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Julien entwirft in der Stille seines Glaspalasts am Fleet, Elli sitzt wieder verlassen in Barmbek; Thies wird auf dem Empfang an der Elbchaussee glänzen, im selbstgewählten Berliner Exil feiert Harriet ihre Unabhängigkeit. Und während Henning schon längst duhn unter dem elterlichen Weihnachtsbaum liegt, schwört Siegfried sich in der U-Bahn nach Hause zum achtundvierzigsten Mal: Nächstes Jahr wird alles besser, ganz bestimmt! »Als sie sich noch nicht kannten« ist Ouvertüre, Teaser, Vorspiel zur bislang unveröffentlichten Romantrilogie »Sex und Sozialkritik«. Mit einem Kapitel aus »Julien Lemaire«, dem ersten Teil der Trilogie, gewann Gabriel Gerling 2023 beim 3. LITFEST homochrom in Köln den Publikumspreis in der Kategorie Romane.
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Seitenzahl: 118
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Gabriel Gerling
Als sie sich noch nicht kannten
Erzählungen
Texte: © 2024 Gabriel Gerling
Covergestaltung: © 2024 Gabriel Gerling
Verantwortlich für den Inhalt:
Gabriel Gerling
Berliner Straße 48-50
51063 Köln
Druck:
epubli – ein Service der Neopubli GmbH, Berlin
Impressum
Inhalt
Harriet
Thies
Siegfried
Henning
Elli
Julien
»Traditionen muss man fortführen, ihr legt doch so großen Wert darauf! Und ich bleibe Weihnachten eben traditionell in Berlin.«
»Wie? Was ist denn das für ein Unsinn?! Seit wann überhaupt?«
»Seit letztem Jahr. Und das ist kein Unsinn, sondern Fakt.«
»Oh, ich bitte dich!«
Harriet sah ihre Schwester um Fassung ringen. Das amüsierte sie zwar, aber ihr Herz schlug schneller, denn es war schon ein Schritt, den sie da tat! Sie hielt ihr Handy ein bisschen auf Abstand – nicht, weil Helen laut wurde, sondern weil Harriet fürchtete, aus Gedankenlosigkeit oder Versehen mit der Wange aufzulegen. Das war ihr schon zweimal passiert, beide Male hatte es im Anschluss einen Eklat gegeben, weil die jeweilige Gesprächspartnerin – in einem Fall Helen, im anderen ihre Mutter – geglaubt hatte, sie habe das Gespräch absichtlich beendet. Ihr heutiges Telefonat hätte sie am liebsten sofort abgebrochen, denn es führte zu nichts: Helen begriff einfach nicht, dass sich Harriet an Weihnachten nicht in Hamburg sah. Aber ihrer Schwester das zu erklären!
Im vergangenen Jahr hatte ihr der Zufall geholfen: Erst litt sie unter einer mittelschweren Grippe, dann fiel ein Zug nach dem anderen aus, eine Mitfahrgelegenheit fand sich nicht, und zu fliegen kam für Harriet als Unterstützerin der Klimabewegung aus Prinzip nicht infrage. Natürlich waren sie enttäuscht, aber je nun: Höhere Gewalt, was wollte man machen! Leider erfreute sich Harriet seitdem bester Gesundheit, und weder das Wetter noch die Deutsche Bahn boten ihr einen Grund zur Absage. Also musste sie entweder lügen oder sagen, wie es war. Sie hatte aber noch nie gut lügen können, zudem war sie eine Freundin klarer Worte. Gott sei Dank hielt ihre Familie sie von klein auf für überspannt; indem Harriet sich auf diese Überspanntheit berief, konnte sie sagen:
»Weihnachten ist nun mal nichts mehr für mich. Erstarrte Rituale, sinnfreier Konsum, verkrampfte Konversation mit Leuten, die einem nichts bedeuten …«
»Wir bedeuten dir nichts?!«
»Ach, Helen, ich meine doch nicht euch! Aber du weißt doch, wie es ist. Am Ende sitzt man immer neben Brakelmanns oder Tante Edith, und darauf kann ich wirklich verzichten!« Oder neben deinem Mann, hätte sie beinahe gesagt; der Gedanke an ihren geistlosen Schwager ließ sie zum Weinglas greifen.
»Meine Güte, was hast du denn immer mit Brakelmanns!«
»Ich kann sie nicht ausstehen, und sie mich schon gar nicht.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Wenn sie mich schon immer nach Berlin fragt, dieser Unterton allein, Helen! Und dann sagt sie sofort, die Stadt sei ja so verkommen.«
»Ja nun, wo sie recht hat?«
»Ach!«, rief Harriet unwirsch. »Du erinnerst dich aber schon, wie sie vom Adlon geschwärmt hat? Als sie zuletzt ihren furchtbaren Patensohn besucht haben und er sie zum Afternoon Tea ausgeführt hat?«
»Warst du nicht auch eingeladen?«
»Natürlich, ich hatte leider keine Zeit. Leider! Aber kannst du mir mal sagen, was am Adlon verkommen sein soll?«
»Ach, das meinte sie doch nicht! Und wieso furchtbar, ich finde, Jon ist ein ganz attraktiver Typ.«
»Er ist doch seit einiger Zeit politisch aktiv«, sagte Harriet spitz, «und stell dir vor, neulich hatte ich eine Einladung im Briefkasten – zum Gänseessen! Bei der FDP! Widerlich!«
»Was hast du denn jetzt gegen die FDP? Oder meinst du die Gänse? Isst du immer noch kein Fleisch?«
»Und wenn ich dann Brakelmann gegenüber erwähne, dass ich grün gewählt habe, kuckt er mich an, als hätte ich ganz schlimmen Ausschlag.«
Welche Welten mittlerweile zwischen ihnen lagen; dass ihre Schwester das einfach nicht begreifen wollte! «Abgesehen davon finde ich Jon kein bisschen attraktiv. – Und nein, ich esse immer noch kein Fleisch.«
»Was musst du auch immer mit Politik anfangen, es gibt doch hundert andere Themen.«
»Worüber soll ich mich mit diesen Leuten unterhalten?«
»Diese Leute! Harriet, die kennst du jetzt seit–«
»Das ist kein Grund. Im wirklichen Leben hätte ich mit ihnen nichts zu tun.«
»Nichts mehr, meinst du wohl«, sagte Helen boshaft.
Harriet seufzte. «Dann eben nichts mehr.« Vielleicht lag es nicht am Wollen, sondern am Können. Es hatte ja keinen Zweck.
»Dein letztes Wort?«
»Definitiv.«
»Also gut. Oder nicht gut. Und wie erkläre ich das unseren Eltern?«, fragte Helen in gekränktem Ton, als ob sie persönlich für das Gelingen des Weihnachtsfests verantwortlich wäre. Heimlich dachte Harriet, dass es Helen sowieso nicht um sie als Person ging, sondern um Harriet, die der Vollständigkeit halber dazu gehörte und jetzt allen durch ihren Trotz die Stimmung verdarb.
»Das musst du nicht, das mach ich schon selbst.«
»Ich bin gespannt, was Wolfram dazu sagt. Und Mama wird natürlich enttäuscht sein!«
»Ich weiß, aber es ist eben nicht zu ändern.«
»Und was fängst du dann mit dir an, so ganz allein in Berlin?«
»So ganz allein! Dass ich Freunde habe, kannst du dir wohl nicht vorstellen?«
Das mach ich schon selbst. Leicht gesagt! In diesem Moment hatte sie wirklich geglaubt, sie könne die Angelegenheit mit einem sachlichen Anruf erledigen. Aber nach Helens angefasster Reaktion war ihr bewusst, ihre Absage glich einer Revolte. Das musst du jetzt durchziehen, dachte sie, sonst nehmen sie dich überhaupt nicht mehr ernst. Zwei Tage lang schob sie das Telefonat vor sich her, währenddessen dachte sie sich alle möglichen Kommunikationsstrategien aus. Weil sie aber im Gegensatz zu ihrer Schwester auch das Taktieren nicht beherrschte und Helen ihr zudem morgens und abends Nachrichten schickte (»Hast du schon mit ihnen gesprochen?«), schenkte sie sich abends ein Glas Wein ein und nahm ihr Handy. Allein dass sie Alkohol brauchte, um ihre Aufgabe zu bewältigen, sprach doch dafür, dass am Konzept Weihnachten etwas nicht stimmen konnte!
Marianne machte aus ihrer Enttäuschung keinen Hehl.
»Aber was haben wir dir denn getan, dass du–«
»Ihr habt mir nichts getan, es ist nur … Mir ist einfach nicht danach, weißt du? Dieses ganze Blankenese, diese Gesellschaft, ich fühle mich mittlerweile so unwohl damit.«
»Unwohl?«
»Unfrei meine ich.«
Das war nicht nur Wasser auf die Mühlen ihrer Mutter, sondern auch viel zu abstrakt für sie. Dieses Kind, hörte Harriet sie schon zu Tante Edith sagen, weiß der Himmel, was mit ihr nicht stimmt. Sie schafft sich immer Probleme, wo überhaupt keine sind!
»Und außerdem ist es für dich doch auch angenehmer, wenn du für eine Person weniger kochen musst. Die ganze Mühe, die du dir immer machst, und jedes Mal bist du danach erschöpft und drei Tage krank!«, fügte sie deshalb hinzu, in der Hoffnung, ihre Mutter damit überzeugen zu können.
»Eine Person mehr oder weniger, das macht mir nun wirklich nichts aus«, widersprach Marianne, »und es ist absolut keine Mühe für mich, im Gegenteil. Du weißt doch, wie gern ich die Gelegenheit nutze, selbst zu kochen! Abgesehen davon isst du doch sowieso kaum etwas. Bist du immer noch Vegetarierin?«
Harriet trank einen großen Schluck. Ihre Mutter tat ihr nun doch leid; in einem Anfall von Verständnis sagte sie: »Ihr könntet auch zu mir nach Berlin kommen, das wäre doch mal was anderes!« Sie bereute den Vorschlag, kaum, dass er ausgesprochen war. Aber ihre Befürchtung, ihre Eltern könnten das für eine gute Idee halten und tatsächlich samt Schwester (und Schwager!) anreisen, erwies sich als unnötig, denn auf Hamburg war natürlich Verlass.
»Nun werd man nicht albern, Kind, wie stellst du dir das vor? Ich kann Brakelmanns ja schlecht sagen, dass wir dieses Jahr in Berlin feiern!«
»Um die geht es doch gerade! – Weißt du, wenn wir mal ganz unter uns blieben, en famille, nur wir vier«, sagte Harriet, vor allem ohne deinen schrecklichen Schwiegersohn, »das fände ich–«
»Das schlag dir man gleich aus dem Kopf«, unterbrach Marianne, »du weißt genau, dass so etwas nicht geht.«
»Eben«, und damit war die Diskussion beendet, »und deshalb bleibe ich lieber hier. Marianne, ich weiß, das macht dich traurig, aber wenn du es nicht verstehst, dann akzeptiere es bitte wenigstens.«
»Wir akzeptieren deine Meinung immer! Und ich begreife auch nicht, wieso du uns ständig unterstellst, wir würden dich nicht verstehen. Das ist nicht schön.«
»Tut mir leid, bei mir kommt es eben so an.«
»Und übrigens habe ich dich schon mehrmals gebeten, mich nicht Marianne zu nennen. Was hast du gegen Mama? Ich sagte neulich noch zu Edith, recht ist mir das eigentlich nicht.«
Von ihrem Vater wenigstens hatte sie gehofft, dass er sie verstünde; er kannte doch seine Jüngere und machte sich selbst gern lustig über Konventionen. Aber was Weihnachten betraf, war mit Wolfram nicht zu spaßen.
»Tja, das musst du wissen, Mädchen«, sagte er ernst, »wenn du glaubst, dass du dir damit einen Gefallen tust.«
»Das hat doch mit Gefallen nichts zu tun! Ich will selbst entscheiden, ob ich Weihnachten feiere oder nicht, und wenn ja, dann wie und wo. Und mit wem! Ich bin ein freier Mensch.«
»Ganz wie du meinst«, sagte Wolfram. »Aber mit deiner Autonomie kann es nicht weit her sein, wenn du sie durch drei Tage Kaffeetrinken in Hamburg gefährdet siehst.«
Das traf sie hart, denn ihr Vater hatte recht, auch wenn er natürlich untertrieb. Es ging doch um viel mehr als Bescherung und zu schweres Essen: Harriet glaubte, sich nur durch räumliche Distanz von der Last der Erwartungen befreien zu können, und die Gefahr, sich wieder von der Bequemlichkeit des großbürgerlichen Lebens einlullen zu lassen, war durchaus reell. Emanzipation machte Spaß, forderte jedoch Kraft und Disziplin. Nicht aufgeben, dachte Harriet; es gab etwas, wofür es sich lohnte, standhaft zu bleiben, und sie war doch schon so weit gekommen!
Nicht, dass sie sich gar nichts aus Weihnachten machte. Auch wenn sie kein Händchen für Dekoration hatte, stellte sie sich vor, wie herrlich ihre schöne Altbauwohnung aussehen würde, wäre sie festlich geschmückt, und ihr großer Mahagonitisch, ein prächtiges Erbstück Onkel Joosts und Mittelpunkt ihres Salons. So nannte sie ihr Wohnzimmer, in dem sie den Gästen ein Vier-Gänge-Menü servieren würde: überraschend, vielseitig, gesund, vielleicht sogar mal vegan? Aber mit dem Kochen war es bei ihr leider nicht weit her, und vor allem, für welche Gäste? Denn auch Helen hatte leider recht, zumindest was Freunde anging. Wie oft dachte Harriet, wenn ihr ein Buch, das sie gerade las, besonders gefiel: Das wäre ein fabelhaftes Weihnachtsgeschenk! Aber für wen? Sie kannte natürlich eine Menge Leute, aus dem Studium, von Partys und woher man sonst eben Leute kannte, aber darunter war niemand, mit dem sie sich wirklich gut verstand. Ihre Bekanntschaften blieben oberflächlich, Beziehungen kamen nicht zustande: Vielleicht waren ihre Ansprüche zu hoch, wahrscheinlich war es überhaupt falsch, welche zu haben, sie blieb jedenfalls auch in Berlin die Einzelgängerin, die sie in Hamburg schon gewesen war. Also würde auch dieses Weihnachten ein Einsames, so sah es doch aus!
»Nicht einsam, sondern ganz bewusst allein!«, rief sie sich zur Räson, nachdem sie das Telefonat mit dem letzten Schluck heruntergespült hatte. Ihre Autonomie war in keiner Weise gefährdet, und mit Sicherheit gab es eine Menge Leute, die sie um die Freiheit beneideten, nicht neben ungeliebten Tanten und unsympathischen Schwägern sitzen zu müssen!
Also machte sie sich an die Planung ihres Weihnachtsfests. Zunächst kümmerte sie sich um die Weihnachtspost, suchte tagelang nach den richtigen Karten und fand sie schließlich in dem einen kleinen Laden, dessen fair produzierte Karten fast glamourös aussahen. Ebenso viel Zeit verbrachte sie damit, ein passendes Zitat auszusuchen, am Ende entschied sie sich für Sartre (»Weihnachten – ein Fest der Freude. Leider wird dabei zu wenig gelacht.«); ob sie das verstanden oder dann erst recht beleidigt waren, na und? Sie hatte jedenfalls ihren Spaß, und es gefiel ihr besonders, die Briefe an all die Heuchler und Verkrampften mit der Weihnachtssondermarke zu bekleben, die in diesem Jahr eine Madonna aus dem Kölner Dom zierte. Fest der Liebe! Bei herrlichstem Berliner Winterwetter warf sie die Briefe ein und feierte sich danach mit einem Winzerglühwein auf dem Gendarmenmarkt. Schön beschwingt kaufte sie zum Schluss in einem Second-Hand-Laden ein dunkelrotes Kleid aus Satin, ein Hauch von Nichts mit atemberaubendem Rückenausschnitt und definitiv zu dünn für die Saison.
»Aber was soll’s«, sagte sie, »muss ich raus? Eben! Außerdem haben wir Klimawandel, kalt wird es sowieso nicht.«
Was das Essen anging, würde sie sich keinen Stress machen. Einfach ist der neue Luxus, dachte sie und entschied sich für frische Tagliatelle mit Trüffeln (ein Gericht, das selbst sie zubereiten konnte), Bio-Weißwein, und zum Dessert etwas Obst – sollten sie doch am Karpfen ersticken!
Am ersten Weihnachtstag würde sie die Reste von Heiligabend essen (sie aß eben nicht viel), am Zweiten vielleicht ins Kino gehen und danach auf eine Quiche in ein schönes Café (und letztendlich, für Notfälle hatte sie immer eine Dose Baked Beans im Schrank).
Und Samstag vor Heiligabend überließ sie sich dem Shoppingwahn und fuhr zum Buchkaufhaus. Sie bekam jedes Jahr Bücher geschenkt, selbstverständlich waren es nie die, die sie sich wünschte, mochte sie noch so oft irgendwelche Autorennamen fallen lassen (schon als Kind hatte sie vergebens Wunschzettel geschrieben; ihre Eltern wussten immer, was besser, wertvoller, standesgemäßer etc. war), und selbstverständlich tauschte sie die dann um. Dieses Jahr ging sie los und beglückte sich selbst mit den richtigen Titeln: Das Leben der Annemarie Schwarzenbach und Oh, Simone! Glücklich stieg sie in die Tram und fuhr nach Hause.
Weihnachten kann kommen, dachte sie, von wegen, mit meiner Autonomie ist es nicht weit her. Es wird das beste Weihnachten aller Zeiten!