Luft war zum Schneiden dick, obwohl das Fenster auf Kipp stand, und mittendrin das Kind und irgendwelche Vögel in einem Käfig auf dem Kühlschrank, und in einer Ecke sah er einen großen Käfig auf dem Boden stehen. Hast du Doris gesagt, dass du hier bist, fragte sie. Er sagte, er wohne bei einem Arbeitskollegen und sei nur noch selten zuhause; er habe ihre Adresse nur zufällig auf dem Briefumschlag gesehen, als er mal da war. Halt bloß den Mund bei denen, sagte sie, die können mich mal. Jules hat ja nicht mal geantwortet auf den Brief, sowas nennt sich Eltern. Julien schwieg. Der warme Körper des Mädchens auf seinem Schoß wurde schwerer. Er beugte sich vorsichtig über sie, sie war eingeschlafen. Der Mann stand plötzlich auf und sagte, ich bin mal im Wohnzimmer, ich leg mich wat hin. Véronique antwortete nicht. Julien nickte ihm zu; tschö, sagte der Mann und verließ die Küche.
Was mach ich hier, dachte Julien, es war so unwirklich: Die fremde Frau, die seine Mutter sein sollte und so gar nichts Mütterliches hatte, und das Kind, das seine Schwester war. Mit einem Mal wünschte er sich, er hätte den Brief nie gefunden. Es wäre doch besser gewesen, er hätte von all dem hier gar nichts gewusst. Er hatte sich das ganz anders vorgestellt, aber wenn er an Doris dachte, dann wusste er, es wäre in jedem Fall schlimm gewesen. Julien ahnte, dass er sich gerade etwas auflud, das zu schwer für ihn war. Aber schon wegen des Mädchens in seinem Arm konnte er nicht mehr zurück. Die schläft, sagte er, wie heißt die denn? Gabrielle, sagte Véronique, wie die eine Schwester von Jules. Die andere heißt Annick, so hieß die andere Schwester. Sie lachte, hat nix genutzt, sagte sie, die Kinder interessieren den einen Scheiß. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Sie sah ihn nicht an wie einen, den man vermisst hat oder über den man sich freut, sondern wie jemanden, der einem gerade recht kommt. Julien fühlte sich nicht gut, er wollte gehen. Soll ich die ins Bett bringen?, fragte er. Sie nickte in Richtung einer offenen Tür. Da ist das Schlafzimmer, da kannst du die solang hinlegen, sagte sie. Julien stand auf, das schlafende Kind fest im Arm. Ihr Kopf sank auf seine Schulter, er spürte das kleine Herz gegen seine Brust schlagen. Er betrat ein Zimmer, das durch einen dünnen Vorhang geteilt war in einen größeren Raum und einen schmalen Durchgang, der in das Wohnzimmer führte. Julien schob den Vorhang beiseite. Die Gardinen vor dem Fenster waren zugezogen, der Raum dunkel und vollgestellt: Bett, Kleiderschrank, Wäschetruhe, ein aufgeklapptes Bügelbrett, Nachttische, und überall lagen Kleidungsstücke. An der einen Wand, gegenüber vom Ehebett, stand ein großer Schminktisch mit einem dreiteiligen Spiegel, auf einem Stuhl in der Ecke ein kleiner Fernseher. Zwischen all den Möbeln und dem Bett konnte man sich kaum bewegen. Julien zog den Überwurf und die Bettdecke zurück, alles war dünn, alt und steif, die Wäsche roch nach Rauch und zuviel Weichspüler. Er legte das Mädchen vorsichtig hin, dabei hielt er ihren Kopf. Sie war ganz verschwitzt, ihre Wangen glühten. Sanft deckte er sie zu und strich ihr das feuchte Haar aus dem Gesicht. Er kniete sich neben das Bett, auf den langfaserigen dunklen Teppich. Auf dem Nachttisch stand ein voller Aschenbecher. Julien sah das Kind an, es schlief tief und fest. Er strich leicht mit dem Handrücken über seine Wange. Ihm war so elend; nein, dachte er, du kannst nicht mehr zurück.
Er stand auf, nahm den Aschenbecher und zog den Vorhang hinter sich zu, da sah er Véronique im Türrahmen stehen. Sie war ihm gefolgt und hatte ihn beobachtet. Sie verunsicherte ihn. Verlegen hob er den Aschenbecher an und sagte, ich hab den hier mal das muss ja nicht sein, und wollte an ihr vorbei in die Küche. Sie blieb stehen, die Zigarette in der Hand, er musste sich an ihr vorbeizwängen. Fängst du schon an zu arbeiten, das ist gut, sagte sie. Ihm schoss die Hitze ins Gesicht.Wo ist der Mülleimer, fragte er und sah sie an. Hast du Geld, fragte sie. Sie zeigte auf einen Plastikeimer neben dem Herd. Er leerte den Aschenbecher aus, spülte und trocknete ihn ab und stellte ihn auf den Tisch, sie drückte ihre Zigarette darin aus. Und, fragte sie. Er hatte zwanzig Mark dabei, das war sein Rest für die Woche, die gab er ihr. Sie nahm den Schein und ließ ihn neben den Aschenbecher fallen. Hast du Telefon, fragte er, sie sagte, wenn die Rechnung bezahlt ist, dann wieder. Okay, sagte er, ich geh dann jetzt. Ich komm morgen nach der Arbeit, so sieben. Sie gab ihm nicht die Hand, sie stand in der Tür, als er ging, sie sagte nichts, sondern schaute ihn bloß an, die ganze Zeit über mit einem Blick, den er nicht deuten konnte, vielleicht Misstrauen, Verachtung, nein eher Gleichgültigkeit, auf jeden Fall keine Liebe.
Marcel erzählte er nichts davon. Er sagte nur, er müsse sich jetzt doch zuhause mehr kümmern, seine Oma sei krank und brauche Unterstützung. Marcel wunderte sich: Ich dachte, die interessieren sich nicht für dich, und Julien sagte, ja naja schon, aber ist ja Familie. Da seufzte Marcel, lag in seinem Lächeln etwas Abschätziges? Ja sicher, sagte er, dann musst du natürlich. Julien lag noch lange wach in dieser Nacht, in dem wunderschönen Bett unter der Satindecke, neben ihm schlief friedlich der Geliebte. Er war unendlich dankbar, hier und nicht mehr auf der Matratze in Doris’ Küche zu liegen, aber er schämte sich, wenn er an Gabrielle in dem zugemüllten Raum hinter dem Vorhang dachte.
Julien fuhr jeden Tag nach der Arbeit zu Véronique. Er fragte seinen Chef, ob er nicht mal früher kommen und früher gehen könne, aber Herkenrath sagte, es gibt keine früheren Schichten, er fragte, wozu denn? Ach, sagte Julien, ich muss mich kümmern, und der Chef lächelte auch, zwar etwas netter als Marcel, aber auch eher mitleidig. Also war Julien erst abends um sieben bei Véronique, sie sagte, das ist aber spät, kannst du nicht früher? Sie müsse abends weg. Wohin, das sagte sie nicht, und er war anfangs zu schüchtern, um zu fragen. Er wollte es sich nicht gleich mit ihr verderben. Als er wusste, dass sie weder arbeitete noch sonst eine Verpflichtung hatte, sondern nur in die Kneipe ging oder zu irgendeinem Mann, machte er ihr Vorhaltungen: Sie könne doch wohl mal zuhause bleiben! Nein, sagte sie daraufhin kühl, deshalb bist du ja hier.
Julien rauchte eine Schachtel am Tag und musste sich jeden Tag was zum Mittagessen kaufen, und er brauchte ja auch ab und zu sowas wie Deo zum Beispiel, aber selbst wenn er weniger rauchte und weniger aß und Marcels Deo benutzte, das Geld aus dem Kaufhaus reichte kaum, um damit auch noch Véronique und ihren Haushalt zu versorgen. Er fand noch zwei Putzjobs, beide schwarz; den einen machte er in einem Büro, morgens vor der Arbeit, den anderen freitags und samstags in einer Kellerkneipe. Aufräumen und putzen, das konnte er, das hatte er bei Doris mehr als gelernt. Er kniete sich rein in den Dreck und die Scheiße, hingebungsvoll und gründlich, und kroch in die letzten Ecken. Das ganze Geld vom Putzen ging für Véronique drauf, er gab ihr nicht nur was, sondern kaufte auch fast jeden Tag ein, bevor er zu ihr kam. Dort blieb er abends manchmal bis neun, zehn Uhr. Wenn er dann zu Marcel nach Hause kam, hörte er sich dort an, dass er ja gar keine Zeit mehr für ihn habe, und das sei hier kein Hotel, er müsse schon wissen, was ihm wichtiger sei, bei allem Verständnis. Ja, chéri, es wird ja bald besser, je te promets, sagte Julien dann. Weil er nun aber oft müde war und verschlief, und einmal war auch noch sein Reifen platt, kam er immer öfter zu spät zum Putzen und anschließend auch zu spät ins Kaufhaus, und er machte Fehler, weil er unkonzentriert war. Ich weiß, Familie ist wichtig, sagte Herkenrath, aber wenn du die Ausbildung hier willst, dann musst du dir was überlegen. So ging es drei, vier Monate, bis er den Putzjob im Büro verlor, und dann sagte Herkenrath, und es tat ihm wirklich leid, denn er mochte den Jungen, der sich die größte Mühe gab und wahrscheinlich der einzig Vernünftige in seiner Familie war, so gehe es nicht weiter. Ich hätte dich gern als Lehrling gehabt, sagte Herkenrath, du bist wirklich gut und fleißig, du hast was los, aber so funktioniert das nicht. Er kündigte ihm. Julien versuchte gar nicht erst, ihn umzustimmen, es funktionierte ja wirklich nicht. Er redete sich ein, dass er bei ihm eh zu wenig verdiente, der Arbeitsweg war zu weit, und er habe etwas viel Schöneres dafür erhalten, nämlich seine Familie. Aber ihm war klar, dass er eine solche Chance nicht noch einmal bekommen würde, es kam ihm vor, als gehe er an einer Weggabelung den falschen Weg entlang, im vollen Bewusstsein, dass der andere Weg der Richtige war.
Er fand einen Job in einem Supermarkt, der auf halber Strecke zwischen Marcels und Véroniques Wohnung lag, und dort konnte er früh anfangen, zuerst mit den üblichen Helferarbeiten, Waren verräumen, Müll entsorgen. Weil er die so gut machte und so sauber und ordentlich war, durfte er nach ein paar Wochen auch das Putzen übernehmen. Er verdiente weniger als bei Herkenrath, aber weil die ganze Fahrerei auf die andere Rheinseite wegfiel, hatte er viel mehr Zeit: Zeit für die Familie, für Marcel und noch andere Arbeit. Marcel erzählte er, Herkenrath habe sich für einen anderen Auszubildenden entschieden, und überhaupt könnten sie ihn jetzt nicht mehr brauchen. Marcel nahm das Gott sei Dank fraglos hin, er sagte bloß, wie ärgerlich, da machen sie dir solche Hoffnungen und dann—! Ach, ich find schon was anderes für Ausbildung, sagte Julien, und kuck mal, jetzt wir haben wieder mehr Zeit für uns, und er küsste Marcel und zog sein T-Shirt aus.
Wie er darauf gekommen war, zu sagen, er heisse Juli, das wusste er selbst nicht. Einer in der Schule hatte ihn mal so genannt, aber er wusste gar nicht mehr, wer und warum. Er hatte nur das Gefühl, für das Kind im Schlafanzug sei Juli passender als Julien. Am zweiten Abend, als er geklingelt hatte und vor der Wohnungstür wartete, hörte er eine Kinderstimme und dann aufgeregte, trampelnde Schritte. Mühsam wurde die Türklinke heruntergedrückt und die Tür aufgezogen, es war Gabrielle. Sie riss die blauen Augen auf, als glaubte sie nicht, dass er es wirklich war, sie strahlte und lachte. Juli!, rief sie. Ihm stiegen Tränen in die Augen. Noch nie hatte sich jemand so gefreut, ihn zu sehen. Sie stolperte auf ihn zu, so eilig hatte sie es, und umklammerte seine Beine. Schnell fuhr er sich mit dem Handrücken über die Augen, dann fasste er vorsichtig ihre Arme, machte sie von sich los und hockte sich zu ihr herunter. Hallo Gabrielle, sagte er; sie schaute ihn an, als ob sie ihn nicht verstehe. Véronique im schwarzen Morgenmantel erschien in der Tür, rauchend, mit ihrem unergründlichen Blick. Dis-lui Elli, sagte sie. Elli, sagte er und sah Elli an, das ist ja ein schöner Name. Sie lächelte, ja Elli, sagte sie, ihre Stimme war so zart und ein bisschen rau, und Juli! Sie legte ihre Arme um seinen Hals und wollte auf sein Bein klettern. Na komm, sagte er, hob sie hoch und trug sie in die Wohnung, fest an sich gedrückt und an ihrem Haar riechend, vorbei an Véronique, durch den winzigen dunklen Flur in die versiffte Küche.
Elli und Juli, das war Liebe auf den ersten Blick.
Annick, die Ältere von beiden, hatte normalerweise alle Aufmerksamkeit, mit ihr lief es zunächst zäh. Es passte ihr nicht, dass da jemand in ihr Leben gekommen war, ohne dass sie davon wusste, bloß weil sie ein paar Tage bei einer Schwester von Jürgen übernachtet hatte, und sie konnte erst recht nicht aushalten, dass Elli so an Julien hing und er sie so gern hatte. Laut und temperamentvoll und ganz anders als Elli, war sie zuerst unfreundlich zu ihm; sie probierte alle Schimpfwörter und Beleidigungen aus der Schule an ihm aus. Sie wollte nicht essen, was er kochte, sie wollte abends nicht ins Bett und machte Theater, wenn Elli sich auf seinen Schoß setzte: Sie wollte auch, obwohl sie gar nicht wollte! Julien liebte Elli, aber er mochte auch Annick sehr, gerade weil sie so selbstbewusst war. Sie hatte viel Ähnlichkeit mit ihrer Mutter, was ihre Art anging, und sie ließ sich nichts gefallen. Als sie sich an ihn gewöhnt hatte und merkte, er war für sie genauso da wie für ihre Schwester, klappte es auch mit ihr, und wenn er ihr abends bei den Hausaufgaben half, schaffte sie es, ruhig zu sitzen und sich zu konzentrieren.
Wenn er abends kam, liefen sie ihm oft schon im Hausflur entgegen, Elli fiel ihm um den Hals, Annick riss ihm die Einkaufstüte aus der Hand, was ist da drin?! Er konnte manchmal abgelaufene Ware aus dem Supermarkt mitnehmen, und er kaufte jede Menge ungesundes Zeug für sie, das sie liebten: alles, was er nie gehabt hatte. Und er brachte Kaffee mit, Sekt für Véronique, und Zigaretten ohne Ende. Véronique verlor nie ein Wort darüber. War sie noch da, wenn er kam, schaute sie nur zu, wie er den Kühlschrank einräumte und zu kochen anfing. Zuhause kochte Marcel, er selbst konnte ja nicht so viel, nur Nudeln oder Kochbeutelreis, was aus der Dose warm machen, irgendein Fleisch braten, Spiegelei, aber die Kinder aßen alles. Véronique aß nie mit, sondern saß daneben, trank, rauchte und beobachtete, vor allem ihn. Manchmal lag eine Rechnung auf dem Tisch, wenn er kam, Telefon, Strom, Quelle, FunkUhr-Abo, irgendwas, das er zahlen sollte, die steckte er schweigend ein.
Mit Jürgen verstand er sich gut. Jürgen war erwerbsunfähig; er hatte als Drucker gearbeitet und in jungen Jahren einen schweren Arbeitsunfall gehabt. Seitdem, oder vielleicht auch schon vorher, war er etwas langsam in allem. Julien dachte manchmal, dass er vielleicht irgendeine Behinderung hatte, so abwesend und unverständlich war er manchmal, als lebe er sein Leben irgendwo anders. Jürgen war ein harmloser Mann ohne Ansprüche. Julien glaubte, Véronique habe ihn genommen, weil er ihr gerade recht gekommen war: Er machte ihr zwei Kinder, bekam eine Rente und ließ sie ansonsten gewähren. Jürgen saß den ganzen Tag in der Küche, las den Wochenspiegel, löste Kreuzworträtsel, rauchte und trank Kaffee, während das Radio lief; nachdem Julien ihnen einen zweiten Fernseher gekauft hatte (der Preis dafür, dass die Kinder im Ehebett schlafen durften statt auf dem Wohnzimmersofa), saß Jürgen meistens im Wohnzimmer. Julien glaubte, dass Véronique ihren Mann manchmal schlug, wenn er ihr aus irgendeinem Grund im Weg war. Er sah an Jürgen ab und zu blaue Flecken, einmal dicht unter dem Auge, und das erinnerte ihn sehr an Doris, ebenso wie Véroniques abfälliger Ton ihrem Mann gegenüber und wie sie ihn herumkommandierte. Julien fragte ihn einmal vorsichtig danach, aber Jürgen sah ihn so verständnislos an, wie, sagte er, wat meinst do? Ming Frau?, da ließ Julien es bleiben. Sie saßen in der Küche, wenn Julien früh kam, dann rauchten sie, tranken Kaffee und hörten WDR4 das waren meistens die entspanntesten Minuten an Juliens Tag, es tat gut, dort einfach nur zu sitzen und zu sein. Dabei hatte er das Gefühl, Jürgen nahm ihn gar nicht wahr, oder eher so wie die Wellensittiche und Kaninchen. Nur einmal, als Julien den Tisch abwischte, ihm seinen Kaffee und seinen Aschenbecher hinstellte und die Express daneben legte, die er ihm gekauft hatte, da packte Jürgen ihn plötzlich am Handgelenk, schaute ihn an und sagte, dat es joot, dat do he bes, Jung, und das kam aus tiefstem Herzen, als wisse er doch vielleicht, wer Julien war. Nach der Zigarette mit Jürgen musste Julien seine häuslichen Pflichten erfüllen, und die Kinder bedrängten ihn. Annick wollte auf den Hof, sie wollte um den Block, sie wollte in die Wanne. Elli wollte nur ihn.
Sie hing die ganze Zeit an ihm, es war ihr egal, was sie machten. Wenn sie beim Essen nicht auf seinem Schoß sitzen durfte, setzte sie sich auf den Stuhl neben ihm und legte ihren Fuß auf sein Bein; wenn sie einkaufen gingen oder auf den Spielplatz, wollte sie an seine Hand; wenn er sie ins Bett brachte, kroch sie ganz eng an ihn: Immer suchte sie die körperliche Nähe. Julien fühlte sich ihr verbunden, er dachte, dass er in dem Alter ähnlich gewesen sein musste. Sie war nicht so schlau wie Annick, die immer einen Tick schneller reagierte als Elli, schlagfertig war und ein bisschen herrisch. Elli war ein sinnliches, gefühlvolles Kind, sie musste anfassen, um zu begreifen; sie reagierte auf Gerüche und Geräusche, sie war fasziniert von Farben, Glitzern, Knistern, Spinnennetzen, Pusteblumen. Wenn die Sittiche in der Mauser waren, sammelte sie die winzigen, weichen Federn vom Teppich auf und trug sie den ganzen Tag mit sich herum. Wenn Julien spülte, setzte er sie auf die Arbeitsplatte neben sich, und sie spielte mit dem Schaum. Sie konnte ewig vor dem Hamsterkäfig stehen, in dem nichts zu sehen war, weil der Hamster in seinem Häuschen schlief, und dann liefen ihr die Tränen über die Wangen, weil sie dachte, wie schön der es da drinnen hatte. Du Doof, du bist ja bescheuert, sagte Annick dann. Julien dagegen verstand sie. Und er war dankbar für ihre zärtliche Anhänglichkeit. Er war ohne jegliche Wärme und liebende Berührung aufgewachsen, jedenfalls konnte er sich nicht daran erinnern. Die erste wirkliche Zuwendung erhielt er von Marcel, da war er schon beinahe erwachsen, und dabei ging es, wenn er ehrlich war, nur um Sex. Dieser kleine Mensch hier überschüttete ihn mit Liebe und Zuneigung, Julien erwiderte sie und konnte all das wieder gut machen, was sie bei ihm versäumt hatten: Er hörte ihr zu, er war für sie da, er tröstete sie, sie verstanden sich, einfach so. Wenn sie abends irgendeinen Blödsinn im Fernsehen kuckten, Annick redete und zappelte auf dem Sofa neben ihm, dann sass Elli auf seinem Schoss, ein Fäustchen in seinem Haar, oder sie lehnte sich an ihn, in seinen Arm gekuschelt, mit offenem Mund auf den Bildschirm starrend und vielleicht schon halb am Einschlafen. Es machte ihn glücklich, sie einfach anzuschauen, das liebenswerte, ganz dem Augenblick hingegebene Kind, dann kitzelte er sanft ihren Bauch oder strich ihr über den Kopf, und sie sah ihn an, lächelte und warf sich in seine Arme.
Aber Véronique! Er war noch nicht zu Hause angekommen nach dem ersten Besuch bei ihr, da wusste er, er war wie sie und sie wie er, jetzt würde er endlich alles erfahren. Aber half ihm das, jetzt noch? Während er ihr zugehört hatte und so wie sie ihn ansah, sah er sich und verstand sich selbst, ohne dass er hätte erklären können, warum. Er fürchtete Véronique, so sehr er sich lange Zeit nach ihr gesehnt hatte. Er benahm sich höflich und freundlich, er versuchte, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen, bloß, damit sie ihn nicht wieder wegschickte. Er wollte ihr zeigen, dass er ein guter Sohn war, er wünschte sich, dass sie ihn liebte. Aber das, was er ihr bot – Geld, Zeit, Arbeitskraft, Aufmerksamkeit – war nie genug. Sie nahm ihn hin, als sei er eine Selbstverständlichkeit. Er hatte das Gefühl, sie zu enttäuschen, genau wie Doris; die Schuld, die sie ihm auflud, nahm er an. Sie dachte auch gar nicht daran, mit ihm über das zu reden, was er wissen wollte, und er wagte nach seinem ersten Versuch erst mal nicht, sie zu fragen. Er kam fast täglich zu ihnen, verrichtete seinen Dienst, kümmerte sich um die Kinder, Jürgen, die Tiere, den Haushalt, alles unter den immer leicht missbilligenden Blicken der schweigenden Frau im schwarzen Morgenmantel, die selten lächelte und kaum mit ihm sprach. Sie rauchte Kette, sie trank viel. Jeden Abend, wenn er ging, warf er die leeren Sektflaschen vom Tag davor in den Müll.
Nach zwei Wochen hatte er offenbar die Probezeit bestanden. An einem Abend stand die Tür offen, niemand erwartete ihn dort. Als er die Küche betrat, sah er Véronique am Küchentisch sitzen und sich die Nägel lackieren. Sie trug nicht ihren schwarzen Morgenmantel, sondern ein blaues Kleid, etwas zu eng, zu kurz, mit einem tiefen Dekolleté. Sie war stark geschminkt, auf der Straße hätte er sie nicht erkannt. Annick setzte sich gerade wieder auf einen Stuhl und wedelte mit den Händen. Juli Juli, rief sie, als sie ihn sah, kuck! und zeigte ihre roten Nägel, aber die müssen noch trocknen! Er lächelte. Elli stand auf der anderen Seite neben Véronique und schaute ihrer Mutter wie gebannt zu. Kann ich auch, fragte sie mit ihrem rauen Stimmchen, und Véronique sah sie liebevoll an und sagte, gleich, mein Schätzelein, wenn die Mama fertig ist. Elli strahlte, dann erst nahm sie ihn wahr, aber sie kam nicht wie sonst auf ihn zugelaufen, sondern blieb stehen; mit leuchtenden Augen sagte sie, ich krieg auch! Das ist ja schön, sagte Julien. Er stellte die Plastiktüte ab und fing an, auszupacken; es gab ihm einen Stich, dass sie ihn so ignorierte, und das seltsame Idyll, das sich ihm bot, verwirrte ihn. Mach mal den Sekt auf, Jung, sagte Véronique, sie sprach zum ersten Mal Deutsch mit ihm. Er sah sie erstaunt an. Sie hob den Kopf. Trinkst du einen mit mir? Du trinkst doch schon, oder? Eigentlich nicht, wollte er sagen, aber ihre erste zugewandte Geste direkt abzulehnen, das wollte er nicht. Klar, sagte er, sie lächelte ihn zum ersten Mal an, jo dann kumm, maach, sagte sie. Und dein Mann, fragte er, wo ist der denn? Der Jürjen, sagte sie, immer noch lächelnd, der ist im Wohnzimmer, da sitzt der jut. Du kannst dem mal ein Bier bringen. Das tat Julien, nachdem er ihr den Sekt eingeschenkt hatte, der Jürjen freute sich, und als Julien wieder bei ihr am Tisch saß, hatte sie Elli auf ihrem Schoß und lackierte dem Kind, das glücklich und mit roten Wangen die Aufmerksamkeit der Mutter genoss, in Ruhe die kleinen Fingernägel. Er betrachtete sie und ihre Töchter. Annick hing an Véroniques Arm, weil sie schon wieder nicht aushalten konnte, dass Elli jetzt von ihr ablenkte, und er dachte, in all der Verwahrlosung und dem Chaos wurden sie geliebt, und sie liebten ihre Eltern. Er beneidete sie. Sein Blick ruhte auf Elli, die fasziniert ihre Hände anschaute, an die Brust ihrer Mutter angelehnt; bestimmt roch sie ihr Parfum und spürte ihren Herzschlag. Jetzt lass die Händchen mal auf dem Tisch, dat muss trocknen, Liebelein, sagte Véronique und küsste sie auf die Stirn. Dann nahm sie ihr Glas und sah ihn an, Prost, sagte sie, und da sahen ihn auch die Mädchen an, als ob sie sich jetzt erst wieder daran erinnerten, dass er ja auch noch da war. À la nôtre, sagte er, das hatte er sich bei Marcel angewöhnt, Véronique lächelte, und in dem Moment, das wurde ihm aber erst viele Jahre später klar, nahm er die Rolle an, die er fortan spielen würde: nicht nur die des fürsorglichen Bruders, sondern des Ernährers und Mannes, ihres Mannes im Haus. Sie blieb noch, während die Kinder aßen, danach machte sie sich fertig zum Ausgehen. Zum Abschied gab sie den Mädchen einen Kuss, seid lieb und schlaft schön, nahm ihre Handtasche und wandte sich zum Gehen. Und bei ihm, der die Reste von ihren Tellern in den Müll kippte und das Spülwasser einlaufen ließ, verabschiedete sie sich, indem sie ihm über die Wange strich und sagte, à demain; sie lächelte. Er war zu überrascht, um zu reagieren, er stand an der Spüle, erschrocken und beglückt, und sah ihr nach, bis Annick rief, Juli, das Wasser!
Einmal teilte ihn sein Vorgesetzter für eine Spätschicht in einem anderen Markt ein. Er würde nach der Arbeit zwanzig Minuten länger zu Véronique brauchen als sonst. Also dachte er, er könne auch genauso gut vormittags zu ihr fahren und putzen, dann müsste er abends nur noch kochen und mit den Kindern Hausaufgaben machen. Er würde nach dem Aufräumen noch einen Kaffee mit Jürgen trinken und dann zur Arbeit fahren.
Einen Schlüssel hatte sie ihm nach seiner Probezeit gegeben. Dass sie zuhause war, glaubte er nicht, und wenn, dann würde sie ihn ignorieren wie sonst auch. Er schloss die Tür auf und rief, Jürgen, ich bin’s, der Juli. Aber als er die Küche betrat, fand er sie leer. Er steckte den Schlüssel ein, zog seine Jacke aus und hängte sie über einen Küchenstuhl. Der Tisch war ausnahmsweise noch relativ aufgeräumt, vermutlich hatten sie nicht gefrühstückt und Véronique war noch nicht nach Hause gekommen. Jürgen?, rief er und ging in Richtung Wohnzimmer, da hörte er Véronique: Der ist beim Frühschoppen! Ihre Stimme kam aus dem Raum hinter dem Vorhang. Er blieb mitten im Durchgang stehen, mit ihr hatte er nicht gerechnet. Entschuldigung, sagte er, ich wusste nicht ich wollte weil ich kann heute Abend erst— Komm rein, sagte sie. Und wieder stand er an einer Weggabelung, wieder sah er den richtigen Weg und ging den Falschen. Fahr nach Hause, komm heute Abend wieder, dachte er, aber sein Gefühl sagte, scheiß drauf, und er schob den Vorhang zur Seite. Die Gardinen vor den Fenstern waren einen Spalt breit offen, so dass genug Licht in das Zimmer fiel; die Nachthemden der Kinder lagen auf dem Boden neben Véroniques Handtasche, ihrer Unterwäsche und ihren Schuhen, das blaue Kleid war über dem Bügelbrett ausgebreitet. Die Tür des Kleiderschranks stand offen, zwei Schubladen am Schminktisch waren aufgezogen. Und inmitten des Durcheinanders Véronique, rauchend und ein Romänchen lesend, im Bett. Als Julien das Zimmer betrat, sah sie auf.
»Du kannst mir mal einen Kaffee machen, beau gosse«, sagte sie. Ihre Stimme war ein wenig heiser, aber sie klang freundlich. Sie sah ihn an, als sei die Situation die Normalste von der Welt.
»Ich wusste nicht, dass du zuhause bist. Ich, weil—«
»Vas-y, dépêche-toi.«
Er ging zurück in die Küche, verwirrt und zutiefst beunruhigt.
Es war ja nicht schlimm, dass—
er konnte ihr ja den Kaffee bringen und den Vorhang wieder zuziehen und dann die Käfige in der Küche saubermachen oder das Wohnzimmer staubsaugen oder irgendwas würde ihm schon einfallen—
mechanisch spülte er die Kaffeekanne aus füllte Wasser nach setzte den Kaffeefilter ein gab fünf Löffel Kaffeepulver dazu schaltete die Maschine ein holte eine Tasse aus dem Schrank und Zucker und aus dem Kühlschrank die Milch—
während die Maschine lief stellte er das Küchenfenster auf Kipp nahm die halbvollen Saftbecher der Kinder vom Tisch und leerte sie in den Ausguss er ließ Spülwasser ein—
er gab den Wellensittichen frisches Wasser und füllte das Vogelfutter nach er schaltete das Radio ein und als der Kaffee durch war goss er ihn in eine Tasse Zucker Milch rührte um und ging zurück ins Schlafzimmer.
»Und du?«, fragte sie, als er die Tasse auf dem Nachttisch abstellte, vorsichtig schob er den Aschenbecher beiseite. Sie beobachtete ihn.
»Was ich?«
»Trinkst du keinen?«
»Ja nä ich wollte ja eigentlich—«
»Jung, wat ist los?«, fragte sie lächelnd.
»Ich—«
»Setz dich ens.«
Er setzte sich auf die Bettkante. Sie streckte ihre Hand aus und strich mit ihren dunkelroten Nägeln über seinen Arm.
»Du bist ein schöner Mann, Julien, weißt du dat eijentlich?« Zum ersten und einzigen Mal sprach sie seinen Namen aus. Es klang so zärtlich, wie sie das sagte, sie wirkte so gelassen, als sie ihre Hand auf sein Bein legte, sie lächelte so freundlich, als sie sagte, komm, zieh dich mal aus, dass das Gefühl, es sei falsch, verschwand (was war schon richtig in seinem Leben). Sie schlug die Decke beiseite, er legte sich zu ihr, sie zog ihn an sich, er umarmte sie. Sie schliefen miteinander, schnell und lautlos, sie erfasste ihn routiniert, er war wie berauscht vom plötzlichen Lieben und Geliebtwerden. Du bist ein schöner Mann, sagte sie wieder, als er danach mit rasendem Herzen neben ihr lag. Mit dem Finger fuhr sie über seine Lippen, ihre Hand glitt über seine Hüfte und seinen Hintern; du hast Talent, sagte sie, als habe er einen Test bestanden, und da wurde er langsam wieder nüchtern, denn er hätte jeden Satz erwartet, nur nicht diesen.
Von dem Tag an konnte es passieren, dass sie miteinander schliefen, wenn er vor der Spätschicht kam und sie allein zuhause war. Manchmal schlief sie ihren Rausch aus, dann erledigte er seine Aufgaben leise und ging wieder, ohne sie zu wecken; manchmal war sie wach und wollte ihn nicht sehen, dann rief sie, sobald er nur die Tür aufgeschlossen hatte, vas-t’en, laisse-moi tranquille! Aber ab und zu rief sie ihn zu sich, erwartete ihn mit aufgeschlagener Bettdecke und sagte lächelnd, kumm Jung, treck dich us; dabei sah sie ihn an, als ob sie ihn wenigstens in diesem Moment liebte.
(Dass es Liebe war, sagte er sich jedes Mal, dass sie in ihm seinen schönen Vater sah; dass sie ihm so ihre Liebe zeigen wollte; dass sie wieder gut machen wollte, was sie an ihm versäumt hatte; dass er sie liebte und von ihr geliebt werden wollte; dass er es selber wollte, er hätte ja Nein sagen können, er war immerhin schon fast erwachsen und alt genug, und es war ja auch schön mit ihr; dass sie niemandem schadeten und deshalb doch nichts dabei war: dass es doch Liebe sein musste. Sie konnten kaum jemals miteinander reden, ohne zu streiten, aber ihre Körper passten zueinander; sie sahen sich an, als wüssten sie, was der andere denkt, als erkannten sie einander an dem Mal, das sie trugen, weil sie beide denselben tiefen Schmerz erfahren hatten; ein guter Sohn und ein guter Geliebter, das war er doch.)
Und das Geld, es reichte nie, entweder, weil er selbst zu viel für die Familie ausgab, oder weil sie mit immer neuen Rechnungen kam, die er bezahlte. Er musste eine andere Arbeit finden. Wir brauchen Geld, beau gosse, sagte Véronique und seufzte vorwurfsvoll, beiläufig strich sie über seinen Arm, als er den Kühlschrank einräumte. Und dann war es gar nicht so schwer, es geschah wie von selbst, und Véronique wies ihm den Weg, sie hatte es ja gesagt: Er hatte Talent. Einmal während des Putzens auf dem Männerklo in der Kellerkneipe kam einer rein und pisste; er sah Julien an und Julien ihn. Als der Typ fertig war, ließ er die Hose offen und hielt Julien einen Zehnmarkschein hin. Julien nahm das Geld und kniete sich vor ihn hin. Das war das bis dahin am schnellsten und effektivsten verdiente Geld, und in der tranfunzeligen Klobeleuchtung sah es auch gar nicht so schlimm aus. Danach hängte er sich unter den Wasserhahn über dem gesprungenen Waschbecken und spülte den Mund aus, er nahm sein Putzzeug und räumte es zurück in den Putzschrank in der Küche. Von dem ersten auf diese Weise verdienten Geld kaufte er sich vorne an der Theke eine Cola, und seither sind der Geschmack von Cola und der Geruch von Klostein für ihn untrennbar miteinander verbunden.
Er verstand früh, dass ihm nicht viele Wege offen standen, schnell viel Geld zu verdienen, wenn er nicht kriminell werden wollte, und das wollte er nicht, er wurde wegen seines Kanakenaussehens eh viel zu schnell alles Möglichen verdächtigt. Aber es war doch nicht kriminell, mit einem auf dem Bahnhofsklo oder in einem Auto rumzumachen, auf dem Parkplatz unter der Brücke, oder mit einem mitzugehen, um sich für ihn hinzulegen — und wenn der andere ihm dann dafür etwas gab, weil es es gut gemacht hatte, sollte er das ablehnen? Sie wollten ihn doch, er machte es doch gut, Marcel hatte es gesagt, und Véronique auch, er hatte eben Talent. Sein Kanakenaussehen half ihm sogar, denn es gab genügend Männer, gerade unter den etwas älteren, leicht verklemmten, die gut für die Demütigung bezahlten, es sich von so einem geben zu lassen. Deshalb musste er bald nicht mehr putzen und wartete lieber vor den Kneipen oder unter der Mülheimer Brücke, bis einer hielt, hierher kamen immer welche, die nach einem wie ihm suchten.
Dass er zum Jugendamt gehen wollte, hatte er am Abend zuvor Jürgen in der Küche gesagt und ihn damit zum Weinen gebracht. Er hätte beinahe selbst geweint, er war am Ende seiner Kräfte. Wir müssen mit ihr reden, sagte Julien, das geht so nicht weiter. Und wenn du das nicht hinkriegst, dann tu ich das. Ich schaff das alles nicht mehr, Jürgen.
Véronique am nächsten Abend aber schrie, sie würde ihn anzeigen, und sie beharrte darauf, sie habe Beweise!
»Beweise, was denn für Beweise? Für was denn? Was soll ich denn gemacht haben?«
»Hör auf zu lügen, du weißt genau, was!«
»Nein«, rief er, »weiß ich nicht! Ich tu denen doch nichts! Das glaubst du doch nicht wirklich? Als wenn— Véronique, das meinst du doch nicht ernst? Traust du mir sowas zu?«
Sie sah ihn eisig an. »Du verdienst dein Geld mit Ficken, mon beau gosse. Ich trau dir alles zu.«
»Was?!« Dass sie ihm das einfach so sagte! Sie!
»Glaubst du, ich bin blöd? Und was weiß ich, wenn du dich nicht beherrschen kannst …«
Er trat einen Schritt auf sie zu, sie wich zurück. Es fiel ihm schwer, sich zusammenzunehmen. Am liebsten hätte er sie an den Schultern gepackt und ihr gesagt, Véronique, lass uns mal vernünftig reden, ohne die Kinder und den Mann. Er konnte aber nicht mehr vernünftig reden.
»Wenn ich mich nicht beherrschen kann?! Ich fass doch keine Kinder an! Bist du krank, das sind meine Schwestern! Das sind Kinder!«, schrie er.
»Wenn hier einer krank ist, dann du«, schrie sie zurück, kreidebleich, »oder findest du das normal, wenn einer seine Mutter fickt?« Da war es gesagt, sie hatte es tatsächlich gesagt, ein Satz wie eine schnelle, harte Ohrfeige.
»Und eine Mutter, die zu ihrem Sohn sagt, zieh dich aus, komm ins Bett, das ist was anderes?« Das war was ganz anderes, aber da änderte sich ihr Blick.
»Du hast das ausgenutzt!«
»Was?«
»Wenn ich allein zuhause bin und du einfach so ins Schlafzimmer kommst … Was soll ich denn da machen?«
Sie hatte ihn. Er würde keine Chance gegen sie haben. Seine Kraft erlahmte.
»Aber so war das … Véronique, das stimmt doch nicht! Das weißt du doch, was redest du denn da? Du wolltest das doch genauso!«
»Als ob ich das wollte! Wie soll ich mich denn gegen dich wehren? Ich hab Angst vor dir!«
»Angst, vor mir? Du hast sie doch nicht mehr alle! Als ob ich dir was tun würde, nie! Véronique, du hast mir … Gott, bitte, lass uns doch – das ist doch alles nicht wahr!« Er konnte nicht glauben, was sie da sagte, er war verzweifelt, warum tat sie das? Er hatte ihr vertraut, sein ganzes Leben umgedreht, alles für sie, alles für die Kinder, er war in die tiefsten Tiefen abgerutscht, sein Leben ein Sumpf, und trotz allem liebte er sie doch! Und sie ließ ihn fallen, einfach so.
»Das sind meine Kinder, meine!«, schrie sie plötzlich. »Du hast nichts mit uns zu tun! Du hast dich in unsere Familie reingedrängt, wir haben nicht nach dir gefragt.«
»Aber dein ganzes Scheißleben bezahlen und dafür sorgen, dat deine Kinder, deine Kinder! überhaupt wat zu essen haben, dafür bin ich gut genug? Dass ich hier jeden Tag sitze, damit du saufen gehen und rumvögeln kannst? Hörst du dir überhaupt zu?«
»Bloß, weil du mir mal Geld gegeben hast!«
»Mal? Mal Geld gegeben?«
Warum konnten sie nicht reden? Warum konnten sie es nicht gemeinsam schaffen? Alles, was sie sagte, war gelogen. Aber sie wusste, das Jugendamt würde ihr die Kinder wegnehmen. Später verstand er ja alles, ihre Angst, und dass sie in ihrer Verzweiflung um sich schlug. Aber damals war er fassungslos und voller Wut.
»Dir glaubt sowieso keiner«, sagte sie zitternd, »wenn die hören, was du für einer bist!«
Als er das hörte, wurde er ganz ruhig, ruhig vor Zorn. Er blendete die Kinder aus, die bewegungslos am Tisch saßen, und den leise weinenden, vor sich hin redenden Jürgen, hürt doch op, lot et doch sin! »Was ich für einer bin?«, sagte er. »Ich bin dein Sohn. Hast du das vergessen?«
»Das vergess ich bestimmt nicht, und ich hab das jeden Scheißtag bereut, dass ich—«
»Hör auf, Véronique«, sagte Julien, seine eigene Stimme kaum hörend.
»Dass ich so dumm gewesen bin! Alles bereue ich, glaub es mir!«
Und plötzlich wurden beide still, sekundenlang schauten sie einander an, die Kinder schwiegen, selbst Jürgen war verstummt.
»Ich sag denen alles, das schwör ich dir«, sagte Véronique scharf und leise. »Ich hasse dich.«
Dass sie ihn hasste, das hätte er noch ertragen.
»Scheißkanake.«
Aber das nicht. Nicht von ihr. Hätte nicht plötzlich Annick zwischen ihnen gestanden, mit großen Augen, voller Angst und überhaupt nicht sie selbst,
»Juli, nicht!«,
er hätte sie umgebracht. Stattdessen schaute er das Kind an, ernüchtert, entsetzt, und dann sie, die ebenso entsetzt war wie er und auf seine verkrampften Hände starrte.
Sie nahm ihre Tasche, sie sahen sich ein letztes Mal an, sie sagte: »Verpiss dich aus unserem Leben, ein für allemal.« Türenknallend verließ sie die Wohnung.
Die Kinder sahen ihn an, ohne zu weinen, sie kannten ja diese Szenen, von denen sie kein Wort verstanden. Er brachte sie ins Bett, aber zu ihnen legen wollte er sich nicht mehr. Annick fing an zu weinen und zog ihn an der Hand, du musst, du musst, schrie sie. Elli schaute ihn ganz ernst an, und dann gehorchte er. Annick warf ihre Beine über seine und schlief sofort ein, Elli kuschelte sich ganz eng an ihn wie jeden Abend, sie presste ihr heißes Gesichtchen gegen seinen Hals, packte sein Haar mit ihrer kleinen Faust, die andere Hand verschwand unter seinem T-Shirt. Er lag wie gelähmt und starrte an die Decke, ohne sich zu rühren wartete er, bis auch Elli endlich eingeschlafen war.
Als er zu Marcel nach Hause kam, verstört und voller Panik, gab es einen Riesenkrach. Marcel warf ihm vor, dass er ihn zum wievielten Mal versetzte, er fühle sich verarscht, er glaube nicht mehr an diese Scheißfamiliengeschichte, wahrscheinlich treibe sich Julien mit irgendwelchen Typen rum, so habe das keinen Sinn mehr mit ihnen. Julien entschuldigte sich, aber Marcel fing wieder von vorne an, es wurde eine Grundsatzdiskussion daraus. Marcel war gerade in der Stimmung dazu, vielleicht weil er sah, dass Julien keine Argumente hatte. Julien wusste sich nicht anders zu helfen, er zog sich aus und warf sich aufs Bett, pardonne-moi, par pitié mon amour, je fais tout ce que tu veux, ich gehör doch ganz dir, komm doch, bitte, mach mit mir was du willst.
Danach lag er wach und starrte verzweifelt aus dem Fenster, immer wieder kamen dieselben Gedanken: Er hatte den Kindern nichts getan, wie kam sie darauf, warum tat sie das, warum glaubte sie ihm nicht, was für Beweise, woher, und wofür? Und warum warum warum war er nicht gegangen an dem einen Morgen? Was hast du nur getan, dachte er, du hast alles kaputt gemacht! Sie hatte Recht, sie würden ihm seine Unschuld nicht glauben. Und er war vor ein paar Tagen achtzehn geworden. Sie würden keine Gnade haben. Er musste verschwinden, nicht nur aus ihrem Leben, sondern ganz.
Um drei stand er vorsichtig auf und zog sich an; leise suchte er seine Sachen zusammen, dann das Parfum, das sein Geliebter ihm geschenkt hatte, zuletzt griff er in das Regal, in dem Die Andere Bibliothek stand und entnahm einen Band. Er klaute Marcel noch zwei Hemden und eine Hose, das ganze Bargeld aus seinem Portemonnaie und auch seine teure Uhr. Sanft zog er die Wohnungstür hinter sich zu, den Schlüssel warf er unten in den Briefkasten. Dann ging er zu Fuß zum Hauptbahnhof. Er fuhr nach Hannover, da würde ihn bestimmt niemand suchen; er wusste ja selbst nicht, wo das war. Es dauerte zwei jämmerlichen Tage, bis er sich hinter dem Bahnhof und auf den Toiletten genug Geld für eine Fahrkarte nach Berlin und die ersten Tage verdient hatte. Die Stadt war groß genug, um sich dort zu verkriechen.
Sollte Véronique ihn anzeigen, würden sie ihn nicht finden.
Als er nach Hause kam, überreizt und völlig durchnässt, waren es noch keine neun. Er entkleidete sich, wrang die nassen Sachen aus und hängte sie im Bad über den Handtuchtrockner. Dann setzte er sich auf den Balkon und rauchte, die immer noch warme Luft legte sich sofort schwer auf seine Haut. Am Horizont sah er das tobende Gewitter allmählich abziehen. Er dachte wieder an die Kölner Sommer, tropisch, süß und süchtig machend, und dass er erst in Berlin merkte, wo er sich vorkam wie in eine Wüste verbannt, dass er sie vermisste. Und er vermisste sie sogar jetzt, wo ihn der ganze Scheiß von früher wieder einholte. Aber vielleicht hatte das eine mit dem anderen zu tun, das verführerische Klima gefährlicher Begegnungen, das er damit verband, und die Dinge, die ihm gerade passierten. So wie damals fühlte es sich an, als schwelte etwas in ihm, und jetzt war die Lunte gezündet; langsam, aber stetig brannte sie ab, leise knisternd, der Explosion entgegen. Seine Haut reagierte auf jeden Luftzug, die Nerven vibrierend und bloß, und unter allem lag das nackte Gefühl, die Lust an der Gefahr und der Drang, sich in all das hinein zu stürzen.
Julien lehnte sich zurück, den Rücken fest gegen den Putz der Balkonwand drückend, und blies den Rauch gen Himmel. Er schloss die Augen, das Gefühl von Schweiß und Schmutz und Sex auf seiner Haut genießend. So wie früher, dachte er, und das war gut. Es war gut gewesen mit Harriet, ungekünstelt und hemmungslos, und Thies hatte er zum ersten Mal nicht vorspielen müssen, ihn zu benutzen, sondern ihn benutzt. Das war weniger gut, aber immerhin echt. Vielleicht hatte es sich jetzt auch ohne Neumanns Zutun erledigt mit Thies und Harriet, vielleicht fing es aber erst an: anders, neu, besser, wahr, nicht nur im Bett, sondern immer, wenn er es zuließ und sie sich trauten. So oder so, alles würde sich ändern. Er machte die Zigarette aus, mit einem Mal überfiel ihn totale Erschöpfung. Er legte sich auf sein Bett, es dauerte nur Sekunden und er schlief.
Kurz vor vier erwachte er, müde und zerschlagen, als habe er die ganze Nacht in einem komplizierten Film mitgespielt, in dem er reden musste, Orte wechseln, sich erklären, bis die Handlung immer mehr zerfloss und schließlich komplett unverständlich wurde. Während des Aufwachens hörte er sich sprechen; endlich wach, fand er sich sein Bettzeug umklammernd und völlig orientierungslos. Verwirrt sah er in den klaren violetten Himmel, er setzte sich auf, erkannte den Hafen, den Fluss, und dann wusste er, wo er war und wer; er sank zurück in die nass geschwitzten Kissen. Sein erster Gedanke war: Thies. Sein zweiter: Neumann. Sein dritter: Er dankte dem Schicksal, dass Neumann in seinen Wagen geflüchtet war. Und je länger er liegen blieb, desto deutlicher kamen ihm wieder die Worte und Taten des gestrigen Tages in den Sinn, und er sah zu, wie die Nüchternheit, mit der er gestern Abend auf dem Balkon alles betrachten konnte, der Angst wich und mehr noch der Scham. Was hast du dem Mann angetan, den du liebst, dachte er. Und wie konntest du dich Neumann—!
Julien stand auf, ging unter die Dusche, drehte das Wasser auf und stellte den härtesten Strahl ein, eiskalt, kochend heiß, kalt, heiß, kalt, so lange, bis Schuld und Scham im Abfluss verschwunden waren. Seine Haut prickelte, sein Blut pulsierte heftig, sein Gehirn war einmal durchgespült und ausgeleuchtet, er war hellwach. Während er sich rasierte, überlegte er, was er in welcher Reihenfolge zu tun hatte.
Zuerst musste er die Entwurfspräsentation fertigstellen. Wenn er jetzt gleich losfuhr, würde er den Laden einige Stunden ganz für sich allein haben. Nichts half ihm besser, runterzukommen, als sich in seine Arbeit zu vertiefen, in diesem Fall eine letzte liebende Hand anzulegen und den Entwurf zu perfektionieren. Morgen würden sie sich sehen, auf Thies’ Terrain, umgeben von seinen Leuten. Sollte Thies sich vorher melden, würde er nicht darauf eingehen. Zwar bereute er seine Tat bitter, andererseits: gesagt war gesagt. Thies musste die Dinge klarstellen, und dann würde er sich immer noch entschuldigen können.
Mit Harriet hatte er gestern zwar den ganzen Tag verbracht, ihr Verhalten zwischen Frivolität und Zurückhaltung aber nicht einordnen können. Schämte sie sich? Erwartete sie jetzt etwas von ihm? Sie sahen einander oft an, aber redeten kaum; sie war ungewöhnlich still, er in Gedanken schon viel zu sehr bei Neumann. Heute würde er mit ihr über den Ablauf der Präsentation sprechen, vielleicht mittags mit ihr essen gehen, mal hören. Er dachte, ob sie etwas unter ihrem Kleid tragen würde oder nicht. Und dass er ihr sowas im Leben nicht zugetraut hätte.
Während er sein Gesicht abtrocknete, beschloss er, Neumann erst einmal zu ignorieren. Den Mann hatte der gestrigen Abend genauso irritiert wie ihn selbst, dessen war er sicher. Und wenn Neumann noch nicht mal wusste, was er von ihm wollte, umso besser. Das war natürlich riskant. Aber während Julien sich anzog – schwarze Hose, weißes Hemd, zwei Knöpfe offen – spürte er wieder den Reiz, es darauf ankommen zu lassen. Denn Neumann war vielleicht einer von den verklemmten Schissern, aber einer, der es wissen wollte. Das wurde Julien umso klarer, je deutlicher er dessen Züge erinnerte.
Julien machte sich fertig, zum Schluss stylte er sein Haar, trug seinen signature scent auf und prüfte seinen Anblick im Spiegel. Derselbe Mann wie gestern und doch ein anderer: Jemand, den er lange nicht gesehen hatte, den er so sehr fürchtete wie vermisste. Dem es genauso ging, das erkannte er an dessen Blick.
In der Agentur öffnete er alle Fenster und Türen. Das Unwetter hatte die Terrasse verwüstet. Julien stellte den umgefallenen Sonnenschirm und die umgewehten Stühle auf, die noch regenfeuchten Sitzpolster lehnte er zum Trocknen gegen die Liegen. Eriks Terrasse ging ihn einen Scheiß an, vor dem Abend mit Harriet hatte er sie jahrelang nicht betreten, und schließlich wurde er auch hier nicht dafür bezahlt, Ordnung zu machen. Julien tat es trotzdem. Er hatte es nicht nur beim Ficken gern ästhetisch, sondern auch bei der Arbeit.
Er trank den Espresso in seinem Büro und stand lange am Fenster, in den Anblick des braunen Wassers versunken. Nichts trieb ihn zur Eile, der Tag gehörte ihm. Dann drehte er sich um und ließ sein Büro auf sich wirken, als sei er ein Besucher, der es zum ersten Mal betrat.
Sah man diesem Raum an, woher sein Besitzer kam? Man sah, was er konnte und wohin er wollte. Das Büro war Ausdruck seiner Unbedingtheit, und so sehr er anfangs damit gehadert hatte, wie er dazu gekommen war, jetzt würde er es um keinen Preis aufgeben wollen. Allein dafür lohnte es sich zu kämpfen.
Julien saß schon zwei Stunden über seiner Arbeit, als Erik als Erster von den Agenturleuten kam. Verwundert blieb er vor Juliens weit geöffneter Tür stehen.
»Du hier? So früh?« Und schnell fügte er hinzu: »Nicht, dass mich das was angeht, ich meine bloß—«
»Morgen ist Präsentation bei Von de Vos«, sagte Julien, ohne darauf einzugehen. Heute konnte er mühelos freundlich zu Erik sein.
»Ah! Sehr gut!«
»Wir sind um zehn da. Wenn es gut läuft und sie alles absegnen, kannst du danach direkt die erste Rechnung stellen.«
Das freute Erik natürlich. »Sehr schön. Läuft es denn gut — versteh mich nicht falsch!«, rief er. Dass er seit Projektbeginn so unterwürfig ihm gegenüber war, nervte Julien genauso wie seine bisherige Aufdringlichkeit. »Also, bei dir mache ich mir selbstverständlich keine Gedanken.« Erik lächelte ein bisschen schief.
Harriet, natürlich. Weil sie ihren Job durch Beziehungen bekommen hat, traut er ihr nichts zu. Und weil sie eine Frau ist. Arschloch, dachte Julien, umso mehr, als dass der Grafiker, vor dem er hier kroch, der Amateur war und Thies’ wahres Fickverhältnis, aber eben ein Mann, dessen Auftreten keinen Zweifel an seiner Professionalität zuließ. Dass Erik mit ihm über Harriet reden wollte, widerte Julien an. Martin hatte andere Schwächen gehabt, als Führungskraft aber immer überzeugt. Erik war ein Versager.
»Es ist ja ihr erstes Projekt dieser Art, soweit ich weiß«, schob Erik hinterher.
Julien ignorierte seinen geschmacklosen Versuch, Vertraulichkeit zwischen ihnen herzustellen. Stattdessen sagte er: »Wenn du die Präsentation sehen willst.«
Damit hatte Erik nicht gerechnet. Bevor er antworten konnte, sagte Julien: »Ich spreche mit Harriet, wir geben dir Bescheid, wann es passt.« Dann wandte er sich seiner Arbeit zu; Erik ging ohne ein weiteres Wort.
Harriet kam kurz darauf, nicht weniger erstaunt als Erik und fast pikiert. Er lächelte, als er ihren Blick sah. Sie blieb seine Göttin, egal, ob sie ihn wie ihren exotischen Freund behandelte oder sich ihn nach Agenturschluss im Serverraum vornehmen würde. Sie trug eines der Kleider, die er bisher nur an ihr gesehen hatte und die er sich an keiner anderen Frau vorstellen konnte: tiefe Taille, fließender Stoff, überbordendes Blumenmuster, und jede Wette nichts drunter.
»Ach nein«, rief sie, »wie kommt’s?«
»Bonjour ma chère«, sagte er und erhob sich. Sie betrat das Büro, ließ ihre Tasche auf einen der Sessel fallen und blieb vor seinem Schreibtisch stehen. Er sah sofort, die Zurückhaltung von gestern war verschwunden.
»So früh warst du aber noch nie hier.«
»Wir hatten bisher nachts auch noch keine vierundzwanzig Grad. Ich konnte nicht mehr schlafen.«
»Das heißt, im Sommer fängst du immer so früh an?«
»Stört es dich?«
Sie lachte. »Mich? Auf keinen Fall! Es ist ja dein Büro!« Ja, es störte sie.
»Unser Büro«, sagte er, dann ging er um den Tisch herum. »Du thé?«
Es kam ihm vor, als blühe ihr Kleid, und ihr Duft entströme dessen grüngoldenen Blüten und Pflanzen, die sich um ihren Körper rankten. Sie ließ ihn vorbei, dabei streifte sein Handgelenk ihren Arm. Die Berührung brannte wie ein Brennnesselstich. Er wünschte sich nichts mehr, als sie in seine Arme zu schließen und ihren Hals mit Küssen zu bedecken. Während er in die Küche ging, überlegte er, ob sie es sich durch die Nacht versaut hätten; hoffentlich würden sie weiterhin vernünftig miteinander arbeiten können. Er wartete neben dem ziehenden Tee und schaute aus dem Fenster; so würde sie genügend Zeit haben, um sich mit der neuen Situation zu arrangieren. Als er zurückkam, saß sie in ihrer Ecke, aber nicht wie sonst von ihm abgewandt, sondern mit Blick auf seinen Schreibtisch. Sie hatte ihr MacBook aufgeklappt und schaute nicht auf, als er die Tasse neben ihr abstellte. Er nahm an seinem Tisch Platz.
»Was sagst du zu Thies’ Mail? Das haben sie aber nicht gut gemacht, wie kann denn sowas passieren! – Bist du einverstanden?«, fragte sie.
»Eine Mail? Wieso, was schreibt er denn?«
Sie sah ihn an, sie klang vorwurfsvoll, als sie sagte: »Er hat schon vor zwei Stunden geschrieben. Was hast du denn die ganze Zeit gemacht, dass du die noch nicht gelesen hast?«
»Zwei Stunden?« Er öffnete seine Mails. »Ich hab gearbeitet«, sagte er. Als ob er sich vor ihr erklären müsste. Er tat es trotzdem, schon zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten.
Thies schrieb:
Hallo zusammen,
der Konferenzraum wird morgen kurzfristig von der GF benötigt, eine Ausweichmöglichkeit findet sich hier so schnell leider nicht. Ich schlage vor, dass wir uns zum Termin in der Agentur treffen. Da die übrigen vorgesehenen Teilnehmer für die Veranstaltung der GF geplant sind, käme ich allein.
Bitte um kurze RM, falls Ihr keine Möglichkeit haben solltet, den Termin durchzuführen oder sonst etwas dagegen spricht, dann verschieben wir.
Beste Grüße,
Thies Nygaard
Er hatte kurz nach sechs geschrieben, auch er war also früh wach gewesen. Julien glaubte ihm weder die Geschichte mit dem ausgebuchten Konferenzraum, noch dass die anderen Teilnehmer nicht konnten, wer auch immer das gewesen sein mochte. So ärgerlich es war, ihre Arbeit nicht vor Von de Vos präsentieren zu können: Thies würde zu ihm kommen, allein, und er wusste, weshalb. Es gab eine Erklärung. Alles würde gut. Julien sah seinen Geliebten vor sich, wie er ihn gestern Abend zurückgelassen hatte. Er fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.
»So dramatisch finde ich das jetzt auch wieder nicht.«
»Bitte?«
Harriet beobachtete ihn, die Arme vor der Brust verschränkt, die Beine übereinander geschlagen. Ihre langen, nackten Beine, die seine Hüften umschlungen hatten. Wie sollte er den Termin mit ihr und Thies überstehen?
»Dann müssen wir eben den Besprechungsraum entstauben und noch ein bisschen zurecht machen. Ich finde das auch nicht so schön, aber ja, meine Güte. Besser, als den Termin zu verschieben, findest du nicht?«, fragte sie, dann neigte sie den Kopf ein wenig. »Alles in Ordnung bei dir?«
Er richtete sich im Stuhl auf. »Ja, wieso?«
»Du bist heute irgendwie … Ich weiß nicht.«
»Allet jut«, sagte er und lächelte. »Und lass mal den Besprechungsraum, wir machen das hier. Wenn wir eh nur zu dritt sind … Wir hängen die Plakate ab, dann haben wir eine Fläche für den Beamer.« Er ging zur Wand, nahm die drei gerahmten Plakate herunter und stellte sie auf den Boden vor das Bücherregal. Dann wandte er sich um. »Und wenn du deine schöne Ecke freigibst …«
»Meine Ecke. Freigibst!«, rief sie, schon wieder in dem angefassten Ton. »Wie hört sich das denn an, als ob ich—!«
»Harriet.«
»Was?«
Er schwieg einen Moment, dann ging er und schloss die Tür. Er musste etwas sagen, so würde das nicht funktionieren. »Tut es dir leid?«, fragte er.
Die Empörung auf ihrem Gesicht wich Erstaunen und einer Art Erwischtwordensein; auf ihren Wangen erschienen rote Flecken. Die hatte er lange nicht an ihr gesehen.
»Wie, was meinst du, was soll mir denn leid tun?«
»Harriet«, sagte er wieder, dieses Mal etwas sanfter.
Natürlich wusste sie, was er meinte, trotzdem. »Was denn?«
»Ich fand es sehr schön.«
Ihre Lippen öffneten sich, dann senkte sie den Blick. Sie legte die Hände in den Schoß und verschränkte ihre Finger. Es fiel ihr wohl schwer, das Bild zuzulassen, wie selbstvergessen sie ihn auf den nackten Dielen ihres Salons geliebt hatte; es entsprach vielleicht nicht dem, wie sie sich sah und gesehen werden wollte. Aber dann schaute sie auf, wie erlöst sagte sie: »Ich auch.« Sie lächelte. »Nein, es tut mir nicht leid, Julien. Überhaupt nicht. Im Gegenteil.«
»Gut«, sagte er. »Das wär auch schade.«
»Es war phantastisch, oder?«
»Oh ja, das war es.«