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Liebe in den besten Jahren des Lebens, dunkle Wahrheiten und die Mysterien des Regenwaldes. Das kann noch nicht alles gewesen sein. Gundel möchte ihrem Leben die Träume zurückgeben, also macht sie aus ihrem Ehemann einen Exmann und gründet ein Reiseunternehmen ausschließlich für Senioren. Erstes Ziel: Der Amazonas. Und obwohl Gundels Nerven durch die schrägen Macken der Rentner mächtig herausgefordert werden, blüht sie richtig auf. Doch als ihr Flugzeug tief im Regenwald notlanden muss, beginnt ein ganz anderes Abenteuer als von allen erwartet. Gundel und die Rentner finden Unterschlupf in einer Lodge, deren Bewohner sie zwar freundlich aufnehmen, aber allesamt auch etwas zu verbergen haben. Schnell begreift Gundel, weshalb dieser Ort auf keiner Karte verzeichnet ist. Seltsame Dinge geschehen hier. Nicht nur, dass sie und ihre Senioren sich auf wundersame Weise wieder jünger fühlen, auch lange verborgene Geheimnisse drängen ans Tageslicht. Gundel spürt, dass diese Reise sie verändern wird. Und das liegt nicht an ihrem Tölpel von Exmann, der sie zurückzugewinnen will, sondern eindeutig an dem mysteriösen Fremden, der ein Auge auf sie geworfen hat und vor dem alle sie warnen.Doch Warnungen müssen auch gehört werden wollen. "(K)ein Mann der's wert ist" verzaubert mit einem bildgewaltigen Schreibstil und faszinierenden Einfällen. Neben liebenswerten Figuren finden sich auch immer wieder Szenen und Sätze, die einen nachdenklich lassen. Wer Mainstream mag, ist hier nicht richtig. Wer skurrile Charaktere und abgefahrene Situationskomik mag, auf jeden Fall.
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Buch
Das kann noch nicht alles gewesen sein. Gundel möchte ihrem Leben die Träume zurückgeben, also macht sie aus ihrem Ehemann einen Exmann und gründet ein Reiseunternehmen ausschließlich für Senioren. Erstes Ziel: Der Amazonas. Und obwohl Gundels Nerven durch die schrägen Macken der Rentner mächtig herausgefordert werden, blüht sie richtig auf. Doch als ihr Flugzeug tief im Regenwald notlanden muss, beginnt ein ganz anderes Abenteuer als von allen erwartet. Gundel und die Rentner finden Unterschlupf in einer Lodge, deren Bewohner sie zwar freundlich aufnehmen, aber allesamt auch etwas zu verbergen haben. Schnell begreift Gundel, weshalb dieser Ort auf keiner Karte verzeichnet ist. Seltsame Dinge geschehen hier. Nicht nur, dass sie alle sich auf wundersame Weise wieder jünger fühlen, auch lange verborgene Geheimnisse drängen ans Tageslicht. Gundel spürt, dass diese Reise sie verändern wird. Und das liegt nicht an ihrem Tölpel von Exmann, der sie zurückzugewinnen will, sondern eindeutig an dem mysteriösen Fremden, der ein Auge auf sie geworfen hat und vor dem alle sie warnen.
Doch Warnungen müssen auch gehört werden wollen.
Autor
Wolf-Ingo Härtl schreibt seit vielen Jahren Romane und Drehbücher unterschiedlicher Genres. Unter Pseudonym erscheinen von ihm Romantic Mystery Thriller. Er lebt im hessischen Langen. Mehr unter www.wolfingohaertl.de
Wolf-Ingo Härtl
(K)ein Mann,
der’s wert ist
© 2020 Wolf-Ingo Härtl
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Covergestaltung: Anke Koopmann, designomicon, München
Korrektorat: Claudia Heinen/sks-heinen
ISBN Paperback: 978-3-347-04191-2
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung
Für Cornelia
„In a lonely place“
- du weißt, worauf ich anspiele
Die Lichtung
„Nimm dich vor ihm in acht, Gundel. Er ist gefährlich. Du weißt, dass ich recht habe. Alle wissen es.“
Xaver klang nicht wirklich besorgt. Mehr wie jemand, der einfach nur aus alter Gewohnheit recht behalten wollte.
Ich nahm einen Schluck von meinem Chicha. Inzwischen hatte ich mich an das leicht vergoren schmeckende Getränk aus Maniokbrei beinahe schon gewöhnt, jedenfalls mehr als an die Gegenwart meines Ex-Ehemanns Xaver, den ich eigentlich an meinem Leben gar nicht mehr teilhaben lassen wollte. Und nun hockten wir hier zusammen mitten im Regenwald von Amazonien auf der Veranda eines Hauses mit flachem Dach und leckten jeder seine Wunden der letzten Nacht.
Die Luft des anbrechenden Tages erwärmte sich rasch und war bald schon erfüllt von einem intensiven Duft der Pflanzen und exotischen Blüten. Im morgendlichen Dunst war die Sonne nur als blasse helle Scheibe zwischen den riesigen, moosbedeckten Bäumen zu erkennen. Schon jetzt lag die Kleidung schwer auf der Haut. Die feuchte Wärme machte mir zu schaffen.
Von der Veranda aus hatten wir einen unverstellten Blick auf die überschaubare und sandige Lichtung vor uns. Der dichte Regenwald umschloss das Terrain nach allen vier Himmelsrichtungen. Ein ziemlich dekadenter Platz zum Sitzen und Trinken, dachte ich bei mir, so fernab aller Zivilisation und im Angesicht einer gefährlichen Welt um uns, die sich jederzeit entscheiden konnte, sich für uns zu interessieren.
„Vielleicht erträgst du es aber einfach nur nicht, dass ich mich für jemand Neues interessiere?“
„Hah!“ Xavers altersknarrende Stimme wurde beinahe schrill. „Du glaubst, ich wäre eifersüchtig? Was soll er denn haben, was ich nicht habe?“
Besser, ich schwieg jetzt. Xaver hatte bis vor Kurzem noch geglaubt, er würde so unwiderstehlich aussehen wie Ryan Gosling, bis irgendwann mal jemand fragte, wer denn dieser Gollum neben mir sei. Immerhin, beim Go fand sich eine Übereinstimmung.
„Vielleicht bist du aber auch nur ein Paradebeispiel für eine Frau, deren Verliebtheit sie blind werden lässt?“, empörte er sich und schob in verächtlichem Ton, aber deswegen nicht weniger genüsslich hinterher: „Und das in deinem Alter.“
Seine Worte zielten darauf ab, mich zu kränken, aber es war nun mal so, dass ich mich einfach immer noch zu jung fühlte, um schon alt zu sein, egal, was mein Geburtsdatum mir einzureden versuchte.
„Vergiss nicht, Gundel, ein paar Speckröllchen lassen sich nicht einfach mal eben so wegschminken.“
„Das sagt der Mann, der mit seinem Gesicht eine Frühgeburt einleiten kann und sich trotzdem nicht davon abhalten ließ, mich mit einer anderen zu betrügen.“
Xaver rollte mit den Augen und blies die Backen auf. „Das war doch was anderes, und das weißt du genau, Gundel.“
„Weiß ich nicht, und werde ich nie wissen wollen.“
Jung, blond, dicke Dinger und mit einem Selbstbewusstsein ausgestattet, das sich aus dem großen Missverständnis unserer Zeit speiste, dass es ausreichte, nichts zu wissen und nichts zu können und trotzdem erfolgreich zu sein. Etwas, das meine Generation verstörte. Als ich das Blondchen zur Rede gestellt hatte und fragte, was sie sich erlaubte, mir meinen Mann zu stehlen, blitzte allerdings so etwas wie die Intelligenz der Rücksichtslosen auf und ich begann zu begreifen, dass sich die Welt weitergedreht hatte, denn das Blondchen sagte: „Dein Mann ist genau so, wie ich es mir wünsche. Er ist alt, er hat viel Geld und wenig Rückgrat, um zu widerstehen.“
Noch am selben Tag hatte ich beschlossen, mir nicht mehr die Haare zu färben. Von Schwarz zu Naturgrau markierte zwar das Ende einer aufrecht erhaltenen Jugend, die ich nicht mehr besaß, erinnerte mich aber gleichzeitig auch daran, nichts mehr aufzuschieben. Denn es gab sie, diese Dinge im Leben, bei denen man sich vornahm, sie in zwei oder drei Jahren zu machen, nur um irgendwann festzustellen, dass dieser Zeitpunkt auch schon wieder fünf Jahre überschritten war.
Xaver fuchtelte ungehalten mit beiden Armen. „Ich sage nur, was ich denke. Du bist keine zwanzig mehr. Auch keine dreißig. Nicht mal mehr vierzig.“
„Als ob das für die Liebe wichtig wäre.“
Ich wusste selbst, wie alt ich war. Und was sollte ich sagen? Ich fühlte mich besser als jemals zuvor. Ganz sicher nicht wegen Xavers Tüddelei, aber mit hoher Wahrscheinlichkeit wegen Ron Muller, dem Mann, vor dem Xaver mich so eindringlich warnte und der am Rand der Lichtung stand und mich mit festem Blick und einem geschulterten Gewehr nicht aus den Augen ließ.
Xaver rutschte auf dem brüchigen Korbstuhl unruhig herum. Er vermied es, allzu auffällig in die Richtung zu schauen, in der die anderen standen und bereit zum Aufbruch waren. Sie warteten nur noch auf mich. Dass ich endlich zu ihnen kam, damit wir die Verfolgung aufnehmen konnten. Die Jüngste unserer Reisegruppe brauchte unsere Hilfe. Würden wir es nicht versuchen, würde sie für immer in der grünen Hölle verschwunden bleiben.
Ich blickte über die linke Schulter zum anderen Ende der Veranda. Nelligan Nachtigall, von allen nur Nellie gerufen, stützte sich mit den nackten, sonnengebräunten Unterarmen am Geländer ab.
Vor nicht einmal 72 Stunden hatte ich von der Existenz dieses Hauses, der Lichtung und auch von Nellie nichts gewusst. Woher auch, hatte ich doch erfahren, dass wir uns genau an der Stelle des Regenwaldes befanden, die auf jeder Karte des Amazonasgebiets noch als ein weißer Fleck verzeichnet war. Gab mir zu denken, denn ich war mir immer noch nicht ganz im Klaren darüber, was hier eigentlich wirklich los war.
Ron Muller hatte einen Rucksack umgeschnallt und einen breitkrempigen Hut aufgesetzt. So wie er das Gewehr hielt, war zu erkennen, dass der Umgang damit ihm nicht fremd war. Er sah schon die ganze Zeit über zu mir herüber. In seinem Blick lag mehr Besorgnis als in Xavers Worten. Worauf sollte ich also mehr geben?
Eine Warnung taugte nur so viel, wie sie ernst genommen wurde.
Während Xaver auf mich einredete, gab ich Ron ein Zeichen, dass ich gleich kommen würde und wir aufbrechen konnten.
In was für eine verrückte Sache war ich nur geraten?
„Gundel? Alles klar, Gundel?“ Xaver wedelte mit einer Hand vor meinem Gesicht. „Du wirkst abwesend.“
„Du willst wirklich wissen, ob alles klar ist? Nach allem, was in den vergangenen Tagen passiert ist?“
Xaver hatte vielleicht Nerven, mich das ernsthaft zu fragen. Und dann auch noch in einem Tonfall, als würde er nur wissen wollen, wo der Sportteil der Tageszeitung liege. Wie früher eben.
„Ich bin froh, dass ich noch lebe“, sagte ich.
Ron lächelte in meine Richtung. Es gefiel mir, wie er mich dabei ansah.
Xaver gefiel es offensichtlich nicht. Verständnislos schüttelte er den Kopf.
„Ich sag’s noch einmal, Gundel. Nimm dich vor ihm in acht. Es ist ein gefährliches Spiel, auf das du dich einlässt. Du hast doch gehört, was er getan hat. Das sollte genügen, damit du zu ihm auf Abstand gehst.“
Möglich, dass er recht hatte. Ich dachte an die Augenblicke in den letzten Tagen, die ich mit Ron verbracht hatte. Da gab es diese Dinge, die er sagte und die mich vorsichtig sein lassen sollten. Aber da waren auch diese Momente von Zweisamkeit gewesen, die schön waren und mir ein fast vergessenes Kribbeln zurückgebracht hatten. Aber reichte das, um vor allem anderen die Augen zu verschließen? Das Problem war doch … hatte man die Augen erst einmal geöffnet, gab es nur noch das Hinschauen. Und was es auch war, ob gut oder nicht, dann war es da und würde nicht mehr verschwinden.
Vielleicht sollte ich klüger sein, aber ich war ich alt genug, um auch mal unvernünftig zu sein.
„Mir wird er nichts tun“, sagte ich.
„Das hat die andere wahrscheinlich auch gedacht.“
„Es geht dich nichts mehr an, was ich mache oder lasse.“
„Ich will dich nur warnen, Gundel. Es wird schon seinen Grund haben, warum sich der Kerl hier im Dschungel vor der Welt versteckt hält.“
Das war nicht von der Hand zu weisen. Ich wusste es, aber Verstand und Bauchgefühl waren ja noch nie in dieselbe Richtung gegangen. Und warum sollte sich daran etwas ändern, nur weil man im fortgeschrittenen Alter war? Auch dann konnte man noch von Schmetterlingen im Bauch erwischt werden, sozusagen beim Umsteigen vom SUV zum Rollator. Und von wegen, Liebe über fünfzig spielte sich in ruhigen Fahrwassern ab. Ha, da lachte ich doch drüber. Ich wusste erst jetzt, was genau das Wort „Turbulenzen“ bedeuten konnte, und damit meinte ich, wirklich bedeuten konnte.
Alles begann damit, dass unser Flugzeug mitten über dem Amazonas abstürzte, weil der Pilot glaubte, uns mit Kapriolen erfreuen zu müssen. Das misslang ihm gründlich. Er flog die Maschine tief über einen Schwarm James-Flamingos, die friedlich auf einer Sandbank auf einem Bein dösten. Zu tief. Mit den Tragflächen massakrierte er mehrere Dutzend Flamingos. Die dünnen, rosa Beinchen stehen wahrscheinlich jetzt noch auf der Sandbank. Und auch nur die.
Aber halt, eigentlich begann alles noch früher. Nämlich schon als ich in Belém ankam, um meine Reisegruppe zu treffen und dabei diesem geheimnisvollen Mann begegnete. Ich spürte sofort, wie ein abenteuerlustiges Biest in mir erwachte, das mein bisheriges Leben anscheinend einfach so verschlummert hatte.
Vermutlich trug das schweißtreibende Klima seinen Teil dazu bei, dass ich mich danach kaum noch wunderte, auf wen ich sonst noch in diesem einzigartigen Dschungel begegnete. Damit meinte ich nicht das ganze Getier, sondern die Menschen, von denen einer merkwürdiger war als der andere, die Frauen ganz besonders. Oder hätten Sie gedacht, mitten im Regenwald auf …
Aber ich greife immer noch zu weit vor.
Ich heiße Gundel Vestergard, bin sechsundfünfzig, hab viel Gutes erlebt und manchen Mist gebaut. An Letzteres erinnerte ich mich besser, was immer mir das Schicksal damit auch sagen wollte.
Ach, und glauben Sie mir, auf das größte Abenteuer im Leben treffen Sie, wenn Sie glauben, schon alles erlebt zu haben.
Haben Sie eben nicht.
Erster Teil
Amazonen im
Dschungel
1
Mit der Landung auf dem internationalen Flughafen von Belém in Brasilien nahe dem Atlantischen Ozean begann endgültig ein neuer Abschnitt in meinem Leben. Ein Jahr hatte ich darauf hingearbeitet und Widrigkeiten getrotzt, die mich früher vielleicht hätten aufgeben lassen. Aber es war Zeit geworden, bisher Aufgeschobenes für unaufschiebbar zu erklären, wollte ich es noch in diesem Leben. Dazu gehörte auch mehr von der Welt sehen als die heimische Eisdiele, den Stadtpark und ab und zu mal das nahe Ausland, das ich mit seinen All-inclusive-Poolbar-Angeboten kaum voneinander unterscheiden konnte, da Xaver nur selten die Bequemlichkeit der Ferienanlagen verließ.
Xaver hatte es nicht so mit Reisen, mehr mit Vertröstungen auf irgendwelche Zeiten danach. Nach was? Vermutlich nach dem Berufsleben. Ich entschied mich vor zwei Jahren, es als „nach unserer Ehe“ auszulegen.
Ich hatte immer schon Freude am Träumen gehabt. Als Kind genügte es mir, im Gras zu liegen und dem Wettlauf der Wolken zuzusehen. Ich fühlte mich schwebend wie die Pollen einer Pusteblume. Federleicht trieb ich im Wind und an meiner Seite all die schönen Dinge, die meine Fantasie herbeizauberte. Nicht selten pflegte meine Mutter zu sagen: „Gundel, pass auf, dass du nicht irgendwann in deinen Träumen verschwindest und nie mehr zurückkommst.“ Ganz so war es nun nicht gekommen. Wenn’s drauf ankam, konnte ich zum Ausgleich immer auch klar denken. Aber diesen genussreichen Zustand, dem Leben mit abenteuerlicher Neugier zu begegnen, hatte ich mir zum Glück bis heute bewahren können. Mein Leben brauchte das. Ich hatte es die vergangenen Jahre fast schon vergessen.
Immer häufiger litt ich unter einer Bitterkeit, die meine Knochen bleischwer machte. Xavers Eskapaden mit dem Blondchen trugen ihren Teil dazu bei, aber das war es nicht allein. Es war ein schleichender Prozess gewesen, der sich über viele Jahre aufgebaut hatte. Ich stand vor dem Spiegel und suchte nach dem Menschen, der ich einmal gewesen war. Was ich sah, war eine Frau mit rauchgrauen Augen und glatten, schulterlangen Haaren und einem Gesicht, das zwar mithilfe moderner Kosmetikversprechen ein wenig verjüngt daherkam, aber dennoch irgendwo zwischen trist und schwunglos lag. Eine Frau, der das Feuer in den Augen verloschen war.
Auf den ersten Blick fiel ich den Menschen in meiner Umgebung schon lange nicht mehr auf, aber wenigstens sagte man mir nach, dass sich die Wahrnehmung über meine Anwesenheit änderte, sobald man sich mit mir unterhielt. In einem Alter, in dem Frauen für das andere Geschlecht für gewöhnlich unsichtbar geworden waren, musste das wohl reichen. Tat es aber nicht.
Mir fehlte einfach der Honig auf meiner Seele.
Die zündende Idee war mir gekommen, als mir eine Bekannte sagte, sie würde ja gerne mal nach Südamerika, aber die Reise sei viel zu beschwerlich für sie in ihrem Alter und ihr Mann vertrüge noch weniger als sie, der schlappe Lappen, also blieben sie besser daheim. Auf meine Frage, warum nicht mit einer Reisegruppe, hieß es, dass in solchen Gruppen ja doch nie Rücksicht auf Ältere genommen werde. Alle wollten schnell vorankommen und möglichst viele Selfies schießen, als bräuchten sie diese als Beweis für das Erlebte, von dem sie nichts mitbekamen. Nein, das ganze Drumherum solcher Reisen sei zu hektisch geworden. So sei es halt im Leben, wenn man älter werde.
Ich verstand, was sie meinte, und dennoch missfiel mir die Vorstellung, die damit verbunden schien. Vom Rand aus sollte niemand zuschauen müssen. Immerhin fühlten sich viele Ältere von heute gar nicht so wirklich alt, sondern noch mitten im Leben. 60 ist das neue 40, um es mal abgedroschen zu sagen.
Und plötzlich kam mir der Gedanke, genau für diese Zielgruppe etwas zu organisieren. Reisen für unaufgeregte Ältere. Für alle, die entschleunigt die Welt sehen wollten. Da müsste man doch was aufziehen können, dachte ich. Exklusiv-Reisen mit einer überschaubaren Teilnehmerzahl. In Gegenden, in die ich selbst immer schon mal wollte. Aus diesem Gedanken erwuchs meine Geschäftsidee.
Und im Spiegel sah ich das Feuer in meine Augen zurückkehren.
Ich entschied, lange genug im vorzeitigen Ruhestand verweilt zu haben (nachdem ich damals meine Tätigkeit als Grundschullehrerin freiwillig aufgegeben hatte), nahm all meinen Mut und mein durch erteilte Nachhilfe erspartes Geld zusammen und begann mit der Planung.
Erster Schritt: Abwurf von Hemmnissen.
Ich leitete die Scheidung von Xaver ein.
Es gab einiges zu bedenken im Vorfeld. Ältere Menschen verliefen sich ja gerne mal. Eine Zeitlang überlegte ich, ob da elektronische Fußfesseln die Lösung wären, gerade in entlegenen Gegenden, wo es kaum Wegweiser gab, doch davon riet man mir unter Hinweis auf die noch geltenden Grundrechte ab. Das Innenministerium wollte mir auch keine verkaufen, das kam noch dazu, und im Darknet kannte ich mich nicht aus. Aber sich vor Beginn der Reise eine ärztliche Unbedenklichkeitsbescheinigung vorlegen zu lassen, war in Ordnung und im Sinne aller auch unabdingbar.
Nachdem alles geklärt war, um mein kleines, frisch gegründetes Unternehmen von der Leine zu lassen, ging alles sehr schnell. Mein Slogan auf der Internetseite: Gundel Adventures – Abenteuer bis zum letzten Atemzug. Allein dafür erntete ich Beifall. Die letzte große Reise sollte schließlich nicht die letzte große Reise sein.
Als erstes Ziel wählte ich Amazonien aus.
Kaum im Internet eingestellt, waren die angebotenen sechs Plätze auch schon weg. Ich freute mich riesig und machte gleich das Hotel in Belém klar, in dem ich auf die Teilnehmer treffen würde, die in Eigenregie anreisen mussten. Vor Ort würde ich das Kommando übernehmen und meine Reisegruppe auf einen schönen Trip den Amazonas entlang begleiten, wo wir schließlich mehrere Tage in einer Dschungel-Lodge logieren und betreut werden würden.
Das war der Plan.
Bis zur Ankunft in Belém verlief auch alles reibungslos.
2
Die Fahrt mit dem Taxi zu meinem Hotel verschaffte mir einen ersten Eindruck über die alte Stadt, die 1616 gegründet worden war und damals noch Feliz Lusitânia hieß. Obwohl ich mich vorab informiert hatte, staunte ich über die widersprüchliche Architektur. Betonklötze und Hochhäuser, die wie europäische Bausünden der 1970er aussahen, schlossen sich an die weitläufigen Häfen an, während tiefer in die Stadt hinein wunderschöne, verschnörkelte Paläste und Kathedralen längst vergangener Jahrhunderte und Parkanlagen zu finden waren.
Der Taxifahrer war einer von der stolzen Sorte. Ich wurde den Verdacht nicht los, dass er einfach kreuz und quer fuhr, um mir die Schönheiten seiner Stadt zu zeigen. Der Taxameter war kaputt. Mithilfe irgendeiner App zeigte sein Smartphone rasch steigende Reais, die ich zu zahlen hatte. Ich fragte nicht nach.
„Hier, Ver-o-Peso“, rief er plötzlich.
„Ver-o-was?“
„Ver-o-Peso. Unser Markt, weltberühmt. Heißt so viel wie ‚achte auf das Gewicht‘.“
„Ach?“
„Hier gibt es Fisch und Früchte, Kräuter und … wie heißt es noch? Töpfe und so.“
„Kunsthandwerk.“
„Ja, Kunsthandwerk. Und viele Salben und Tees, viele gut für die Liebe.“ Er schnalzte verzückt mit der Zunge und nahm die Hände vom Steuer, aber den Fuß nicht vom Pedal.
„Ach“, sagte ich. „Wieso sprechen Sie so gut Deutsch?“
„Ich spreche gut? Fantástico!“ Diesmal wenigstens eine Hand am Steuer. „Hat historischen Grund. Schon immer waren Deutsche hier. Kennen Sie Alexander von Humboldt?“
„Nicht persönlich“, sagte ich. Für wie alt hielt mich der Kerl?
„Großer Mann.“ Die Begeisterung nahm wieder zu. Beide Hände weg. „Hat viel für den Amazonas geleistet.“
„Aber der war schon tot, als Sie geboren wurden.“
„Andere Deutsche kamen. Nicht so wie Sie. Nicht bloß Touristen. Bauten Missionen im Dschungel. Tolle Sache.“
„Waren Sie mal in einer?“, fragte ich.
„Ich?“, kreischte er. „Nein, leider. Ist schlimm, ich weiß. Aber kaum Zeit, viele Kinder.“
Er schlug beide Hände vor den Kopf. In seiner Schande drückte er gleichzeitig das Gaspedal durch. Wir rasten auf einen Kunsthandwerkerstand mit viel Keramik zu. Frauen in schwarzen Wickelröcken mit bunten Streifen sprangen kreischend von ihren Hockern und hechteten zur Seite. Ich kreischte mit ihnen. Rechtzeitig riss der Fahrer das Steuer herum. Wir fegten haarscharf an dem Stand vorbei. Ich badete in Schweiß, diesmal vor Angst und nicht vom Klima her. Mein Fahrer lachte.
„Nicht schlimm. Ist Cousin. Kennt mich.“
„Wie schön.“ Meine Stimmbänder waren heiser vor Anspannung.
„Gegend um Rio Jary“, erzählte mein Fahrer weiter, während er in traumwandlerischer Sicherheit zwischen Dutzenden von Marktständen durchfuhr. „Immer schon viele Deutsche. Kleine Kolonie entstanden.“
„Ja?“
„Schon lange her. Aber Teile von Sprache geblieben. Kenne noch was auf Deutsch. Soll ich?“
Ich erwartete die berühmte Currywurst mit Mayo oder das Schnitzel mit Kraut. „Nur zu“, ermunterte ich.
„Geile Scheiße“, rief er begeistert. Und gleich darauf: „Hier“, er zeigte auf einen ausladenden hellen Prachtbau. Ich erkannte das Teatro da Paz.
„Wirklich schön“, gab ich unumwunden zu.
„Stammt noch aus den guten Zeiten.“
Ich ahnte, worauf er anspielte. Die ganze Region hatte Ende des 19. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebt, als der Kautschukboom neben Reichtum auch Fortschritt brachte.
„Lange her“, seufzte mein Fahrer.
Verstohlen wischte er sich eine Träne aus dem Augenwinkel. In stiller Trauer lenkte er den Wagen durch die Gassen der Altstadt. Irgendwann zeigte er schweigend auf die Catedral da Sé, deren heller Stein das Sonnenlicht so stark reflektierte, dass ich die Hand vor die Augen legen musste, um nicht geblendet zu werden.
Der Fahrer beendete seine stolze, aber eigenmächtige kleine Stadtrundfahrt und brachte mich zu meinem Hotel. Von meinem gezeigten Interesse an Belém war er so begeistert, dass er erst kein Geld nehmen wollte, als ich aber darauf bestand, knöpfte er mir das Doppelte des eigentlichen Fahrpreises ab, wie ich später erfuhr.
Bevor er wegfuhr, beugte er sich über den Sitz zu mir nach hinten. „Sagen Sie mir bitte, was heißt eigentlich ‚geile Scheiße‘?“
3
Das Hotel Pensao da Amazonia hätte auch in Lissabon stehen können. Die Fassade war von oben bis unten mit kleinen blau-weiß-gelben Kacheln behaftet und das Hotelschild wirkte sowohl in Farbgebung als auch Schriftzug wie handgemalt. Die vielen Kinder wollen ja beschäftigt sein. Durch eine hohe Tür mit schmiedeeisernen Verzierungen trat ich ein. War der vordere Bereich noch durch die Fenster zur Straße durch einfallende Sonnenstrahlen erhellt, verlor sich das Licht zunehmend in den Winkeln des hinteren Teils. Der Deckenventilator verteilte warme Luft im Raum. Gegen das Sonnenlicht sah ich Staub lustig um den jungen Mann an der Rezeption tanzen. Der Eingangsbereich verströmte mit seinen sonnengelb getünchten Wänden eine fast schon kolonial geprägte Gemütlichkeit. In allen Ecken standen Tontöpfe mit Pflanzen in den unterschiedlichsten Größen. Von der Decke hingen Körbe mit rankenden Blütengewächsen und kleine Käfige mit nervös springenden bunten Vögeln. Dieser staunend machende erste Blick täuschte aber nicht darüber hinweg, dass es dennoch ein einfaches Hotel war, über dessen Boden auch mal hätte gefegt werden können. Aber Kinder malen nun mal lieber.
Den Trolley hinter mir herziehend, ging ich zur Rezeption. Der junge Mann hinter dem Tresen lächelte mir freundlich entgegen. Er hatte einen indigenen Einschlag und schien nicht so zu schwitzen wie ich. In holprigem Deutsch bat er mich um meinen Ausweis. Ich füllte den Anmeldeschein aus und wollte gerade fragen, ob schon andere aus meiner Reisegruppe im Hotel angekommen seien, da passierte es.
„Hallo, Gundel“, rief es hinter mir.
Vor Schreck drückte ich auf dem Anmeldeformular zu fest auf. Das Papier zerriss unter dem Kugelschreiber und es schien wohl auch eine kleine, punktförmige Delle im Holztresen zurückzubleiben.
Diese Stimme.
Ich wagte nicht, mich umzudrehen. Seine Stimme würde ich noch in hundert Jahren wiedererkennen. Seit einiger Zeit verkürzte ich seinen Namen nur noch auf den Anfangsbuchstaben X, denn das klang beinahe so, was er schließlich auch war: mein Ex.
Ich hatte Xaver beim Eintreten nicht gesehen und glaubte erst, die schweißtreibende Luft, die nicht nur schwer atmen ließ, sondern bisweilen auch vor den Augen flirrte, spielte mir einen Streich. Langsam drehte ich mich um. Links des Eingangs zwischen großen Vogelkäfigen mit eingesperrten Aras und einer Sitzgruppe aus Rattanmöbeln stand Xaver. Treudoofer Blick wie ein Dackel, der dringend nach einer Laterne verlangte. Er trug ein zu enges T-Shirt, das figurbetont das betonte, was keine Figur mehr war, und eine weite Bundfaltenhose ohne Gürtel. Auf der hohen Stirn klebte eine Sonnenbrille, die lässig das schüttere Resthaar zusammenhielt.
„Hallo, ich bin’s“, rief er wieder. Er hob die Hand.
Einer überfallartigen Kraftlosigkeit folgend, setzte ich mich auf den Trolley. Was machte er hier, der nicht hier sein sollte?
Der freundliche junge Mann vom Empfang, auf dessen Namensschild Luiz stand, beugte sich über den Tresen und streckte mir den Zimmerschlüssel entgegen. Wie unter Betäubung nahm ich ihn an mich. Als Xaver näher kam, war ich instinktiv darauf bedacht, dass er nicht die aufgemalte Zimmernummer lesen konnte.
„Ah, schön“, rief er erfreut, „meins ist gleich gegenüber.“
Mist, zu spät. Er kam noch näher, so nah wie in unseren letzten gemeinsamen Jahren nicht mehr. Mittlerweile war er mir körperlich unangenehm geworden, also wich ich immer weiter zurück, bis ich das rissige Holz des Tresens in meinem Rücken spürte.
„Ich wusste, dass du sprachlos sein würdest, mich hier zu sehen“, sagte er.
Sprachlos traf es ziemlich genau. Entsetzt sogar noch besser.
Er beugte sich vor und versuchte, mir einen Kuss zu geben, von dem er glaubte, aus einer längst vergangenen Vertrautheit ein Anrecht darauf zu haben. Mit einem raschen Abwenden entzog ich mich.
„Du erkennst mich also noch“, raunte er. „Sehr erfreulich, nach all den Monaten, in denen du den Kontakt zu mir abgebrochen hast.“
„Könnte einen Grund haben.“ Der erste Schreck war vorüber. Ich fand meine Stimme wieder. „Was machst du hier?“
„Ich wollte dich treffen.“
„Wie bitte?“
„Ich muss mit dir reden.“
„Ich glaub das jetzt einfach nicht.“ Ich massierte mir mit zwei Fingern die Nasenwurzel. „Ich brauche sicher nur die Augen kurz schließen, und wenn ich sie wieder öffne, bist du verschwunden. So mache ich’s.“
Gesagt, getan.
„Du bist ja noch da.“
„In voller Lebensgröße.“
„Und Breite.“
„Ohne deinen Sarkasmus wäre ich ein ärmerer Mensch“, sagte er. „In den nächsten Tagen werde ich mich sicher wieder daran gewöhnen.“
„Was willst du damit sagen?“ Ich hatte schon länger keine Herzbeklemmungen mehr gehabt, aber ich spürte, dass ich kurz davor stand.
„Ich begleite dich auf deiner Tour.“
„Kommt nicht infrage.“
„Du musst mich mitnehmen, Gundel. Wir haben einiges zu besprechen.“
„Mit der Unterschrift unter die Scheidungspapiere ist alles gesagt.“
„Aber es ist wichtig.“
Das war eindeutig zu viel. Falscher Zeitpunkt, falscher Ort. Für die Zukunft meines kleinen Unternehmens hing viel davon ab, ob ich meine fünf Sinne beisammen hielt. Ablenkung in Form von nicht aufgearbeiteten Problemen störte da gewaltig. Ich hüpfte vom Trolley, packte energisch den Griff und wollte an Xaver vorbei, doch er dachte gar nicht daran, aus dem Weg zu gehen.
„Ich komme mit, ob es dir passt oder nicht“, sagte er. „Und wenn ich mich dir auf den Rücken binden lasse.“
„Ich wollte dich ja noch nicht mal mehr auf meinem Bauch haben. Also, vergiss es, mein Freund.“
„Immerhin.“
„Was?“
„Freund.“
„Das hätte ich auch zu einem Ozelot gesagt.“
„Komm schon, Gundel. Sei kein Frosch.“
Ab hier fehlen mir die nächsten zehn Sekunden. Als ich wieder klar denken konnte, lagen meine Hände um seinen Hals. Wäre nicht Luiz eiligst über die Rezeption gesprungen, hätte ich wohl nicht eher losgelassen, bis Xavers Zunge wie ein ausgerollter Teppich vor mir auf dem Boden läge, was ich als eine nachträgliche Entschädigung für sämtliche vergessene Hochzeitstage gewertet hätte.
„Bitte, meine Dame, wir wollen kein Aufsehen“, flehte Luiz.
Widerwillig ließ ich los, obwohl ich ein großer Fan davon war, Angefangenes auch zu Ende zu bringen.
Xaver grinste mich mit einem unverschämten Siegerlächeln an. „Du kannst einfach nicht die Finger von mir lassen.“
„Lass mich in Ruhe.“
Nach und nach erreichte meine Stimme eine unangenehme Lautstärke. Was sollte ich machen? Meine Nerven waren ja genauso alt wie der Rest von mir und in unserer Ehe vermutlich wesentlich mehr strapaziert und abgenutzt worden als andere Körperteile. Nutzungswillige eingeschlossen.
Einige der anderen Hotelgäste im Foyer drehten sich um.
„Wenn Sie Ihr Wiedersehen bitte auf Ihren Zimmern feiern möchten?“, bat Luiz.
Kopfschüttelnd schob ich mich an Xaver vorbei, doch er schenkte meiner vorherigen Bemerkung keinerlei Beachtung und folgte mir.
„Wollen wir beide vielleicht mal einen Kaffee trinken gehen? In Manaus, oder so?“
Ruckartig wandte ich mich um. „Ich habe hier eine Aufgabe, verstehst du das?“
„Vielleicht brauchst du meine Hilfe.“
Es war beinahe wie früher, als wir unser Aneinander-Vorbeileben längst auf die Stufe der drei Fragezeichen gehoben hatten. Hörst du mir nicht zu? Sprechen wir dieselbe Sprache? Und wer bist du eigentlich?
4
Nachdem ich mich in dem kleinen übersichtlichen Zimmer eingerichtet hatte, war es Zeit, die Teilnehmer meiner Reisegruppe zu begrüßen. Die Tourenplanung sah vor, dass sich alle Teilnehmer zu Beginn des Amazonas-Trips zu einem gemeinsamen Mittagessen im Hotel trafen. Bei einem lockeren Kennenlernen konnten schon mal schmackhafte regionale Köstlichkeiten probiert werden, während ich den weiteren Verlauf unserer Reise vorstellen würde. Ich freute mich sehr und war nicht wenig stolz auf mich, das alles organisiert zu haben. In dieser erfrischenden Stimmung nahm ich meine Kladde mit den Unterlagen und machte mich auf den Weg zum Speiseraum, der um diese Uhrzeit ausschließlich für meine Gruppe reserviert war.
Mehrere Tische waren zusammengeschoben worden und üppig mit Blumengestecken und frischen Früchten in Schalen geschmückt. Ein angenehmer Duft erfüllte den Raum und nahm ihm die drückende Wärme.
Ich setzte mich ans Kopfende und überlegte, mit welchen Worten ich die Teilnehmer begrüßen sollte. In den vergangenen Tagen hatte ich mir eine Menge Varianten zurechtgelegt, aber wenn ich sie zum Üben laut aussprach, erschien mir keine wirklich gelungen. Ich musste mich wie so oft in meinem Leben aufs Improvisieren verlassen.
Ein Junge von höchstens zwölf Jahren kam mit einer Wasserkaraffe in der Hand und fragte mit einem eingelernten Satz, ob er einschenken dürfe. Ich nickte ihm lächelnd zu, und er begann, seine Aufgabe mit Eifer und glühendem Gesicht zu erledigen. Er ging von Platz zu Platz und verschüttete nur wenig. Noch bevor ich mich bei ihm bedanken konnte, eilte er aus dem Raum. Dabei stieß er fast gegen einen großen Mann mit kurz geschorenem Haar, durch das die Kopfhaut rosa durchschimmerte, zusammen.
„Frau Gundel Vestergard?“, fragte er.
„Ja, das bin ich. Sie gehören zur Gruppe?“
„Treffer.“ Er formte mit seiner rechten Hand eine imaginäre Pistole, zielte auf mich und machte mit dem Daumen eine Abzugsbewegung. „Ich bin Major a. D. Hartmut Schlicke. Gibt es zugewiesene Plätze?“
„Setzen Sie sich, wohin Sie mögen.“ Und lassen Sie die Waffe im Holster, wollte ich noch hinzufügen, unterließ es aber. „Ich denke, die anderen werden auch gleich kommen.“
Schlicke warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Ich bin pünktlich, nur für’s Protokoll.“
„Ich werde es notieren.“
Innerhalb weniger Minuten erschienen auch die anderen Teilnehmer. Sie stellten ihre Rucksäcke, Trolleys und Reisetaschen hinter einen Stuhl am Tisch und nahmen Platz. Munteres Geplauder erfüllte den Speiseraum, während ein diesmal erwachsener Bediensteter Getränke und Vorspeisenplatten brachte. Kaum waren die Wassergläser gefüllt, holte jeder am Tisch sein kleines Pillendöschen hervor und begann, die einzunehmenden Tabletten und Kügelchen abzuzählen. Ich wartete, bis jeder seine Ration eingenommen hatte, dann erhob ich mich von meinem Stuhl, tippte mit dem Messer gegen das Glas und bat um Aufmerksamkeit. Alle blickten erwartungsvoll zu mir.
„Mein Name ist Gundel Vestergard, aber das wissen Sie ja bereits. Ich freue mich sehr, mit Ihnen gemeinsam diese aufregende und exotische Reise zu unternehmen. Als Ihre Reiseleiterin kann ich Ihnen versichern, dass alles dafür getan ist, damit wir einen rundherum schönen Aufenthalt haben werden. Ich schildere kurz, wie es morgen früh losgehen wird. Wir werden mit dem Hotelbus zum Flugplatz gebracht und steigen dort in ein kleines Touristenflugzeug, das ich eigens für uns gechartert habe. Wir werden von Belém aus nach Santarém fliegen. Dabei werden wir eine Strecke über dem grünen Dach zurücklegen, bevor wir mit dem Flugzeug hinuntergehen und direkt über dem Wasser dem Flusslauf folgen, was bedeutet, dass wir unter uns einen herrlichen unverstellten Blick auf den Amazonas haben werden. Wir werden an Manaus vorbei auf den Rio Negro abzweigen, wo wir nach etwa einer Stunde zu unserem Ziel gelangen, der Lodge. In dieser wunderschön gelegenen Behausung mitten im Dschungel werden wir sechs Tage die Schönheiten des Amazonas erleben dürfen. Ich denke, wir werden eine unvergessliche Zeit miteinander verbringen, und ich freue mich darauf.“
„Darauf trinken wir!“, rief der Major a. D. Hartmut Schlicke. „Auf den Amazonas.“
Alle hoben die Gläser. Während wir tranken und aßen, erzählte jeder ein wenig von sich, sodass wir bald ein bisschen mehr als nur die Namen voneinander wussten.
Schlicke war seiner Meinung nach viel zu früh aus dem Militärdienst entlassen worden. Mehr als dreißig Jahre soldatisches Leben hatten ihn nicht nur geprägt, sondern regelrecht absorbiert. Er gab zu, nicht zu wissen, was er sich unter einem Zivilleben vorstellen sollte. Eine Modelleisenbahn, die er jeden Tag zum Entgleisen bringen konnte, war jedenfalls keine Option für ihn gewesen.
„Ich steh noch voll im Saft“, rief er lautstark, und die kleine verhuschte Frau am Tisch kicherte verlegen.
Er strich sich über das raspelkurze Haar. „Das Leben muss den wilden animalischen Duft des Abenteuers verströmen. Bei mir muss alles nach Sex ohne Bremsklotz riechen, verlasst euch drauf. Der Dschungel, der Fluss, meine Unterwäsche, einfach alles.“
Die Verhuschte bekam spontan Schluckauf.
Ihr Name war Sybille Kirchhoff. Sie sah aus wie eine geduschte Maus. Ihr scheues Gesicht wurde von haltlos herabfallenden Haaren umrahmt und ihre Schultern waren unter ständiger Anspannung. Sie gab unumwunden zu, dass sie die Reise nur auf Anraten ihrer Therapeutin mitmachte, damit sie endlich von ihren vielen Ängsten befreit und selbstbewusster würde. Ein Abenteuer im Dschungel schien dazu geeigneter als eine Jahreskarte in der gemischten Sauna.
Unauffällig zog ich aus meiner Kladde die Unterlagen zu Sybille Kirchhoff hervor und spähte mit einem Auge auf das Gesundheitszeugnis. Aha, 64 Jahre, und was ich las, ließ mich annehmen, dass Sybille eine Frau war, die schon in der Badewanne seekrank wurde. Ansonsten aber funktionierten alle Organe.
„Und Ihre Therapeutin hält eine Amazonasreise für die richtige Maßnahme?“, fragte ich vorsichtig.
Sybille zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, sie wollte einfach nur eine Weile Ruhe vor mir haben.“
Schlicke prostete ihr zu. „Mach dir nichts draus“, rief er. „Die zwei Wochen hier machen einen echten Kerl aus dir.“
Sybilles Augen füllten sich mit Tränen, die sie tapfer hinunterschluckte.
Das genaue Gegenteil von Sybille schien die flippig gekleidete Frau zu sein, deren orange gefärbter Haarschopf so aussah, als würde eine Vogelfamilie darin nisten. Sie stellte sich uns als „Rainbow Rettung“ mit Namen vor. Eine Art Künstlername, den sie sich im Laufe ihrer Zeit als unbarmherzige Aktivistin zugelegt hatte. Vor ihr war niemand sicher, auch nicht die Welt, die sie retten wollte. Ihre stechenden Augen schauten unentwegt wütend besorgt, schienen aber jederzeit auf Protest umschalten zu können. Auffallend auch ihre rastlosen Mundwinkel, die in rascher Abfolge zuckten. Ein Glück, dass diese Frau nicht in der Lage war, mit dem Mund Kugeln abzufeuern. Außer ein paar vom Aussterben bedrohte Affen hätte es wohl keine Überlebenden um sie herum gegeben.
„Ich bin hier, weil ich den Regenwald retten will“, sagte sie.
„Den ganzen Wald?“, fragte ich.
„Den ganzen, klar. Mit halben Sachen geb ich mich nicht zufrieden.“
„Darauf trinken wir!“, rief Schlicke, und er und Rainbow tranken sogleich Brüderschaft mit ineinander verhakten Armen und Wangenküssen und allem. Schlickes Hand landete sorglos auf ihrer Hüfte. Sie packte ihn darauf am Kragen.
„Mach das noch einmal, und ich breche dir den Arm.“
Rainbow hatte ihr Alter mit 93 angegeben, wie ich meinen Unterlagen entnahm. Ich sprach sie darauf an.
„Ach, ein dummer Zahlendreher, ich bin 39“, sagte sie, aber irgendetwas an der Art, wie sie mich dabei ansah, irritierte mich. Manchmal, wenn mein Blick sie streifte, bemerkte ich, dass sie den Kopf ruckartig zur Seite drehte und so tat, als hätte sie mich nicht beobachtet. Für eine Sekunde lang fragte ich mich, ob wir uns von irgendwoher kannten.
Es gab auch ein Pärchen in unserer Reisegruppe. Während sie groß, etwas füllig und mit einem ausgefallenen Kleidergeschmack versehen war, fiel er mit seinen schmalen Schultern in dem schlecht sitzenden Jackett deutlich neben ihr ab. Sie hieß Victoria von Hunsrück, war 71 Jahre alt und wie sich herausstellte eine alternde Filmdiva, deren letzter großer Erfolg noch aus dem vorherigen Jahrtausend datierte. Ihre maisgold gefärbten Haare hatte sie streng nach hinten gezogen und zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das knöchellange Kleid lag eine Spur zu eng um ihren Körper und offenbarte deutlichere Spuren fortgeschrittenen Alters, als es das mehrfach gestraffte Gesicht weismachen wollte, das zu allem Überfluss auch noch so irritierend geschminkt war, dass man vermuten könnte, in einem Bestattungsunternehmen hätten alle Lehrlinge gleichzeitig üben dürfen.
Victoria von Hunsrück bequemte sich, mich von oben bis unten zu taxieren. „Sie leiten also unsere Expedition?“
Ihre Stimme haute mich fast vom Stuhl. Klar, dunkel und jedem Wort eine gewichtige Bedeutung mitgebend. Ich war beeindruckt.
„So ist es“, sagte ich. „Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.“
„Das tun sie alle. Immer.“ Sie legte eine Hand an die Stirn. „Im-mer. Mein Gott, ist das anstrengend.“
„Glas Wasser?“ Ihr schmächtiger Begleiter schien besorgt.
„Ich bitte dich, mon ami. Kein Wasser mehr, wenn ich schon Alkohol getrunken habe. Wie oft muss ich es noch sagen? Man soll nicht mischen.“
„Und Sie sind …?“, fragte ich.
Er öffnete den Mund, um zu antworten, doch die Diva preschte dazwischen. „Er ist mein Handgepäck, hahaha.“
„Elmar Siebenkorn. Ich bin Frau von Hunsrücks Manager.“
„Ja, das ist er wohl.“ Victoria seufzte. „Diese Reise ist seine letzte Chance, es auch zu bleiben. Nach all den schlechten Filmen, die ich in den vergangenen Jahren drehte, hat er endlich einen ordentlichen Vertrag für mich abschließen können. Ein anspruchsvoller Stoff, ganz in der Tradition der Werner-Herzog-Filme ‚Aguirre‘ und ‚Fitzcarraldo‘. Die spielen ja auch am Amazonas. Elmar schlug vor, ich solle vor Drehbeginn hier sein, um mich schon mal an das Klima zu gewöhnen, damit es nicht zu Schwierigkeiten beim Dreh kommt.“
„Guter Vorschlag“, sagte ich.
„Danke schön“, sagte Elmar und rückte seine John-Lennon-Gedächtnisbrille zurecht. Sein Gesundheitspapier wies ihn als 70-Jährigen mit Neigung zum Nierenstein aus. Ich hoffte inständig, er würde während unserer gemeinsamen Zeit ausreichend Wasser und Bier trinken, um keine Koliken zu kriegen. Mitten im Dschungel wüsste ich nicht, wie ich ihm hätte helfen können.
„Ich kenne Sie.“ Schlicke kniff die Augen zusammen. Sein krummer Zeigefinger war auf Victoria gerichtet. „Sie haben doch in ‚Milchbauer im Liebesglück‘ mitgespielt, oder?“
„Das Honorar war in Ordnung“, sagte Elmar Siebenkorn rasch.
Victoria verdrehte die Augen. „Das war auch das Einzige. Die anderen Schauspieler hätte man auch durch Handpuppen ersetzen können. Das hätte den Film zumindest darstellerisch aufgewertet.“
„Mir hat der Film gefallen“, sagte Sybille. „Er war so schön seicht, und Sie waren wirklich gut in Ihrer Rolle als verwöhnte Firmenchefin, die eine Autopanne auf dem Land hat und dort auf ihre große Liebe aus Schulzeiten trifft.“
„Ja“, knurrte die Diva. „Es fällt mir schwer, bescheiden zu bleiben.“
Sie strich mit dem Finger über die Tischplatte. Die aufgenommene Staubschicht quittierte sie mit gequältem Seufzen.
Und dann war da noch unser letzter Teilnehmer in der Reisegruppe. Walter Semmler, 82 Jahre, ruhiges Gemüt. Ob er wach war oder nicht, war nicht immer ganz ersichtlich. Er sagte, dass er bei der Internet-Buchung seine Brille nicht auf der Nase hatte und dachte, es ginge nach Mantua, weil er Manaus nicht entziffern konnte. Außerdem hörte er ein wenig schlecht. Er tippte an sein linkes Ohr, an dem sich ein modernes Hörgerät versteckte. Als er kam, war das Hörgerät noch auf „Außenbereich mit Straßenlärm“ eingestellt gewesen. Inzwischen hatte er auf „Gespräche in geschlossenen Räumen“ umgestellt.
„Man hört zwar trotzdem nicht alles mit diesem Teil im Ohr, aber es hält einen ganz schön auf Trab, weil man ständig umschalten muss“, sagte er.
In seiner zurückhaltenden, stillen Art, wie er sein Missgeschick erzählte, hatte er sofort meine Sympathien.
Auf den ersten Blick schien der sichtbare Zustand meiner Reiseteilnehmer mit der Beschreibung der ärztlichen Bescheinigungen übereinzustimmen. Beruhigend, wollte ich doch nicht, dass diese Reise in einer Katastrophe endete, nur weil sich jemand gnadenlos überschätzte. Sicherheitshalber fragte ich in die Runde, ob jeder an alle seine notwendigen Medikamente gedacht hatte. Wenn wir am nächsten Tag unser kleines Abenteuer beginnen, würde kein Umkehren möglich sein, um noch Augentropfen zu besorgen. Alle nickten bestätigend.
„Wunderbar“, rief ich begeistert. „Dann kann uns jetzt nichts mehr aufhalten.“
Da meldete sich Walter.
„Na ja, die Blase drängt schon häufig“, sagte er. „Aber ich habe vorgesorgt.“
Er bückte sich und nahm aus seinem Rucksack ein merkwürdig geformtes Gummiteil von der Größe eines Handschuhs heraus. Er legte es auf den Tisch und strich es liebevoll glatt. Es war eine Art Gummisäckchen mit integriertem Trichter.
„Das ist Pinkli“, sagte Walter. „Ein guter Freund in der Not. Mit ihm ist starker Harndrang unterwegs kein Problem. Einfach nur hier oben in den Trichter und –“
„Ich denke, wir wissen Bescheid“, unterbrach ich hastig. „Und würden Sie bitte dieses, äh, dieses Teil …“
„Pinkli?“
„Genau das, würden Sie es bitte vom Tisch nehmen?“
„Keine Sorgen, ich hab’s gerade erst gespült. Wirklich leichte Handhabung.“
Es gab nicht viel, was ich in diesem Moment weniger wissen wollte.
„Aber ansonsten bin ich fit“, sagte Walter. „Ich habe sogar die Trainingsmaßnahme für Senioren mitgemacht, zu der unsere Stadtverwaltung eingeladen hat. Da wurde das Reaktionsvermögen der älteren Menschen geschult, damit wir keine Zeit verlieren, wenn die Fußgängerampel von Rot auf Grün umspringt.“
„Auf die Idee, die Grünphase zu verlängern, kam die Stadt nicht?“, fragte ich.
Walter zuckte mit den Schultern. „Längere Wartezeit wollte man den Autofahrern nicht zumuten.“
Ich lehnte mich auf dem Stuhl zurück und verfolgte, wie sich die Teilnehmer angeregt unterhielten. Diesen Moment, der der eigentliche Startschuss für dieses Abenteuer war, wollte ich still genießen. So unterschiedliche Charaktere, die sich in ihrem Alltag weder begegnet wären noch etwas zu sagen gehabt hätten, und doch plauderten und lachten sie jetzt fern der Heimat angeregt miteinander. Meine ursprüngliche Idee hatte ihren Fokus auf altersgerechtes und entschleunigtes Reisen gelegt, aber ich erkannte plötzlich, dass das nur ein Teil meiner Vorstellung gewesen war. Menschen zusammenbringen, das fand ich schon immer spannend, und genau das geschah hier. Ich fühlte etwas in mir, das mir lange abhanden gekommen war. Stolz auf das, was ich bewegt hatte. Kaum zu glauben, aber vor nicht einmal einem Jahr war ich noch eine ausgebremste Frau gewesen. Jetzt saß ich an diesem Tisch in einem kleinen Hotel am Rand des Amazonas. In diesem Augenblick zufrieden mit der Welt hörte ich einfach nur zu, was sich gegenseitig erzählt wurde.
„Die Verpackungsindustrie ist der größte Feind älterer Menschen“, rief Walter. „Selbst bei meinem Joghurtdrink ist der Deckel so fest zugedreht, dass ich mit der Schere ein Loch in die Plastikflasche stechen muss, um an den Inhalt zu kommen.“
Während Victoria, Elmar und Sybille eifrig bestätigten, zeigte Schlicke einer interessierten Rainbow seinen Schrittzähler, den er als praktisches Accessoire am Handgelenk trug. „Seit ich nicht mehr mit meiner Truppe die wöchentlichen Gewaltmärsche durchs Gelände mache, komme ich im Durchschnitt kaum noch auf 30 000 Schritte pro Tag“, tönte er und klopfte sich gegen den Brustkorb.
„Durchs Gelände?“, hakte Rainbow nach. Sie witterte Flurschaden in größerem Ausmaß.
Walter Semmler drehte sich zu mir. Er lächelte und winkte und schien zufrieden, jetzt nicht in Italien zu sein. Selbst Sybille Kirchhoff wirkte von Minute zu Minute gelöster, wenngleich noch auf sehr vorsichtige Weise. Offensichtlich war sie sich selbst nicht ganz geheuer, gerade mal nicht an ihre Ängste zu denken.
Plötzlich fächelte sich Victoria schnappatmend mit der Serviette Luft zu. „Elmar“, ächzte sie, und gleich darauf hatte ihr Manager ein handliches Blutdruckmessgerät hervorgeholt, das er Victoria eifrig anlegte.
„Werte normal“, teilte Elmar mit. Er öffnete den großen Trolley, der hinter Victorias Stuhl stand, um das Messgerät dort zu verstauen. Als er den Reißverschluss aufzog, wurden Dutzende von leuchtend weißen Klopapierrollen sichtbar.
„Was schleppen Sie denn da alles mit?“, fragte ich.
„Feinstes, 5-lagiges Toilettenpapier“, sagte Victoria.
„Ach? Und weshalb?“ Neugier gehörte immer schon zu meinen liebsten Leidenschaften.
„Sie glauben doch nicht im Ernst, dass ich mich auf das hiesige Toilettenpapier verlasse? Weiß ich denn, von welchem Baum es gepflückt wurde?“ Victoria rümpfte die Nase.
Rainbow schüttelte den Kopf. „Hoffentlich verstopfen Sie damit nicht die Rohre. Denken Sie denn kein bisschen an die Umwelt?“
Bevor die gute Stimmung kippte, stand ich auf, um alle Blicke auf mich zu lenken, und sagte: „Jetzt, wo wir uns ein wenig kennengelernt haben und auch wissen, wie es morgen weitergeht, kann jeder den Rest des Tages zur freien Verfügung verwenden.