Jürgen von der Lippe - Oliver Domzalski - E-Book

Jürgen von der Lippe E-Book

Oliver Domzalski

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Beschreibung

Jürgen von der Lippe von Oliver DomzalskiOb er die Hawaii-Hemden auch daheim trägt? "Trägt ein Metzger seine blutige Schürze zu Hause?" Also: Nein, die markante Berufskleidung bleibt im Schrank während unseres Gesprächs.Der erste Eindruck vom Wohnzimmer: Bücher! Regale über Regale. Klassiker, moderne Belletristik, Politik, Philosophie … und er kann zu jedem Buch etwas sagen. 90 Prozent davon habe er gelesen, schätzt er. Dass er immer erst abends zum Arbeiten verabredet ist, mit demPublikum seiner etwa 150 Bühnenauftritte und Lesungen im Jahr, hat den Vorteil, dass er tagsüber lesen kann. Und schreiben. Und sich fit halten in seinem eigenen Fitnessraum. Dort steht übrigens auch der Fernseher.Wenn er Ideen braucht, geht er in sein Arbeitszimmer. Darin: Weitere Regale. Fachliteratur, also Humor. Stapel mit Zeitungsausrissen. Da muss er nur eine halbe Stunde drin blättern, schon sind die neuesten Kurzgeschichten im Kopf entworfen. In unserem Gespräch spricht er sehr bewegend von seinen Eltern und ihrem Sterben. Sehr bildhaft von den wilden und anarchischen Siebzigern in Berlin. Sehr überzeugend von der berauschenden Erfahrung, auf der Bühne zu stehen. Und sehr gebildet und unterhaltsam über Ernährung, Medizin, Botanik und all die anderen Themen, über dieer sich enormes Wissen angelesen hat. Und es gibt – Überraschung – viel zu lachen.

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Komiker.Klugscheißer.Koch.

 

Jürgen von der Lippe

von Oliver Domzalski

 

 

 

 

 

kurz & bündig Verlag | Frankfurt a. M. | Basel

Zum Buch

Jürgen von der Lippe. Komiker. Klugscheißer. Koch.

Jürgen von der Lippe ist ein Multitalent: Erfolgreiche TV-Shows wie »Donnerlippchen« und »Geld oder Liebe«, zahlreiche Bühnenprogramme, mehrere Bestseller. Seine einmalige Mischung aus gebildetem Humor und Ausflügen unter die Gürtellinie begeistert seit vielen Jahrzehnten junge und alte Fans. Dieses Buch erzählt von seinen Freunden und Feinden, von der Kirche und der Karriere, von geklauten Gags und Hawaiihemden – und vielem mehr. Das irre Leben eines liebenswerten Typs.

»Jürgen von der Lippe ist einer der größten Komiker dieses Landes – wenn nicht der größte.«

(Carolin Kebekus)

Zum Autor: Oliver Domzalski

Oliver Domzalski, geboren 1960 in Berlin, war Jürgen von der Lippes Lektor im Eichborn-Verlag – und einmal auch sein Joker bei »Wer wird Millionär?«. Der promovierte Historiker lebt als freier Autor und Lektor in Hamburg.

»Um ernst zu sein genügt Dummheit, während zur Heiterkeit ein großer Verstand unerlässlich ist.«

(William Shakespeare)

 

Prolog

Vor vielen Monaten bekam ich einen Anruf: Jürgen, es geht um den Comedypreis. Ich sagte: O. K., soll ich wieder eine Laudatio halten, wo ihr hinterher alles rausschneidet bis auf den Namen des Preisträgers? Ihr könnt mich mal am …

Nee, es geht um dich! Der Ehrenpreis!

Ich sage, ist das fürs Lebenswerk? Hat mein Hausarzt irgendwas durchsickern lassen, wovon ich selber noch nichts weiß? Und dann hab ich mich gefreut. Aber ich hab mich natürlich gefragt, warum sagen die einem das so lange im Voraus? Wahrscheinlich machen sie das nur bei älteren Preisträgern, damit die Gelegenheit haben, noch kosmetische Korrekturen vornehmen zu lassen. Aber das war mir alles zu teuer, außerdem würde man es bei mir eh nicht zur Kenntnis nehmen. Ende August erklärte mich die Zeitschrift »Men’s Health« zum schlechtestgekleideten Mann der Welt, weil ich angeblich Goldkettchen trage, was ich definitiv nicht tue, und weil ich Hawaiihemden trage, was ich tue, aber nur auf Arbeit. Das ist meine Dienstkleidung.

(Aus der Dankesrede zur Verleihung des Deutschen Comedypreises 2006)

»In den entscheidenden Momenten habe ich immer

die Leute getroffen, die mir weitergeholfen haben.

Dafür kann ich nur dankbar sein.«

 

1. Von der Lippe nach Berlin: 1948 bis 1972

Die Geburt des kleinen Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp am 8. Juni 1948 in Bad Salzuflen löste eine erstaunliche Kettenreaktion aus. Der Kleine sah sich um und befand zweierlei: Hier willst du nicht bleiben, und mit dem Namen kannst du keine Karriere machen. Das Stichwort »Karriere« wiederum rief einen Wirtschaftsprofessor namens Ludwig Erhard auf den Plan. Er fand, dass der Junge einmal gutes Geld verdienen sollte, und setzte zwölf Tage nach Hans-Jürgens Geburt die Währungsreform in Kraft, die dem Land die D-Mark brachte. Der Rest ist Legende: Fresswelle – Wirtschaftswunder – Abitur – Gebrüder Blattschuss – Geld oder Liebe – Was liest du?

Nun ja, so verlaufen Biographien bekanntlich nicht. Sie sind nicht vorgezeichnet, sondern ergeben sich aus den Umständen. Und die waren 1948 einerseits schwierig, andererseits sehr dynamisch. Der Krieg war gerade mal drei Jahre vorbei, und alles war im Fluss.

Hans-Jürgens Vater Hans, Jahrgang 1913, war eines von acht Kindern; er stammte von einem Bauernhof bei Stukenbrock in Westfalen. Die dortige Verwandtschaft – und die mütterlicherseits, aus Bottrop – entzündete Jürgen von der Lippes Liebe zur Sprache des Ruhrpotts. Der Vater hatte eigentlich Bäcker werden wollen – aber die Armut während der Weltwirtschaftskrise Anfang der Dreißigerjahre war sehr viel existenzieller als die, die wir heute kennen. Sein Ausbildungswunsch scheiterte tatsächlich daran, dass kein Geld für die notwendige Berufskleidung da war. Er verdingte sich erst als Vertreter; im Krieg war er dann Funker. In der englischen Kriegsgefangenschaft erlernte er den Beruf des Barmixers – die britischen Offiziere wollten auf professionell zubereitete Drinks nicht verzichten. Als Hans-Jürgen 1948 auf die Welt kam, war der Vater als Barkeeper im Kurhaus Bad Salzuflen tätig. Und dort hatte er auch Elfriede kennengelernt. Sie war dreizehn Jahre jünger als ihr Mann und arbeitete im selben Haus als Diät­köchin. »Diät« bedeutete damals nicht »Abnehmen« – auf die Idee wäre in der Hungerzeit nach dem Krieg niemand gekommen. Vielmehr ging es um spezielle Schonkost für bestimmte Patienten. Und vermutlich ums Aufpäppeln.

Seinen Geburtsort nahm Hans-Jürgen viel später wieder in sein Leben auf. Das Lipperland, in dem Bad Salzuflen liegt, stand Anfang der 70er-Jahre Pate für seinen Künstlernamen Jürgen von der Lippe. Mit der Namensanleihe bei einem tatsächlich existierenden Adelsgeschlecht wollte er allerdings nicht hochstapeln, sondern eher zu Wortspielen wie in der Überschrift dieses Kapitels einladen. Hat geklappt.

1950 erhielt der Vater ein lukratives Angebot aus Aachen: Die Cortis-Bar, das beste Striptease-Lokal der Stadt, engagierte ihn als Barkeeper. Und so wuchs Hans-Jürgen in Aachen auf und lernte Rheinländer. Außerdem absolvierte er eine Ausbildung als Einzelkind. Auf die Frage nach Geschwistern pflegt er jedenfalls zu antworten: »Meines Wissens keine.«

Obwohl die Stelle des Vaters im Vergleich zu Bad Salz­uflen vergleichsweise gut bezahlt war, hatte die Familie zunächst keine eigene Wohnung – auch in Aachen war im Krieg sehr viel Wohnraum zerstört worden. Jürgen von der Lippe schildert die Verhältnisse so: In der Normannenstraße wohnten wir zur Untermiete bei Familie Schmitz, die zwei Kinder hatte. Der Junge, Karl Heinz, besaß mehrere kleine Spielzeugautos, die mein Interesse weckten. Allerdings faszinierten mich weniger ihre Fahreigenschaften als die Frage, wie schnell man sie kaputt kriegte. Aus dem möblierten Zimmer in der Normannenstraße zogen wir in die Theaterstraße, nahezu in die Stadtmitte, erster Stock, zwei Zimmer, Küche, Toilette. Das waren die guten alten Zeiten des Sukzessiv­badetags: erst Papa, dann Mama, und in der lauwarmen Restlauge, die mit einem Flötenkessel voll kochendem Wasser aufgepimpt wurde, ich.

Noch aus der Normannenstraße stammt eine der frühesten verbürgten und von der Mutter unermüdlich verbreiteten Äußerungen Hans-Jürgens. Direkt nebenan lag der Tivoli, das Stadion von Alemannia Aachen. Wenn dort Jubel aufgebrandet sei, habe er gerufen: »Jetzt haben die Alemannen wieder ein Tor geschissen!« Man könnte trefflich darüber streiten, ob diese sprachliche Fehlleistung dem kindlichen Sprachplanungsapparat geschuldet ist, der das Partizip vom Wortstamm »schieß« ableitete, oder ob es sich um einen klassischen freudschen Versprecher handelt, weil das Kind eine bevorstehende Entleerung spürte.

Seinen Vater schildert Jürgen von der Lippe als hart gegen sich selbst und fair gegenüber Kollegen: Er kam morgens oft mit 40 Grad Fieber nach Hause, hat sich ins Bett gelegt und ist abends wieder zum Dienst gegangen. Er hat nie krankgefeiert. Und ich habe es immer genossen, wie ausgesucht höflich er zu Kellnern war, wenn wir mal essen waren.

Der Tagesablauf des Vaters an den sechs Arbeitstagen war sehr regelmäßig – und wich damit auch regelmäßig von dem anderer Familien ab. Er stand nachmittags um vier auf und las zwei Stunden lang Bücher. Um 18 Uhr aß er und ging dann um 19 Uhr zur Arbeit. Von dieser kehrte er oft erst morgens oder vormittags zurück, wenn Hans-Jürgen in der Schule war. Der vermutlich anstrengendste Aspekt des väterlichen Berufs war, dass die Gäste ihm regelmäßig Getränke ausgaben. Den angesäuselt heimkehrenden Vater erlebte der Sohn in der Regel nur sonntags; er hat ihn aber nie als bedrohlich wahrgenommen.

Als ein Arzt später feststellte, dass die Leber bereits stark geschädigt war, reduzierte der Vater seinen Alkoholkonsum übrigens von einem Tag auf den anderen auf null – obwohl er weiter in der Bar arbeitete. Die letzten 15 Jahre musste er also in nüchternem Zustand die zunehmend besoffenen Gäste ertragen, was ihm die Lust auf menschliche Gesellschaft austrieb, obwohl er eigentlich ein geborener Charmebolzen und Frauentyp war. Nachdem er in Rente gegangen war, saß er überwiegend im Sessel und las. Seine sozialen Kontakte liefen nur noch über seine Frau – bis diese 1998 nach einer langjährigen Nierenkrankheit starb.

Später erinnerte Jürgen von der Lippe sich zwar auch an das Alter, wo man seine Eltern nur noch zum Kotzen findet – vor allem aber an die Phase, in der einem klar wird: Du wirst deine Eltern nicht ewig haben.

Erst ganz allmählich dämmerte dem Jungen, dass sein Vater in beruflicher Hinsicht ein Exot war. Was eine Striptease-Bar war, wusste er natürlich lange Zeit nicht. Für ihn arbeitete der Vater in einer Gaststätte. Aber das genügte trotzdem, um ihn deutlich von all den Bankiers-, Arzt- und Unternehmersöhnen auf dem Gymnasium zu unterscheiden.

Allerdings herrschte in Aachen offenbar eine eher liberale Spielart der katholischen Bigotterie. Viele Männer von bürgerlichem Ansehen, darunter so mancher Pfarrer und Lehrer, trafen sich regelmäßig in der Cortis-Bar, wussten also besser als Hans-Jürgen, wo sein Vater arbeitete. Und dies führte keineswegs zum Skandal – man schaute gegenseitig wohlwollend weg.

Ihre Wohnung in der Theaterstraße verschaffte den Dohrenkamps einen Logenplatz für den Rosenmontagszug durch die Innenstadt. Das wollte sich auch der Chef seines Vaters nicht entgehen lassen. Da er aber im Krieg beide Beine verloren hatte, schleppte ihn der Vater auf dem Rücken nach oben, was ihm einen Hexenschuss einbrachte, der sich immer mal wieder meldete. Hans-Jürgens Mutter blieb nach dem Umzug nach Aachen zuhause. Nachdem die Frauen in der Kriegs- und Nachkriegszeit hatten beweisen können und müssen, dass sie auch außerhalb des Haushalts Verantwortung und Führung übernehmen, verbannten die Fünfzigerjahre sie mit der Hausfrauenehe wieder in die eigenen vier Wände. »Meine Frau muss nicht arbeiten – ich verdiene genug«, lautete die absurde, entmündigende Logik, die viele Frauen allerdings bereitwillig akzeptierten. Ob seine Mutter mit der Hausfrauenrolle haderte und eigentlich gerne weiter oder wieder als Köchin gearbeitet hätte, weiß auch Jürgen von der Lippe nicht. Diese Frage stellte man sich damals einfach nicht. Später hat sie »spaßeshalber« einmal in einer Werkskantine gearbeitet, erinnert er sich, was ihr aber wegen der dortigen hygienischen Zustände bald wieder vergangen sei.

Elfriedes Können als ausgebildete Köchin hat jedenfalls auf den Sohn abgefärbt: Als Kind schon stand ich immer neben ihr in der Küche, hab freiwillig geholfen und mir alles abgeguckt. Später war’s dann eher umgekehrt: Da habe ich meiner Mutter was beigebracht. Und gesagt: Nimm doch mal ein bisschen Soja­soße oder Sambal Oelek statt Maggi.

Als Junge aus kleinen Verhältnissen erlebte Hans-Jürgen die typische Aufstiegsgeschichte der 60er-Jahre: Seine Eltern hatten keine höhere Schule besucht und der Sohn sollte es einmal besser haben. Vor allem ein Studium konnte einen finanziellen Kraftakt für sie bedeuten, woraus sich Erwartungen an seine schulischen Leistungen ergaben. Dass Hans-Jürgen meist gute Noten heimbrachte, lag aber ebenso daran, dass er seine Eltern liebte und sie nicht enttäuschen wollte. Außerdem gab’s für Einsen und Zweien 50 Pfennig. Dafür »revanchierte« er sich später, indem er seinen Lebensunterhalt schon sehr früh allein finanzierte, wie weiter unten berichtet wird. Der Hauptgrund für seine guten schulischen Leistungen war allerdings weder die Erwartung der Eltern noch die Prämie, sondern der unbändige Wissensdurst des Knaben.

Seinen Lehrer an der Volksschule Beeckstraße, einen begnadeten Pädagogen, vergötterte er nach eigener Aussage. Der Mann habe seine Schüler und seinen Beruf geliebt. (Selige Zeiten, als eine solche Aussage noch keine hysterischen Reaktionen übersexualisierter Sittenwächter auslöste …) Außerdem war er Förster und nahm ihn mit zum Füttern der Tiere. Und er gab anfangs auch das Fach Religion, wodurch er seinen kindlichen Bewunderer zu einem tiefgläubigen Kind machte. Fast überflüssig zu erwähnen, dass auch er Stammgast bei Hans-Jürgens Vater war. Später gab den Religionsunterricht an der Volksschule übrigens Joseph Ludwig Buchkremer. Der spätere Weih­bischof war 1923 Priester geworden und wurde als Regimegegner 1935 von den Nazis mit einem Unterrichtsverbot belegt. Wegen seiner unbeirrten Aktivitäten verbrachte er die Jahre 1942 bis 1945 im Konzentrationslager Dachau. Von ihm erhielt Hans-Jürgen 1957 die Erstkommunion.

Natürlich hatte Hans-Jürgen auch andere Lehrer – lupenreine Sadisten oder auch Versager, wie die Musiklehrer, die ihm die Freude an klassischer Musik bis ins relativ hohe Alter ausgetrieben haben. Nicht besonders gut war er in Erdkunde und den naturwissenschaftlichen Fächern. Allerdings machte die Frage, ob er einen Lehrer mochte oder nicht, schnell eine oder zwei Noten Unterschied aus. Um einen sympathischen Pädagogen nicht zu enttäuschen, konnte Hans-Jürgen sich jeden Stoff aneignen.

Was ein guter Lehrer bewirken kann, zeigte sich auch im Fach Sport. Beim Eintritt ins Gymnasium konnte Hans-­Jürgen noch nicht schwimmen. Dank des Zuspruchs seines Lehrers lernte er es. Eines Tages stellte der Pädagoge ihm eine Zwei in Aussicht, wenn er den Sprung vom 3-­Meter-Brett wage. Während langer Minuten auf dem Brett wurde ihm bewusst, dass er an Höhenangst litt, doch wegen des Lehrers und der Zwei hat er sich dieses eine Mal überwunden und ist gesprungen. (Man könnte hier bereits die »histrionische Persönlichkeitsstörung« einführen, die Jürgen von der Lippe sich selbst bescheinigt, aber das verschieben wir auf das Kapitel 5.)

Den größten Einfluss seiner Gymnasialschulzeit hat zweifellos sein Deutschlehrer gehabt, Herr Emonds. Hier traf pädagogisches Talent auf Interesse und Begabung des Schülers – und das schlug dauerhaft Funken.

Den üblichen Raufereien auf dem Schulhof konnte Hans-Jürgen sich weitgehend entziehen:Körperliche Auseinandersetzungen waren ausgesprochen selten. Aber das hatte einfach damit zu tun, dass ich mit fünf eingeschult wurde und deshalb der Jüngste, Kleinste, Schwächste war. Das heißt, keiner von den Bullen in der Klasse hätte sich irgendwelche Meriten damit verdienen können, wenn er mich verdroschen hätte – und ich war halt auch immer sehr beliebt. Deswegen gab es keinen Grund, mich zu vermöbeln.

Neben der Schule und dem systematischen Verschlingen von Büchern war »das Ding meiner Kindheit« vor allem »Neues Deutschland«. Damit war aber nicht die DDR-Parteizeitung gemeint, sondern die katholische Pfadfinder­organisation. Die Freizeiten mit Hüttenbau und -übernachtung in der Eifel, die Ausflüge und Übernachtungen auf Burgen, die Geländespiele und die Wölflingsprüfung erfüllten und begeisterten ihn.

Ebenso fesselten ihn Rittergeschichten:Ich war damals vermutlich der größte lebende Prinz-Eisenherz-Fan. Ich hatte eine Ritterburg, und ich weiß noch genau, wie ich mit meinem Vater in dem ersten Prinz-Eisenherz-Film mit Robert Wagner war. Im Fasching ging er allerdings immer als Cowboy. Das Kostüm war billiger – und es bot während der Adoleszenz einen weiteren Vorteil, auf den wir gleich zu sprechen kommen werden.

Dass Hans-Jürgen nach der Volksschule das renommierte Kaiser-Karls-Gymnasium (KKG) besuchte, war eher untypisch für ein Kind aus so einfachen Verhältnissen. Seine Begabung und sein Wissensdurst allein hätten dafür nicht gereicht; die Chance auf eine höhere Schulbildung hatte er dem Einsatz seines Grundschullehrers zu verdanken.

Zeitweilig sein Klassenkamerad am KKG (und viel später dort Lehrer) war übrigens der Kabarettist und Musiker Wendelin Haverkamp. Mit ihm entwickelte Jürgen von der Lippe später unter anderem das Konzept für seinen größten Fernseherfolg »Geld oder Liebe« und schrieb viele Lieder, darunter auch den Hit »Guten Morgen, liebe Sorgen«.

Mit dem Arbeitsplatz des Vaters und der Begeisterung des Sohns für seinen Religionslehrer in der Volksschule waren die Zutaten für eine Jugend in maximaler Spannung beisammen. Jürgen von der Lippe spricht gerne davon, dass er »mit der schützenden Hand der Kirche am Genital pubertiert« habe. Andererseits durfte er seinen 16. Geburtstag 1964 in der Striptease-Bar des Vaters feiern.

Was den Alkohol betrifft, machte Hans-Jürgen die üb­lichen Erfahrungen: Meinen ersten Vollrausch hatte ich so etwa mit 16. Mein Bett stand an der Wand. Und ich habe selbstverständlich zur Wandseite gekotzt. Aber Mutterliebe hält viel aus. Und die erste Fahrt ins Schullandheim ging in ein Weingebiet. Da kostete die Flasche Wein höchstens zwei Mark. Wir im Schlafanzug auf dem Balkon, die Pullen am Hals, da gibt es sogar noch Belastungsfotos! Also die Geschichten, die ich auf der Bühne so erzähle, habe ich mir zumindest teilweise hart erarbeitet. Und Wein trinke ich immer noch gerne.

Länger dauerte das andere: Den Satzbeginn »Mit 18 Jahren wollte ich …« in einem Fragebogen ergänzte Jürgen von der Lippe 2013 mit: »… endlich entjungfert werden.«

Kennzeichnend für die Atmosphäre dieser Jahre war der Skandal, den es gab, als für Hans-Jürgens Jahrgang die Tanzstunde anstand. Traditionell kamen die Tanzpartnerinnen der KKG-Schüler – es war damals noch eine reine Jungenschule – aus der »Partnerklasse« vom ebenfalls streng katholischen Ursulinengymnasium. Einige Jungen hatten aber bereits Freundinnen, und zwar vom evangelischen Viktoriagymnasium. Ihr Ansinnen, den Tanzkurs zusammen mit den »falschgläubigen« evangelischen Mädchen abzuhalten, war ein bis dahin unerhörter Akt der Insubordination und der sittlich-geistlichen Verkommenheit. Aber obwohl der Religionslehrer die Neuerung so vehement bekämpfte, dass die Angelegenheit bis zum Direktor des KKG ging, setzten die Jungs sich am Ende durch.

Wenn man das liest, ahnt man: Noch in den 1960ern hätte vielen Deutschen die Sittenstrenge des Islam, die uns heute so fremd ist, vermutlich mehr eingeleuchtet. Diese Erkenntnis mag uns vor Überheblichkeit schützen und zugleich die Zuversicht vermitteln, dass überholte Regeln sich schon in recht kurzer Zeit ändern können.

Einstweilen bot vor allem der Karneval Möglichkeiten zur Annäherung an das weibliche Geschlecht: Für mich als Adoleszenten bedeutete Karneval die Möglichkeit, eine andere Identität anzunehmen, in meinem Falle die des schwarz gekleideten Revolverhelden Lash La Rue, auch Lassy La Roc genannt. Und dieser harte Bursche, der ich drei Tage lang war, konnte natürlich fremde Frauen knutschen. Es war Aache­ner Roulette, wenn man so will. Ein Rudel Kinder fand sich, bildete einen Kreis, zwei oder drei Pärchen tanzten im Kreis, untergehakt in der Gegenrichtung, und der Kreis sang ein längeres Lied auf Öcher Platt, das folgendermaßen kulminierte: »Des Nachts um elfe, bau ooch um zwölfe, da kommt der letzte rote Ommelebus. Dann kommt der Meister mit seinem Kleister und jibt der Juja einen Kuss auf die Nuss!« Bei »Kuss« küsste man das fremde Mädchen, reihte sich wieder ein, wenn man zweimal dabei gewesen war, und wartete im Kreis darauf, wieder gewählt zu werden, oder man holte sich eine neue Partnerin in den Kreis und tanzte einem weiteren Kuss entgegen. Man kann mit Fug und Recht sagen, dass ich diesen drei tollen Tagen jeweils ein ganzes Jahr lang entgegenfieberte.

Aachen ist auch für seine Kirmes berühmt, den »Öcher Bend« auf dem Bendplatz in der Kühlwetterstraße. Und es gab auch eine kleine Kirmes in der Wirichsbongardstraße, wo heute ein Parkhaus steht. So klein sie war, eine Raupenbahn gab es, mit Verdeck, das Taschengeld reichte für viermal fahren, sprich viermal knutschen. Und man wusste: Am Aschermittwoch ist alles vorbei, denn eine Freundin gestatteten mir meine Eltern nicht, und für eine heimliche Beziehung fehlte mir die Nervenkraft.

Wie er viel später dem Playboy erzählte, wurde er erst mit zwanzig von einer frisch geschiedenen Nachbarin entjungfert, die ihn, den technisch eher unbegabten jungen Mann, mit den Worten »Mein Plattenspieler ist kaputt, kannst du mal gucken?« zuerst in ihre Wohnung ent- und dann in die körperliche Liebe einführte: Wir reden hier von einer Zeit, in der wir absolut unterversorgt mit Informationen zum Thema Sexualität waren. Es wäre eine Katastrophe gewesen, wenn ich das erste Mal mit einem genauso unerfahrenen Mädchen rumgestochert hätte. Dass sie geschieden war, bedeutete, dass wenigstens einer eine Ahnung hatte.

Später hatte er es dann übrigens leichter bei den Frauen:

Als ich von der Bundeswehr kam, habe ich 68 Kilo gewogen. Ich war ein Sonderangebotspaket aus Stahl mit Haut bespannt!

Womit wir bei der Frage wären, was einmal aus dem Jungen werden sollte. Die erste Antwort hieß damals grundsätzlich: Bundeswehr. Es herrschte Wehrpflicht, und auch die Wehrdienstverweigerer mussten den Grundwehrdienst in der Kaserne ableisten – nur eben ohne Ausbildung an der Waffe. Ihnen fühlte Hans-Jürgen sich damals aber (noch) nicht nahe. Man könnte meinen, dass auf ihn sogar das glatte Gegenteil zutraf, denn er beließ es nicht beim normalen, damals achtzehnmonatigen Wehrdienst, sondern verpflichtete sich 1966, nach dem Abitur, für drei Jahre als Zeitsoldat. Dieser Entscheidung lag allerdings keine patriotisch-militaristische Gesinnung zugrunde, sondern eine Fehlinformation. Der Standortälteste in Aachen, selbstverständlich auch er Stammgast des Vaters, hatte ihn gefragt, was er denn mal werden wolle. Auf die Antwort »Journalist« empfahl er ihm, sich für zwei oder besser noch drei Jahre zu verpflichten, weil er sich dann zum Rundfunk­bataillon in Andernach versetzen lassen könne, dessen Offi­zierskorps fast ausschließlich aus gelernten Journalisten bestand. Da könne er eine Ausbildung machen. Erst während seiner Dienstzeit begriff Hans-Jürgen, dass der Mann sich entweder geirrt oder ihn reingelegt hatte – die Versetzungsmöglichkeit nach Andernach gab es nur für Berufssoldaten.

Aber nun war er drin in der Mühle. Und die Aussicht, mit dem mehr als ausreichenden Sold und der Abfindung von 10000 D-Mark nach Ablauf der drei Jahre ein gutes Polster für das Studium beisammenzuhaben, ließ ihn bei der Stange bleiben. Hier äußerte sich bereits eine Eigenschaft, die Jürgen von der Lippes ganzes Leben begleitet: Was er einmal beginnt, zieht er auch durch, und er will es gut machen.