Junge rettet Freund aus Teich - Heinz Strunk - E-Book
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Junge rettet Freund aus Teich E-Book

Heinz Strunk

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Beschreibung

Der Held dieses Romans heißt Mathias Halfpape, so wie Heinz Strunk auch, bevor er sich Heinz Strunk nannte. Erzählt wird eine Kindheit und frühe Jugend in Harburg und Umgebung; es ist ein wunderbarer, von Melancholie, Schmerz und Liebe erfüllter Rückblick, ein Buch, mit dem Heinz Strunk einen neuen Ton findet und sich ganz und gar treu bleibt. «Heinz Strunk ist die Dreifaltigkeit der neueren, mit Leiden und Hochkomik aufwartenden Literatur.» EDO REENTS | FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG «Spaß und Depression derart authentisch und gekonnt miteinander zu verbinden, ist eine große Kunst. Heinz Strunk beherrscht sie meisterhaft.» FRIEDRICH POHL | DIE WELT

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Seitenzahl: 322

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Heinz Strunk

Junge rettet Freund aus Teich

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Der Held dieses Romans heißt Mathias Halfpape, so wie Heinz Strunk auch, bevor er sich Heinz Strunk nannte. Erzählt wird eine Kindheit und frühe Jugend in Harburg und Umgebung; es ist ein wunderbarer, von Melancholie, Schmerz und Liebe erfüllter Rückblick, ein Buch, mit dem Heinz Strunk einen neuen Ton findet und sich ganz und gar treu bleibt.

 

«Heinz Strunk ist die Dreifaltigkeit der neueren, mit Leiden und Hochkomik aufwartenden Literatur.» EDO REENTS | FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

«Spaß und Depression derart authentisch und gekonnt miteinander zu verbinden, ist eine große Kunst. Heinz Strunk beherrscht sie meisterhaft.» FRIEDRICH POHL | DIE WELT

Vita

Der Schriftsteller, Musiker und Schauspieler Heinz Strunk wurde 1962 in Bevensen geboren. Seit seinem ersten Roman Fleisch ist mein Gemüse hat er elf weitere Bücher veröffentlicht. Der goldene Handschuh stand monatelang auf der Bestsellerliste; die Verfilmung durch Fatih Akin lief im Wettbewerb der Berlinale. 2016 wurde der Autor mit dem Wilhelm-Raabe-Preis geehrt. MIt seinen Romanen Es ist immer so schön mit dir und Ein Sommer in Niendorf war er zwei Jahre in Folge für den Deutschen Buchpreis nominiert.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, März 2013

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung any.way, Cathrin Günther,

nach einem Entwurf von ANZINGER WÜSCHNER RASP, München

Coverabbildung Vicky Kasala/Getty Images

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-02791-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Für M.

1966

Gehacktesstippe

Ich wache in aller Herrgottsfrühe auf. Norbert schreit und brüllt und lacht draußen auf der Straße, dass man es bis zu mir unters Dach hört. Heute ist sein erster Schultag. Ich bin neidisch auf ihn, weil ich erst nächstes Jahr eingeschult werde. Ich stehe auf und luge durchs Bodenfenster. Norberts Schultüte ist fast so groß wie Norbert selber und bis oben hin voll mit Süßigkeiten und Spielkrams, dass er Mühe hat, das Gleichgewicht zu halten. So wird er den Schulweg nie schaffen! Irgendwann kracht er mit seiner Tüte um, und die ganzen Süßigkeiten fliegen in den Matsch. Selber schuld, wenn sie so vollgepackt ist. Ein wenig würde ich es ihm sogar gönnen, denn Norbert nimmt jetzt immer fünf Pfennig Eintritt in seinen Garten. Auf so eine Idee kann wirklich nur Norbert kommen, Eintrittsgeld für den Garten zu nehmen. Wir könnten natürlich auch zu Jens oder Heike oder anderswohin, wo es umsonst ist. Aber Norberts Garten ist der schönste und größte überhaupt, das muss man ihm schon lassen. Man kann bequem Boccia und Kricket und sogar Fußball spielen, wenn man die Bälle nicht zu doll tritt, damit sie nicht über den Zaun gehen. Und einen Geräteschuppen gibt es auch, wo man sich bei Regen unterstellen kann. Das nutzt er jetzt aus. Ich drehe mich auf die andere Seite und versuche, es mir wie in einer Höhle gemütlich zu machen. Dann klopft es, und Oma kommt rein.

«Es ist gleich neun, Mathias. Du musst bald mal aufstehen.»

Statt einer Antwort drehe ich mich so hin, dass Oma sich auf mein Bett setzen kann, um mich zu krabbeln. Sie krault erst meinen Kopf und dann den Rücken. Ich brumme wohlig, damit sie weitermacht, sie soll am besten niemals damit aufhören. Ich könnte den ganzen Tag im Bett liegen und mich krabbeln lassen! Mutter krabbelt besser, weil sie dünnere Finger hat, aber sie krabbelt nicht so gerne, und wenn, dann nur kurz. Am schlechtesten krabbelt Opa, und das auch nur einmal in der Woche, am Sonntagvormittag, wenn ich bis zum Mittagessen zu ihm ins Bett darf und er mir Geschichten aus dem Ersten Weltkrieg erzählt. Er bewegt beim Krabbeln nur seinen Daumen hoch und runter, mehr nicht. Opa war als Soldat in Frankreich und hat dort Geschichten erlebt, die er mir wieder und wieder erzählt und an denen ich mich gar nicht satthören kann. Ich weiß zum Beispiel, dass die dicke Berta die schwerste Kanone des ganzen Ersten Weltkriegs war. Und die Franzosen hatten am Anfang gar keine Tarnuniformen, sondern so rote Jacken wie anno dunnemals, dass man sie abschießen konnte wie Tontauben. Und wie die Soldaten im Steckrübenwinter 1916 nichts zu essen hatten und Opa fast verhungert wäre und Spinat aus Brennnesseln essen musste. Nur wenn ich Opa frage, ob er jemand totgeschossen hat, antwortet er nicht. Oma schimpft manchmal mit Opa und sagt, dass ich für solche Geschichten noch zu klein bin. Das finde ich aber nicht.

Im Zweiten Weltkrieg war Opa nicht, weil er als Oberingenieur in den Wilhelmsburger Zinnwerken eine wichtige Arbeit hatte. Opa hat noch mit über siebzig gearbeitet. Dann haben sie ihn vor die Tür gesetzt, weil er allen auf die Nerven gegangen ist. Hat mir meine Mutter mal erzählt. Opa ist klein wie Napoleon, nur einen Meter sechzig, darum haben sie ihn auf der Arbeit immer «den Halben» genannt. Er heißt ja auch mit Nachnamen Halfpape, deshalb. Opa trägt jeden Tag Anzug und Schlips und nachts wie Oma Nachthemd. Er hat noch nie was anderes als Nachthemd oder Anzug getragen, auch nicht Arbeitskleidung für den Keller oder Badehose im Sommer. Aber in die Sommerfrische fahren die Großeltern sowieso nicht mehr. Wenn sonst nichts Besonderes ist, geht Opa nach unten in den Keller und werkelt dort vor sich hin. Er hat sich da unten einen riesigen Werkzeugkeller eingerichtet, und es gibt wohl kein Werkzeug, das er nicht hat. Wenn Opa wollte, könnte er alles machen, es gibt wohl nichts, wofür er kein Geschick hätte. Manchmal schickt mich Oma nach unten, damit Opa mir was beibringen soll, aber es geht ihm bei mir immer zu langsam, und das macht ihn rasend. Das sind die einzigsten Male, dass er unfreundlich zu mir ist. Einmal nannte er mich einen ungeschickten Kaffeetrinker. Oma ist dann böse mit ihm geworden und hat ihn ausgeschimpft, aber Opa ist stur geblieben. Außerdem kann er kein Moll hören. Meine Mutter arbeitet als Musiklehrerin und hat auch ein paar Privatschüler, die sie am Flügel im Wohnzimmer unterrichtet. Immer wenn ein Stück in Moll gespielt wird, hält sich Opa die Ohren zu und geht in den Garten oder spazieren oder in den Keller. Dur kann er gut hören.

 

Um Punkt eins am Sonntag hat Oma immer das Mittagessen fertig. Mein Lieblingsgericht ist Geflügel oder Sauerbraten mit gefüllten Klößen. Zum Nachtisch Fürst-Pückler-Eis. Zum Sonntagsmahl trinken die Erwachsenen ein Glas Weißwein, sonst trinken sie höchstens mal Silvester einen Piccolo, aber da bin ich ja schon im Bett. Früher hat Mutter manchmal abends nach dem Unterricht eine Flasche Bier getrunken, aber jetzt nicht mehr, weil ihr das Bier irgendwann zu bitter wurde, sagt sie. Vor jedem Essen beten wir.

«Komm, Herr Jesus, sei du unser Gast und segne, was du uns bescheret hast, Amen.»

Wir haben noch zwei andere Tischgebete auf Lager, aber dieses nehmen wir am häufigsten. Wenn ich mal wieder krumm sitze, sagt Opa «Gerade sitzen, Kopf nicht stützen, Hände falten, Schnabel halten», aber er meint das nicht ernst, sondern lustig. Wir beten immer reihum, und ich bin genauso dran wie die Erwachsenen. Nach dem Essen schauen wir die politische Sendung «Fragen zur Zeit» im zweiten Programm, und wenn ich nur einen Pieps sage oder klappere, werden sie fünsch. Danach räumen die Frauen das Geschirr ab und machen den Abwasch, Opa geht in den Sessel zum Dösen, und ich darf «Flipper» gucken. Sonst darf ich im Fernsehen noch den «Hasen Cäsar» gucken und «Pan Tau». Danach unternimmt die ganze Familie einen Sonntagsausflug. Meistens geht es zur Sennhütte. Die Sennhütte liegt ganz oben auf einem Berg oder Hügel, wir müssen erst dreizehn Stationen mit dem Bus fahren, dann kilometerweit geradeaus gehen und zum Schluss die Serpentinen raufkraxeln zur Sennhütte. Die Erwachsenen essen Schwarzwälder Kirschtorte und trinken ein Kännchen Kaffee. Oma sagt, dass die Schwarzwälder Kirschtorte hier so gut schmeckt wie sonst nirgendwo. Ich mag lieber Obstkuchen, am liebsten Pflaumenkuchen mit Schlagobers und zum Trinken Bluna. Weil die Bedienungen mich schon gut kennen, geben sie mir Spielzeug, damit ich mich im Kreis der Erwachsenen nicht so langweile. So kann ich spielen, und meine Familie genießt den herrlichen Rundblick.

Aber heute ist ja Montag. Oma krabbelt mich immer noch, sie hat wohl die Zeit vergessen. Dann ist doch plötzlich Schluss.

«So, Mathias, jetzt reicht’s aber. Steh mal auf. Herr Marek fährt gleich.»

Mareks sind unsere Nachbarn links von uns. Herr Marek arbeitet in einem Geschäft für Herrenbekleidung und nimmt mich jeden Morgen mit seinem blauen Käfer zum Kindergarten mit. Meine Mutter sagt, dass Mareks mich gern als ihren eigenen Sohn hätten. «Den würden wir auch nehmen», hat Frau Marek früher oft gesagt. Mareks selbst haben keine eigenen Kinder. Man bekommt sehr wenig von ihnen mit, nur ganz selten ruft Frau Marek laut nach ihrem Mann, dass es einem durch Mark und Bein geht: ADOLF! Mutter äfft Frau Marek dann immer nach, obwohl das sonst gar nicht ihre Art ist und sie viel zu höflich ist, um jemanden nachzuäffen. Sonst verbringen die Mareks ihre Zeit im Garten, wo sie vor sich hin werkeln, aber sehr leise. Außer Rasenmähen hört man nichts von der Gartenarbeit, fast als wollten sie einen Weltrekord in Leisesein aufstellen, nach dem sich alle anderen dann richten müssen. Wenn irgendjemand von den anderen Nachbarn etwas Lautes macht oder auch nur laut spricht, schauen die Mareks ganz böse rüber, bis derjenige verstummt. Am meisten kriegen natürlich wir ab, weil wir direkte Nachbarn sind, wir bewohnen nämlich von den drei Reihenhäusern das Mittelreihenhaus und haben auch nur einen kleinen Garten, der ruck, zuck gemacht ist. Im Vorgarten stehen ein Apfel- und ein Kirschbaum, und hinten ist nur Rasenfläche und ein Beerenstrauch und eine Kompostkuhle und eine Terrasse und eine Sandkiste, die Opa damals für mich gebaut hat. Da halte ich mich aber kaum noch auf, außerdem hat der Wind mit der Zeit den Sand weggeweht, und Opa ist schon fast achtzig und hat keine Kraft, den immer nachzuschütten.

Oma ist richtig eingeschüchtert von Frau Marek. Herr Marek ist eigentlich ganz friedlich mit seinem dicken Bauch und der Glatze, und an der linken Hand fehlt ihm ein Daumen, den er im Krieg verloren hat, aber man sieht es nur, wenn man genau hinguckt. Frau Marek geht einmal die Woche zum Friseur. Sie hat sehr drahtiges Haar, das aussieht wie angeleimt. In ihrem ganzen Leben hat sie noch keine Hose getragen, auch nicht zur Gartenarbeit, sondern immer nur schwere Röcke und Blusen wie aus Stahl. Mareks Garten ist ungefähr viermal größer als unserer, und es ist schon eine Aufgabe, den in Schuss zu halten. Früher hat Frau Marek halbtags als Verkäuferin gearbeitet, aber jetzt ist sie nur noch Hausfrau. Obwohl sie so unfreundlich ist, waren wir an ihrem letzten Geburtstag zum Geburtstagskaffee eingeladen. Es war kein Staubkörnchen zu entdecken. Sie hat uns wohl nur eingeladen, damit sich Oma schlecht fühlt, weil es bei uns zu Hause niemals so geleckt aussieht mit vier Personen. Wenn sie zum Gegenbesuch zu uns kommen, macht Oma schon im Voraus eine Woche sauber, aber so wie Frau Marek kriegt sie es einfach nicht hin. Jeden Dienstag kauft Herr Marek einen Kasten Bier. Den trinkt er alleine, denn dass seine Frau auch mal eine Flasche trinkt, kann ich mir nicht vorstellen. Ich bin jedenfalls sehr froh, dass ich nicht das Kind von Mareks geworden bin, da müsste ich bestimmt richtig kuschen und leise sein und den ganzen Tag drinbleiben.

Morgens mache ich immer nur eine Katzenwäsche. Zum Frühstück hat Oma Gerstenbrot mit Butter und Erdbeermarmelade vorbereitet und zum Trinken Milch. Das Brot kauft sie seit Jahr und Tag in unserem Kaufmannsladen bei Herrn Langwerner, aber immer nur diese eine Sorte, es gab noch nie eine andere Sorte Brot bei uns, und Brötchen gibt es natürlich nur am Wochenende oder an Feiertagen. Wenn Mutter nicht gerade Unterricht hat, ist sie meist einkaufen oder Besorgungen machen. So auch heute, und Opa ist schon im Keller. Oma steht immer als Erste auf, um sechs Uhr, dann Opa um sieben, Mutter um acht und ich meistens um neun mittlerweile. Mutters Unterricht beginnt erst am Mittag, weil sie keine richtige Schullehrerin ist, sondern Privatlehrerin und bei der Jugendmusikschule angestellt, da beginnt der Unterricht erst nach dem richtigen Schulunterricht. So sehe ich sie meist nur abends und natürlich am Wochenende oder im Urlaub. Dieses Jahr waren wir in Südtirol, weil Mutter lieber in die Berge fährt als ans Meer. Am Meer herrscht keine Abwechslung, sagt sie. Ich glaube aber, dass Mutter nur deshalb nicht gern ans Meer fährt, weil vor zwei Jahren Tante Giselas Zwillinge Marina und Heike im Priel ertrunken sind, die damals in meinem Alter waren. Das Wasser kam rasend schnell, und plötzlich wurden die Zwillinge von den Wassermassen nach unten gezogen, und Tante Gisela war nur hundert Meter entfernt und konnte trotzdem nicht mehr helfen und musste zusehen, wie ihre Kinder ertranken.

Jedenfalls sind wir einfach so aufs Geratewohl nach Südtirol gefahren, und als wir erst in der Dämmerung angekommen sind, war jede Pension, wo wir es versucht haben, belegt, und als es dann duster wurde, ist Mutter so verzweifelt, dass sie vor mir in Tränen ausgebrochen ist. Da habe ich sie an der Hand genommen, und dann haben wir schließlich doch noch eine Pension gefunden, weit nach zehn, und Mutter hat gesagt, dass ich ganz tapfer war und sie es ohne mich niemals geschafft hätte. Am nächsten Tag sind wir gewandert, und als wir am späten Nachmittag wieder zur Pension gekommen sind, habe ich gleich Spielkameraden gefunden, Joachim und Wiebke. Mutter hat die ganzen vierzehn Tage leider keinen Anschluss gefunden, sosehr sie sich auch bemüht hat. Eines Abends konnte sie ihre Trauer vor mir nicht mehr verbergen, und sie hat gesagt, dass die Ehefrauen alle Angst um ihre Männer hätten, weil Mutter unverheiratet ist und die Frauen glauben, sie will sich einen Mann anlachen. Auch weil Mutter eine sportliche Figur hat und viel jünger aussieht als die meisten Frauen mit vierzig. Mutter sagt über sich selber, dass sie eine Figur hat wie eine Siebzehnjährige, und das finde ich auch, und ich bin stolz deswegen. Sie hat nach dem Abendbrot immer allein auf unserem Balkon gesessen und gelesen, während ich noch spielen war, und sie war dann auch froh, als der Urlaub endlich vorbei war. Nie wieder Südtirol, hat sie während der Rückfahrt gesagt. Nächstes Jahr geht es wahrscheinlich nach Berchtesgaden.

 

Herr Marek wartet schon mit laufendem Motor. Ich steige vorne ein, wir sagen uns «Guten Morgen», und den Rest der Fahrt schweigen wir still. Auf dem Weg liegen die Phönix-Gummiwerke, die größer als die ganze Stadt sind. Das Werkstor sieht aus der Ferne aus wie ein riesiges Maul, und die Menschen, die dort herumstehen, wirken, als wollten sie mich heranwinken. «Kümm, kümm, kümm», scheinen sie zu rufen, ich soll angelockt werden wie Mäuse, die man mit Speck fängt. Mich überfällt ein wohliger Schauer. Ich weiß gar nicht genau, was dort gearbeitet wird, kein Mensch weiß das oder vielleicht einer. Die Arbeiter machen und feilen und schrauben in ihren Hallen oder Räumen vor sich hin, ohne zu ahnen, was am Ende dabei herauskommt. Ich würde zu gern mal die Fabrik von innen sehen, aber ich habe auch Angst.

Bald darauf lässt mich Herr Marek bei der französischen Kinderschule raus. Das ist kein normaler Kindergarten, sondern kostet Geld und hat den Sinn und Zweck, dass man hier schon vor der Schulzeit Französisch lernt. Der Leiter heißt Monsieur Durand und trägt tagaus, tagein einen blauen Kittel. Er hat einen dicken Bauch wie Herr Marek und riecht aus dem Mund. Es ist ein ganz fauliger Geruch, gegen den Zähneputzen nicht hilft, weil er aus dem Magen kommt und gegen den man deshalb nichts machen kann, sagt Mutter. Er ist sehr streng und ungerecht. Fast alle Kinder haben Angst vor ihm, bis auf Karsten Sunkel. Seine eigenen drei Kinder Mathieu und Aurélie und Simone behandelt er bevorzugt. Sie haben schon deswegen nichts auszustehen, weil sie sein eigen Fleisch und Blut sind und perfekt Französisch können. Seine Frau Madame Durand arbeitet mit, indem sie sauber macht und kocht und alles Mögliche. Sie ist das ganze Gegenteil von ihrem Mann, klein und dünn, und wird von ihrem Ehemann ebenfalls nicht gut behandelt. Aber leid tut sie mir deswegen nicht, denn sie ist zu uns Kindern genauso unfreundlich wie Monsieur Durand. Wenn der mal nicht in der Nähe ist, ist sie sogar noch unfreundlicher. Die anderen Kinder kenne ich sonst nicht weiter, weil sie in der ganzen Stadt verstreut wohnen. Ich finde auch schlimm, dass es in sämtlichen Räumen schlecht riecht. Ich war der Einzigste, der sich getraut hat, das mal zu sagen, und jetzt hat Monsieur Durand mich auf dem Kieker. «Na, Sportsfreund», sagt er zu mir, aber die anderen nennt er bei ihren Namen. Nur wenn meine Mutter mich manchmal abholt, sagt er «Mathias» und tut so, als ob er ein netter Mann wäre. Wie soll ich das noch ein geschlagenes Jahr aushalten? Wenn ich Mutter darauf anspreche, sagt sie, dass die französische Kinderschule einen sehr guten Ruf hat und ich mir mal Mühe geben soll. Ich würde mich schon daran gewöhnen, und in der richtigen Schule wäre ich den anderen Kindern dann haushoch überlegen. Ich habe schon überlegt, ob ich sage, dass Monsieur Durand mich schlägt, aber das stimmt ja nicht, und wenn rauskommt, dass ich gelogen habe, geht’s mir hinterher umso schlechter. Also tu ich immer ganz niedergeschlagen, wenn ich aus der französischen Kinderschule komme, aber den Großeltern fällt das nicht auf, oder sie kommen nicht darauf, dass es wegen der Kinderschule ist. Ich halte es sowieso nicht durch, bis zum Abend traurig zu sein, außerdem denkt Mutter dann, es wäre wegen etwas anderem. Also muss ich wohl noch ein Jahr die Zähne zusammenbeißen. Um halb eins bringt uns Monsieur Durand mit seinem VW-Bus nach Hause. Ich habe das Glück, dass ich immer der Erste bin, den er abliefert, denn vom Autofahren wird mir schlecht. Wenn ich ausgestiegen bin und Richtung Haus stapfe, winkt Monsieur Durand mir freundlich hinterher, und niemand schöpft Verdacht.

 

Heute gibt es Gehacktes mit Gewürzgurken und Pellkartoffeln. Gehacktes ist Hackfleisch mit Zwiebeln und Mehlschwitze. Das Rezept hat Oma aus dem Harz mitgebracht. Meine Großeltern sind nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Harz hergezogen. Oma hängt noch sehr an ihrer alten Heimat und erzählt stundenlang Geschichten vom Brocken und von der Stadt Wernigerode und dem Dorf Ilsenburg, wo sie einst aufgewachsen ist.

Wenn wir Kinder uns nach dem Essen zum Spielen treffen, erzählen wir, was es zum Mittagessen gegeben hat. Bei allen gibt es Tag für Tag ein unterschiedliches Gericht, bis auf Thorwardts. Die kann man fragen, wann man will, es gibt bei denen immer nur Kartoffeln mit Soße. Nichts anderes, Kartoffeln mit Soße. Uwe Thorwardt ist der Größte und Kräftigste von uns allen, aber sehr gutmütig und sein Bruder Wolfgang zwei Jahre jünger und dünn. Weil er als Einzigster von uns Kindern eine Brille trägt, nennen wir ihn Professor.

Zum Nachtisch gibt es Dr.-Oetker-Vanillepudding mit selbstgemachter Kirschsoße. Fast immer ist es Oma, die kocht. Es hat sich so eingebürgert, dass Mutter dafür die Besorgungen macht. Nach dem Essen klingele ich bei Axel. Nach einer Ewigkeit öffnet seine Mutter. Sie war lange krank, aber keiner weiß genau, was sie hatte, und Axel sagt nichts.

«Darf Axel kommen?»

Die Mutter nickt und ruft nach oben: «Axel.»

Der hat schon gewartet und stratzt runter, so schnell er kann. Als Nächstes holen wir Norbert ab und dann Jens und Heike und Susanne. Manchmal kommen auch noch Bernd, Karin und Marina dazu, obwohl die oben am Walsroder Ring wohnen und meist für sich bleiben. Aber heute sind sie heruntergekommen, und wir haben zwei richtig große Mannschaften. Norbert benimmt sich hochnäsig, weil er jetzt Schulkind ist. Dabei kann er nach einem Tag auch nicht viel mehr als wir. Der wird von seinem hohen Ross schon noch wieder runtersteigen.

Heute spielen wir Völkerball. Wir malen mit Kreide die Spielfelder nach, weil es gestern geregnet hat, dann geht’s los. Bevor der erste Ball geworfen wird, ruft Axel schon «Auto!». Wir rennen auf den Bürgersteig und warten, bis die Gefahr vorüber ist. Zum Glück kommen höchstens zwei, drei Autos in der Stunde vorbei. Heike spielt viel besser als Susanne und die anderen Mädchen, sie ist die Einzigste, die mit uns Jungen mithalten kann, auch in anderen Sportarten. Manchmal muss sie von ihrer Mutter gebremst werden, damit die Pferde nicht mit ihr durchgehen, sie ist eine richtig wilde Hummel. Ich freue mich immer am meisten, wenn sie zum Spielen rauskommt. Einmal habe ich das Oma gesagt, und die meinte, ich wäre wohl ein wenig verliebt. Das glaube ich aber nicht.

Nach zwei Stunden sind wir durchgeschwitzt und haben genug. Norbert schlägt vor, in seinem Garten Boccia zu spielen, aber ich bin dagegen, weil er ja nur wieder abkassieren will. Die anderen sind auch dagegen, und wir gehen zum Garagenplatz, Fußball spielen. Auf dem Garagenplatz sind auf der linken Seite drei Garagen, und geradeaus ist eine Mauer, die zu den Garagen dahinter gehört. Weil der Platz ziemlich klein ist, können wir immer nur Zweierkämpfe spielen. Einer schießt den Ball gegen die Mauer, sodass der Ball abprallt, und wenn der andere den Ball zehnmal nicht kriegt, scheidet er aus. Dann ist das nächste Paar dran, bis von allen Paaren die Sieger feststehen und in der nächsten Runde gegeneinander spielen. Die, die warten müssen, setzen sich auf den Stromkasten, oder die Mädchen spielen nebenbei Gummitwist.

Das Haus direkt hinter dem Garagenplatz gehört der alten Frau Rusche. Frau Rusche ist die komischste Bewohnerin in der ganzen Siedlung. Sie ist sehr schmutzig und trägt zerlöcherte Anziehsachen. In ihrem Haus und Garten leben ganz viele Katzen. Der Garten ist verwildert und eigentlich gar kein Garten mehr und ihr ganzes Haus von oben bis unten voller Müll. Voriges Jahr hat es bei ihr gebrannt, und die Feuerwehr ist kaum durchgekommen vor lauter Müll. Dabei ist sie steinreich! Allein in unserer Siedlung gehören ihr vier Häuser! Und wer weiß, wo noch. Ihr toter Mann war Erfinder, daher. Er hat den Apparat erfunden, der dafür da ist, dass beim Tanken kein Benzin mehr überläuft. Seitdem kassiert Frau Rusche von jedem Liter Benzin, der verkauft wird, ihren Teil. Außerdem ist sie so was wie eine gute Hexe: Sie hat ganz unwahrscheinliche Kenntnisse über Gesundheit, dass es schon an Zauberei grenzt. Manchmal sieht sie mich schon von weitem mit stechendem Blick an. Dann weiß ich, was gleich kommt: Wenn ich auf ihrer Höhe bin, fasst sie mir mit ihren Händen ins Gesicht. Sie knetet an meinen Backen herum oder zieht mir die Augenlider herunter oder schaut in meinen Mund. Dadurch kann sie feststellen, was mir fehlt. Ihre Hände sind rissig und schmutzig und riechen nach Kartoffelschalen oder Gras. So wie Frau Rusches Hände riechen sonst keine. Sie sagt dann zum Beispiel, dass mir rote Blutkörperchen fehlen und ich von diesem oder jenem mehr essen soll. Jemand anderes dürfte so was niemals machen, aber wir haben keine Angst vor ihr, und auch die Erwachsenen lassen es zu, weil Frau Rusche harmlos ist und ein guter Mensch und eben steinreich. Wer weiß, was ihr außer den vier Häusern noch alles gehört! Wenn jemand den Ball verschießt, landet der manchmal in Frau Rusches Garten, und wir müssen dann aufs Dach klettern und den Ball wiederholen, was nicht gerade einfach ist, denn Frau Rusches Garten besteht nur aus hohen Hecken und Dornen und Gestrüpp und wilden Beeren.

Der zweitreichste Mann ist Herr Hübner. Ihm gehören zwei Häuser und neben unserem noch zwei andere Garagenplätze. Er trägt wie Opa immer einen Anzug und raucht dicke Zigarren, und er hat in der Stadt ein Riesengeschäft mit Gartengeräten, er liefert seine Sachen überallhin. Meistens hören wir schon von weitem die Motorengeräusche von seinem dicken BMW und verstecken uns, aber manchmal erwischt er uns, und dann gibt’s Ausmecker. Dass wir seinen Platz benutzen, hat er mit der Zeit zähneknirschend hingenommen, aber nicht, dass wir aufs Dach klettern. Er sagt, dass es vom dauernden Hochklettern kaputtgeht, und irgendwann muss es neu gemacht werden, und unsere Eltern müssten das dann bezahlen, und das geht ins Geld. Wir könnten doch genauso unten auf dem Langenbeker Feld spielen oder auf dem Fußballplatz in der nächsten Siedlung. Das ist aber nicht so einfach, wie er das denkt, denn das Langenbeker Feld ist viel zu huckelig zum Fußballspielen, und die andere Siedlung ist so weit entfernt, dass man schon den halben Nachmittag braucht, um hin- und wieder zurückzukommen. Wir hören uns seine Standpauke an und warten einfach, bis er wieder weg ist. Dann spielen wir weiter.

Ich verschieße den Ball und muss in Frau Rusches Garten klettern. Die Katzen huschen um meine Beine herum, und ich zerkratze mir die Arme am dornigen Gestrüpp. Zum Glück ist Frau Rusche nicht da. Manchmal taucht sie auf wie ein Geist oder Gespenst, und man hat gar nicht mitgekriegt, wo sie überhaupt herkommt. Sie schimpft nicht, sondern guckt einen an, dass man ein schlechtes Gewissen kriegt. Ich verstehe nicht, was Frau Rusche mit ihrem Garten hat, denn der ist schließlich wie ein Urwald, und man kann eigentlich gar nichts kaputt machen oder zertreten. Man kann nur von Glück sagen, dass Frau Rusche keinen normalen Garten hat, in dem man wirklich etwas zertreten könnte.

 

Um sechs müssen alle zu Hause sein zum Abendbrot. Wir sind die Einzigsten, bei denen es erst um sieben Abendbrot gibt, weil Mutter dann vom Unterricht zurückkommt. Um sechs gibt es bei Oma Kaffee und Kuchen, sie bäckt jeden Tag einen Kuchen oder eine Torte. Ich klingele, und während sie zur Tür kommt, überlege ich schon, welche Kuchensorte sie heute wohl gebacken hat. Wenn sie endlich aufmacht, rufe ich «Apfelkuchen, Apfelkuchen» oder eine andere Kuchensorte, die sie gebacken hat. Doch heute habe ich mich getäuscht, denn als sie mich in den Arm nimmt, rieche ich es schon: Johannisbeertorte! Johannisbeertorte ist etwas Besonderes, das sie eigentlich nur sonn- oder feiertags backt. Die Johannisbeeren sind oft so sauer, dass man den Mund verziehen muss, dafür ist zum Ausgleich der Teig schön süß. Dazu hat sie eine Schüssel Schlagobers geschlagen. Das Wort Schlagobers stammt aus dem Harz, normalerweise heißt es Schlagsahne. Ich verdrücke drei Stücke, Oma eins und Opa zwei, sodass die Hälfte übrig bleibt, weil meine Mutter nichts von der Torte isst, damit sie ihre Figur behält. Morgen gibt es schon wieder eine neue Torte. Ich wüsste nur zu gern, was Oma mit dem restlichen Kuchen anstellt, denn wegschmeißen würde sie niemals auch nur einen Krumen. Die Großeltern haben zwei Weltkriege mitgemacht und würden nie im Leben Lebensmittel wegschmeißen. Wenn ich danach frage, lächelt sie nur und gibt keine richtige Antwort.

Um halb sieben lässt mir Oma Badewasser ein. Ich bade noch immer in meiner Plastikkinderwanne in der Küche. Mein Lieblingsbadewannentier ist Mecki der Igel aus der Hörzu. Heute ist große Wäsche mit Haarewaschen. Dann ab in den Schlafanzug und den Bademantel über. Schlag sieben steckt jemand den Schlüssel ins Haustürschloss. Wie von der Tarantel gestochen springe ich auf und öffne. Mutter sieht wieder mal ganz erschöpft aus, sie nimmt mich aber auf den Arm und drückt mich fest. Abendbrot essen wir im Wohnzimmer, wo Oma schon alles vorbereitet hat. Es gibt hartgekochte Eier, Gerstenbrot, Käse. Zu trinken gibt es nichts. Mutter trinkt nie was zum Essen, außer am Wochenende einen Schluck Weißwein. Sie sagt, dass man beim Essen nichts trinken soll, weil das die Magensäure verdünnt. Morgens trinkt sie Kaffee. Ohne Kaffee ist sie zu nichts zu gebrauchen, sagt sie dann immer, und dass sie Kaffeedurst hat.

Mutter arbeitet drei Nachmittage in der Woche im Musikpavillon der Schule Hanhoopsfeld. Die Privatschüler sind auf die restliche Woche verteilt, und am Wochenende ist ganz frei. Mutter verdient sehr wenig. Wenn Opa nicht seine Rente von 2700 Mark hätte, müsste sie Sozialhilfe beantragen, hat sie mal gesagt. Deshalb musste sie nach meiner Geburt auch wieder zu ihren Eltern ziehen, denn alleine hätte sie es niemals geschafft. Dabei ist sie erst mit dreißig von zu Hause ausgezogen. Und nun wohnt sie schon wieder hier. Aber es geht eben nicht anders. Für meine Mutter bin ich ihr Ein und Alles, und meine Großeltern haben mich auch lieb, auch mein Opa, der immer sehr streng war sein ganzes Leben, nur zu mir und zu Oma nicht. Er hat mich nie geschlagen, hat Oma mal gesagt. Obwohl er schon so alt ist, versucht er, mit seinem Enkel mitzuhalten, und er spielt zum Beispiel Federball mit mir, obwohl Oma das nicht gerne sieht, denn Opa hat ein schwaches Herz.

«Na, Gretchen, wie war es heute wieder?», fragt Oma immer, während meine Mutter ihr Abendbrot isst. «Deine Mutter isst wie ein Spatz», sagt meine Oma, wenn wir alleine sind. Das kommt daher, dass sie unter keinen Umständen dicker werden will, außerdem schmeckt es ihr nicht.

«Ach, Mutti, die Kinder haben in den Ferien überhaupt nicht geübt, dabei habe ich es ihnen eingebläut: ‹Wenn ihr in den Ferien nicht übt, dann müssen wir immer wieder von vorne anfangen. Und eure Eltern bezahlen den Unterricht sicher nicht, damit wir immer wieder von vorne anfangen, oder?› Da gucken die meisten Kinder beschämt zu Boden. Aber geübt haben sie trotzdem nicht.»

Mutter ist eine sehr gute Lehrerin und sehr beliebt. Sie unterrichtet Blockflöte, Klavier und musikalische Früherziehung. Einmal im Jahr ist Elternabend, da findet ein richtiges kleines Konzert im Musikpavillon statt. Abends um 18 Uhr geht’s los, und es dauert dann zwei Stunden. Alle Schüler spielen etwas vor, erst die Anfänger mit kurzen Stücken, später dann kommen die Fortgeschrittenen und ganz zum Schluss Sigrun Hildebrandt. Die ist Mutters Meisterschülerin und spielt fast so gut wie Mutter selbst. Sigrun ist fünfzehn Jahre alt und möchte das später mal als Beruf ergreifen. Mutter fördert sie, so gut sie kann, und ist sehr stolz auf Sigrun. Zu jedem Schüler sagt Mutter eine Kleinigkeit, sie erklärt, was für ein Stück es ist und von welchem Komponisten, und es ist sehr unterhaltsam und lustig, wie sie das macht. Ganz am Ende verbeugt sich Mutter und erntet stürmischen Applaus. Sie bekommt so viele Blumensträuße überreicht, dass wir die mit vier Mann hoch kaum nach Hause schleppen können. Die ganze Familie ist sehr stolz auf sie, und ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es eine bessere Musiklehrerin gibt als Mutter. Weil sie ihren Beruf so ernst nimmt, ist sie am Abend immer rechtschaffen müde.

Punkt acht Uhr schaltet Opa den Fernseher an für die Tagesschau. Nach dem Wetterbericht muss ich ins Bett. Abends bringt mich Mutter immer, damit sie wenigstens noch ein kleines Weilchen mit ihrem Sohn hat, und liest mir noch eine Geschichte vor.

 

«Es war einmal ein Dorf namens Toppenhausen. Dort betrieben die drei Geschwister Gerd, Wolfgang und Inge Ott einen Mettwursthof, wo als alleiniges Produkt Mettwurst hergestellt wird. In Toppenhausen sind fast alle Mettwurstbauern, das gibt es auf der Welt wohl kein zweites Mal. Niemand weiß genau, warum die Mettwurst hier so gut schmeckt. Das Geheimnis wird so streng gehütet wie das Gold in Fort Knox. Gerd und Wolfgang sind wortkarge Männer. Alles an ihnen ist sehr groß, die Hände, die Ohren und vor allen Dingen die riesigen, klumpigen Füße. Die beiden sehen immer etwas schief aus und sehr grob. Sie haben eigentlich nur Gummistiefel an und sonst eben ihr Arbeitszeug, die Mettwurstkleidung. Nur für ganz bestimmte und seltene Anlässe ziehen sie ihre alten, braunen Anzüge an, aber sie verlassen Toppenhausen kaum. Jeden Tag kocht Inge für die riesigen, schweren Männer Essen. Sie essen alles mit, auch Haut, Knorpel und Sehnen. Im Herbst ist Mettwursternte. Die Mettwurstfelder liegen an einem geheimen Ort, den kein Fremder je zu Gesicht bekommen hat. Aber dafür durften wir uns einmal die Wurstmaschine anschauen. Dann werden die Würste zu dem geheimnisvollen Großbauern Hermann Ruschmeyer gebracht, der in Toppenhausen nur ehrfürchtig ‹Der Mettwurstpapst› genannt wird. Er weiß mehr über die Mettwurst als jeder andere Mensch auf der Welt, und er ist noch größer und schwerer als die anderen Männer im Dorf. Wer regelmäßig nach Toppenhausen fährt, der bekommt vielleicht sogar irgendwann die Mettwurstfelder gezeigt.»

 

Dann spricht Mutter noch ein Gutenachtgebet, und als sie nach unten gegangen ist, bete ich vorsichtshalber noch mal. Ich danke Gott für den schönen Tag und dass wir alle gesund sind und uns lieb haben und wir genug zu essen und zu trinken haben und kein Krieg herrscht, und ganz am Ende bete ich für die Menschen auf der Welt, denen es schlechter geht als uns. Es ist ganz wichtig, mindestens einmal am Tag mit Gott zu sprechen. Wenn ich etwas Schlimmes gemacht habe, dann bitte ich ihn um Verzeihung und verspreche, mich zu bessern. Es ist nämlich so, dass ich, um den Eintritt in Norberts Garten zu bezahlen oder Süßigkeiten oder Eis zu kaufen, manchmal Opa oder Mutter Geld aus dem Portemonnaie nehme, fünfzig Pfennig oder eine Mark, einmal sogar zwei Mark. Weil ich noch kein festes Taschengeld bekomme und mich nicht mit so viel Geld erwischen lassen darf, habe ich mir einen Trick ausgedacht: Ich sage, dass ich Geld suchen gehe, das andere Leute fallen gelassen oder verloren haben. Dann gehe ich den ganzen Nachmittag auf Suche, und abends komme ich mit dem Geld zurück. Anfangs waren die Erwachsenen misstrauisch, aber jetzt sind sie es nicht mehr. Sie glauben, dass ich ein besonderes Geschick im Geldfinden habe. Man darf es natürlich nicht übertreiben, also höchstens einmal die Woche oder auch nur alle zwei Wochen, je nachdem. Ein richtig schlechtes Gewissen habe ich deswegen nicht, ich finde es auch viel schlimmer, jemandem etwas Böses zu wünschen oder schlechte Gedanken zu haben. Ich freu mich schon auf später, wenn ich in der Schule bin und endlich lesen kann, dann kann ich nach Herzenslust schmökern, so viel ich will, und bin nicht mehr darauf angewiesen, dass die Erwachsenen mir abends vorlesen.

Außenmühle

Heute macht Mutter ausnahmsweise das Mittagessen. Es gibt eine Speise, die sie selbst erfunden und «Scharfes» genannt hat. Sie besteht aus Hackfleisch, Paprika, Zwiebeln, Tomaten und jeder Menge exotischer Gewürze. Für die Großeltern ist das viel zu scharf, immer wenn Mutter Scharfes macht, essen die beiden Matjes. Ich bin eigentlich überhaupt nicht krüsch, aber mit Matjes kann man mich jagen, während sich die Großeltern schon Tage im Voraus auf den Matjes freuen, besonders Oma. Es ist das einzigste Mal überhaupt, dass die Familie unterschiedliche Sachen isst. Zum Nachtisch gibt es Pudding, diesmal wieder für alle. Es klingelt. Norbert und Axel.

«Darf Mathias kommen?»

Weil es noch mal richtig heiß geworden ist, gehen wir zum Schwimmen ins Freibad Außenmühle. Die Tasche mit den Badesachen steht fix und fertig gepackt im Flur. Der Weg zum Freibad führt uns am neuen Einkaufszentrum und den Schrebergärten vorbei. Ich freu mich so, dass ich anfange zu hüpfen. Norbert guckt mich böse an. Er hüpft selber nicht mehr, weil er jetzt ja zur Schule geht und ihm das zu albern ist. Weil Axel trödelt, schmeißt Norbert mit Steinen nach ihm. Erst nimmt er kleinere Kiesel, dann immer größere Brocken. Axel kann erst noch ausweichen, dann erwischt ihn Norbert aber voll am Bein. Axel fängt an zu weinen und lässt sich noch weiter zurückfallen. Plötzlich stratzt Norbert weg, so schnell er kann, weil er Axel abhängen will. Ich weiß nicht, was ich machen soll, eigentlich sollte ich ja Axel Gesellschaft leisten, aber dann renne ich Norbert hinterher. Als ich mich umdrehe, ist von Axel keine Spur. Jetzt kommt auch Norbert mit einem schlechten Gewissen zurückgetrottet. «Wo ist Aggu denn?», tut er unschuldig. Eigentlich müssten wir umkehren und ihn suchen, aber Norbert geht einfach weiter. Mir wird mulmig zumute. Axel ist bestimmt zu seiner Mutter zurück und sagt der alles, und wenn wir zurückkommen, gibt es Ärger.

Die Schlange vor der Kasse ist sehr lang, und als wir anstehen, tut Norbert die ganze Zeit so, als wäre nichts. Eigentlich hat er ja Schuld, aber weil ich mitgelaufen bin, hab ich genauso Schuld. Am liebsten würde ich gleich wieder nach Hause gehen, dann hab ich’s hinter mir, aber ich trau mich nicht wegen Norbert. Die Kassenfrau stempelt endlich meine Zehnerkarte ab, dann geht’s erst mal in die Umkleiden. Hier müffelt es so, dass ich es nur ganz kurz aushalte, sonst wird mir schlecht. Norbert ist am ganzen Körper kalkweiß. Ich bin in diesem Sommer richtig braun geworden, und mein Gesicht ist gesprenkelt von Sommersprossen. Oma sagt, dass das niedlich ist, das finde ich aber nicht. Ich wünschte, ich hätte keine Sommersprossen, und mein Grübchen gefällt mir auch nicht. Entweder man hat zwei Grübchen oder gar keins, finde ich. Aber eigentlich ist es auch egal. Norbert hat schon Fahrtenschwimmer, ich nur Freischwimmer, weil ich mich nicht vom Dreier traue. Ich hab’s schon ein paarmal versucht, bin dann aber in letzter Sekunde wieder umgekehrt. Einmal hat ein Junge versucht, mich runterzustoßen. Ich konnte gerade noch das Gleichgewicht halten, aber der Bademeister hat es gesehen, und der Junge musste sofort die Badeanstalt verlassen, für immer. Bademeister müsste man sein. Den ganzen Tag in der Sonne liegen und die frechen Kinder zusammenpfeifen und ihnen alles Mögliche verbieten. Noch besser finde ich Förster. Immer in der frischen Luft mit einem Hund und einem Gewehr durch den Wald stromern.

Wir stellen uns am Kiosk an und holen uns Eis, ich Berry und Norbert Mr. Freeze. An einem Stehtisch verzehrt ein Mann eine Bockwurst mit Senf. Da hätte ich jetzt eigentlich viel mehr Hunger drauf. Eigentlich habe ich immer Hunger. Oma sagt oft, dass ich keinen Hunger habe, sondern Appetit, und nur wenn man hungrig ist, sollte man was essen. Aber den Unterschied konnte sie mir auch nicht richtig erklären. Ich hab jedenfalls Hunger auf Bockwurst oder noch besser auf Hähnchen, das esse ich am liebsten. Wenn es bei uns Hähnchen gibt, macht Oma das immer für zwei Tage und tut eine Hälfte über Nacht in den Kühlschrank. Manchmal habe ich solchen Hunger, dass ich heimlich was vom Hähnchen esse, aber so, dass es nicht auffällt, ich tu dann Haut über die Stellen und hoffe, dass es niemand merkt. Oma isst am liebsten die Flügel, obwohl da am wenigsten Fleisch dran ist, aber sie sagt, dass sie so gerne knabbert. Mutter isst Keule, und Opa und ich essen Rücken und den Rest. Oma isst wie Mutter immer nur sehr wenig. Sie ist ja auch genauso dünn. Oma behauptet steif und fest, dass sie vom Abschmecken schon pappsatt ist.