Kafkas Schere - Thomas Lehr - E-Book

Kafkas Schere E-Book

Thomas Lehr

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Beschreibung

"Du wirst schneiden, und du fällst wie endlos in die eine oder in die andere Welt." Ausgehend von Franz Kafkas großmeisterlichem Vorbild sind Thomas Lehrs Miniaturen dieses Bandes entstanden, als Variationen und Hommage, als Ergänzung und Erweiterung des Spektrums superber Alpträume und humorvoll-grotesker Visionen. Ganze Tage werden hier ohne Kopf verbracht, die sensible Schere setzt an, die den Menschen von Gott und vom Tier trennt. Mythische Sagengestalten treffen auf bizarre Zivilisationen aus anderen Galaxien, aberwitzige Fortpflanzungstechniken zeitigen haarsträubende Ergebnisse. Vom grimmigen Regime im Turm zu Babel bis zum Post-Orwell`schen Überwachungsstaat ist der Weg nicht weit in diesen auf äußerste Knappheit gebrachten sprachlichen Vexierbildern. Miniaturen aus dem 21. Jahrhundert, die den Geist Kafkas in sich tragen.

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Thomas Lehr

Kafkas Schere

Zehn Etüden

Für Dorle

Man lernt das Matrosenleben nicht durch Übungen in einer Pfütze …

Franz Kafka

Tage ohne Kopf

Die Hunde waren aus dem Blau der Nacht aufgetaucht.

Niemand hatte je von ihnen gehört.

Ihr Gebell entsetzte uns, wir verloren die Kontrolle. Wir schlugen um uns, schrien.

Wir flohen.

Das Land vor uns konnten wir nicht erkennen. Unter unseren Füßen, die unentwegt voranhasteten, spürten wir einen unzuverlässigen, tückischen Grund.

Kaum hörten wir unsere Schritte. Unser Atem dagegen wurde immer lauter und ebenso das Hecheln und Knurren der Hunde, das sich mit ihm vermengte. Oft konnten wir das eine nicht mehr vom anderen unterscheiden. Dann war es unmöglich zu begreifen, dass sie uns nicht längst schon niedergerissen hatten und die Zähne in uns vergruben.

Sie klebten an uns wie die Schatten, die wir in die Hölle warfen. Manchmal traf uns ein Spritzer ihres Geifers in der Finsternis, oder ihre Lefzen berührten uns mit widerlicher Zärtlichkeit. Wir drohten mit ihnen zu einem einzigen panischen Körper zu verschmelzen, der über die abschüssigen Pfade durch die Landschaft hetzte, mit der Ausweglosigkeit eines Sturzes.

Auch nach Stunden, nach Tagen vielleicht schon sahen wir nichts, nirgendwo hellte das Dunkel sich auf. Unser Vermögen, weiter und weiter zu laufen, war so rätselhaft wie die Unermesslichkeit und die verächtliche Gnade des Geländes, die uns niemals stolpern und niederfallen ließ.

Wer schickte die Hunde? Die Frage bohrte in uns wie ein Messer in den Rippen.

Weshalb konnten wir die Hunde nicht überlisten? Denn es fanden sich Gelegenheiten, nach einiger Zeit änderte sich ja die Beschaffenheit des Landes. Manchmal glaubten wir Gewässer zu durcheilen, manchmal schlugen wir uns durch Büsche oder Gräser, die bis zur Brust reichten. Wir kletterten düstere Hänge empor und stürzten uns hinab, verbissen den Aufprall erleidend und sogleich wieder loslaufend, Haken schlagend, über hastig erahnte Risse und Spalten springend wie auf einem nächtlichen Gletscher oder einem Lavafeld. Nie verloren die Hunde die Witterung.

Jedoch gelang es ihnen auch nie, uns in den Rücken zu springen. An Kraft und Schnelligkeit schienen sie uns nicht zu übertreffen. Wir konnten sie nicht abschütteln, aber jedes Mal, wenn sie nach uns schnappten, glückte uns eine Bewegung, die ihre Zähne hart aufeinanderschlagen ließ. Wurden wir langsamer, erlahmten sie gleichfalls, beinahe als fürchteten auch sie etwas.

Als die Erschöpfung eintrat, nach vielen Tagen oder am Ende einer viele Tage andauernden Nacht vielmehr, erwogen wir den Kampf.

Hätte der Kampf einmal begonnen, dachten wir, musste die Angst doch verschwinden oder verdeckt werden von Wut und Leid. Würde uns der Schmerz des ersten Bisses lähmen? Oder könnten wir ihn hinnehmen, um einen fürchterlichen gezielten Schlag auf das Auge des in uns verbissenen Hundes auszuführen? Man wäre imstande, einen Hund zu töten um den Preis einer begrenzten, aber vielleicht auszuhaltenden Verletzung, eines zerfleischten Oberschenkels oder des Verlusts der nicht schlagenden Hand.

Aber mussten die Hunde nicht gerade umgekehrt denken? Erwogen sie nicht, einen Schlag hinzunehmen, etwa auf ihren Schädel oder Rücken, um danach den tödlichen Biss anzubringen?

Seit wir die Hunde verstanden haben, verstehen wir auch ihr Zögern.

Ihr Lauern, ihr rasendes Abwarten, denken wir jetzt, ist ihre Unfähigkeit, den ersten Schlag auszuhalten. Ihr Verfolgen aber ist womöglich nur ein Nahe-bleiben-Wollen.

Es mag sein, dass wir ihnen ebenso furchterregend wie erbärmlich erscheinen.

Dabei wissen wir nicht einmal, ob sie Augen haben, an denen wir sie zerstören könnten.

Wir selbst haben weder Augen, noch Ohren, noch Mund. Hier unten. Hier unten sind wir ohne Kopf, die Hunde sehen noch nicht einmal eine Gurgel, an der sie uns packen könnten.

Endlich bleiben wir sitzen.

Wir warten.

Fast erscheint es müßig zu sagen, dass sie ebenfalls warten, dass sie sich sogar entfernen. Bald hören wir nur noch von weit her ihr verzweifeltes Heulen.

Es könnte der Tag kommen, an dem wir hoffen, sie hätten uns überholt und sprängen uns von vorne an. So unvermittelt wie eine Tür, die man machtvoll vor uns zuschlägt, wie eine blitzende silberne Tür, ein stählerner Spiegel eigentlich.

Dies wäre der Spiegel der Hunde, der keine Köpfe zeigt, niemals ein Gesicht. In ihm erschiene sonst unerbittlich der Jäger, unser Retter, der die Hunde nach uns schickt.

Kafkas Schere

Kafkas Schere solltest du besser nicht finden. Findest du sie aber, wäre es klug, sie nicht zu öffnen. Öffnest du sie, wirst du dir wünschen, es wäre dir nicht gelungen und du könntest sie dir wieder aus dem Herzen reißen wie einen Dolch.

Doch nun hast du ihre scharfen Blätter um einen spitzen Winkel auseinanderbewegt. Sie gerade noch wie einen Zirkel in eine vor Wörtern wimmelnde Seite zu stechen, kommt dir in den Sinn. Aber es ist zu spät. Du wirst sie nicht mehr loslassen und ihre schnappende, wie atmende Bewegung nicht mehr aufhalten können. Von nun an ist dies dein Leben: ein Schneiden der Sprache in der Welt.

Zunächst scheinst du gut voranzukommen. Anfangs hegst du die Vermutung, ein Messer hätte dir schon genügt. Für den schnellen Stich, den Schnitt durch die Kehle, die Scheibe Brot. Für jegliche Abmessung des einen Instruments findet man schließlich ein Gegenstück. Das Ziermesser entspricht der Fingernagelschere, und so ginge es fort bis zur Heckenschere und zur Machete. Doch Kafkas Messer hat es nie gegeben. Es hätte auf jedem Tisch liegen müssen, Soldaten trügen es an der Koppel, Mörder unter der Jacke. Mit einem Wort kann man töten, doch es ist schon schwieriger mit zweien. Im Prinzip, sagen manche, besteht eine Schere nur aus zwei Messern. Doch zeigt sich hier vor allem die Grobheit des Prinzips.

Allein schon beim Ansehen der Tierwelt wird dir der Unterschied klar. Das Fangmesser, der Jagddolch, das ellenlange Instrument des Metzgers stehen gegen die allenfalls stutzende Praxis der Schere, die etwa gerade hier durch die Wolle des Schafes gleitet und seinen zartgliedrigen Körper befreit. Es ist wahr, dass in einigen wenigen Fällen die Schere entmannt, doch entleibt sie höchst selten. Und fällt dir irgendein Tier mit Messer ein, wohingegen doch die Krabbe, der Krebs, der Hummer über zunehmend kräftige und gefährliche zangenähnliche Scheren oder scherenähnliche Zangen verfügen?

Kafkas Schere nun trennt das dumpf sinnende vom rastlos grübelnden Tier. Der Dachs, der Hund, der Affe erkunden als Philosophen im Pelz den Bau, den Boden, das Astgewirr der Platane, das bis zu den Fenstern der Akademie reicht. Das Schwein dagegen, das Rind, selbst der Delfin scheinen im Trüben zu liegen wie rostende Messer in einer Pfütze. Hebst du an ihrer Seite den Kopf, in der Hoffnung, über ihnen hinge nicht immer nur das Schlachtermesser oder das Beil, könntest du noch auf die Vogelwelt verfallen. Sie teilt sich in zwei Parteien. Auf der einen, der klugen Seite bleibt am Ende nur die Krähe mit ihrem vermessenen Wahnsinn.

Was aber tut eigentlich eine Schere, was richtet sie aus? Sie nähert sich einem Material von zwei Seiten her, der linken und der rechten oder der oberen und der unteren. Das Material selbst, belebt oder unbelebt, muss eine gewisse Weichheit und Nachgiebigkeit besitzen, in der Regel wenigstens, da auch Äste und Knochen oder die Rippen einer gewölbten Brust von manchen Scheren zerknackt werden können. Sollte man denken, Kafkas Schere öffne vor allem den inneren zum äußeren Raum? Der Zweck der Schere, die sich mit jedem Schnitt vereint, sei doch aber die Trennung, heißt es zumeist.

Besondere Scheren könnten dort wirken, wo die Trennung besonderen Aufwand mit sich bringt. Sie separierten die Spreu vom Weizen, den Kitsch von der Kunst, den Himmel von der Hölle, den Menschen von seinem Gott. Ist es nicht immer dasselbe Material, das ins Kreuz der Schere gerät und zerteilt wird, wenn sie sich zum Messer schließt? Um den Schnitt zu führen, benötigt man ohne vorgegebene Linie wenigstens eine Verschiedenartigkeit oder Grenze innerhalb des darauf gezeichneten Bildes. Wer es zeichnet oder gezeichnet hat, dürfte die wichtigste Frage sein. In Kafkas Fall könnte man annehmen, die Zeichnung erfolge stets blind oder absichtlich mit geschlossenen Augen.

Manche glauben auch, die Schere vereinige, statt zu trennen. Es ist eine Frage der Betrachtungsweise. Denn was man auch zerschneidet, die scharfen Blätter der Schere führen es zunächst zusammen, mit jedem Schnitt. Arm und Reich, Mensch und Tier, Glück und Unglück, Dummheit und List könnte man sich in wiederkehrender Vereinigung vorstellen, entfernt nur durch ein schnappendes Gelenk. Kafkas Schere, so heißt es, könne trennen und vereinen zugleich, wo es anderen schwerfiele, auch nur eines von beiden zu tun. Wer sie ergreift, gerät in eine neue und zugleich uralte Welt. Dort wird das Hindernis zum Vorteil, die Unmöglichkeit des Wunsches erscheint als Voraussetzung seiner Erfüllung, Hoffnung ergibt sich immer erst jenseits der vollkommenen Aussichtslosigkeit wie ein Meer unter dem Meer oder ein Horizont jenseits des Horizonts.