Kaiser Nero – Der letzte Spross einer mörderischen Dynastie - Meinhard-Wilhelm Schulz - E-Book

Kaiser Nero – Der letzte Spross einer mörderischen Dynastie E-Book

Meinhard-Wilhelm Schulz

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Beschreibung

Kaiser Nero, Ur-Urenkel des Augustus und Neffe des verrückten Mörders Caligula, ist hinlänglich als Ungeheuer bekannt. In etlichen Filmen spielt er die Rolle des Schurken. Er ließ seine Mutter umbringen und brach die erste Christenverfolgung vom Zaune. Außerdem brachte er die Schriftsteller Seneca, Lucanus und Petronius um. Er hat auch einige prominente Senatoren auf dem Gewissen … und angeblich Rom niederbrennen lassen. Es ist leicht, den Stab über ihn zu brechen.
Das aktuelle Buch von Meinhard-Wilhelm Schulz vermeidet es tunlichst, auf diesen ausgetretenen Pfaden zu wandeln. Unvoreingenommen und geduldig nimmt er sich die Quellen vor. Genau hier müsste man stutzig werden: Wir verdanken unser ‚Wissen‘ in Wirklichkeit nur drei Historikern, die erklärte Feinde dieses Herrschers sind, ohne ihn persönlich erlebt zu haben: Die Überlieferung war bereits vergiftet.
Sie beschreiben seine Herrschaft aus der Froschperspektive der Stadt Rom, und das unvollständig. Im Blick haben sie nur ein paar Prominente. Dass aber in Rom die meisten gerne mit dem Kaiser feierten und den Frieden genossen, geht unter. Die aufblühenden Provinzen sind den Autoren nicht der Erwähnung wert. Sie träumen von der Republik. Wenn sie von ‚Freiheit‘ reden, meinen sie die ihrer Klasse. Sie sind keine Demokraten. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nero ihnen gegenüber ein fast krankhaft misstrauischer Tyrann war, dem etliche zum Opfer fielen.
Meinhard-Wilhelm Schulz schafft es in seinem Buch nachvollziehbare Erklärungen zu finden, die uns zum Teil einen ganz anderen Nero offerieren …

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Meinhard-Wilhelm Schulz

 

 

Kaiser Nero

 

Der letzte Spross

einer mörderischen

Dynastie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

 

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv 

Cover: © by Steve Mayer nach Motiven, 2023

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

 

Alle Rechte vorbehalten

 

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Vorbemerkung 

1. Teil: Kaiser Nero bis heute 

1. 1: Schlaglichter 

2. Teil: Zur Quellenlage 

3. Teil: Des Kaisers Nero neue Kleider  

4. Teil: Nero, der genetisch belastete Kaiser 

4. 1 Die fixe Idee des Kaisers Augustus 

4. 1. 1 Die Nachkommen des Augustus wurden nicht alt 

4. 2 Kaiser Tiberius, der Lückenbüßer 

4. 3 Kaiser Caligula, erstes Opfer des Cäsarenwahns  

4. 4 Kaiser Claudius: ein Überblick seiner Herrschaft 

4. 4. 1 Mord oder nicht Mord, das ist hier die Frage 

4. 4. 2 Zur Behinderung des Kaisers Claudius 

4. 4. 3 Seneca, Verfasser eines üblen Pamphlets 

4. 4. 4 Der Zwischenstand 

5. Teil: Nero in den Jahren 54 und 55  

5. 1 Am 12. und 13. 10. 54 

5. 2 Die Ermordung des Iunius Silanus und des Narcissus 

5. 2 Das Jahr 55 

5. 2. 1 Neros große Liebe 

5. 2. 2 Agrippinas Reaktion und deren Folgen 

6. Teil: Nero außer Rand und Band; das Jahr 56 

7. Teil: Das Jahr 57 (ann. 13, 31-33)  

8. Teil: Das Jahr 58 … 

8. 1 Gnaeus Domitius Corbulo und der Krieg um Armenien  

8. 2 Der Fall Publius Suillius (Tacitus, ann. 4, 31 & 13, 42 f.)  

8. 3 Der Skandal um Octavius Sagitta (Tac. ann. 13, 44. hist. 4, 44) 

8. 4 Die Jahre 59 – 62 (Annalen bis 15, 22)  

8. 4. 1 Poppaea Sabina und ihre Vorfahren 

8. 4. 2 Das Drama um Poppaea Sabina und Neros Muttermord 

9. Teil: Die Jahre 63 – 65 

9. 1 Das Jahr 63 

9. 2 Das Jahr 64 

9. 3 Das Jahr 65 und die Pisonische Verschwörung 

10. Teil: Das Jahr 66 

10. 1 Das Sterben geht weiter 

10. 2 Gaius Petronius (›Arbiter‹) 

10. 3 Thrasea Paetus   

10. 4 Der König von Armenien zu Besuch in Rom 

10. 5 Nero auf der ›Großen Tour‹ (66-67)  

11. Teil: Das Ende im Jahr 68 

12. Teil: Versuch einer Würdigung 

13. Teil: Tabellen zu Neros Abstammung; Kaiser in Blockschrift 

13. 1 Direkte Linie Augustus 

13. 2 Seitenlinie Octavia (Schwester des Augustus) 

13. 2. 1 Octavia + Marcus Antonius (Teil 1) 

13. 2. 2 Octavia + Marcus Antonius (Teil 2) 

13. 2. 3 Octavia + Marcus Antonius (Teil 3) 

13. 3 Seitenlinie TIBERIUS 

13. 3. 1 Livia Drusilla, letzte Ehefrau des AUGUSTUS 

13. 3. 2 von TIBERIUS + Vipsania, Tochter des Agrippa (s.o.) … 

14. Teil: ›Seianus und Tiberius‹; Studie von M. W. Schulz – Exposé  

15. Teil: Ausgewähltes Namensverzeichnis 

 

Das Buch

 

 

 

 

Kaiser Nero, Ur-Urenkel des Augustus und Neffe des verrückten Mörders Caligula, ist hinlänglich als Ungeheuer bekannt. In etlichen Filmen spielt er die Rolle des Schurken. Er ließ seine Mutter umbringen und brach die erste Christenverfolgung vom Zaune. Außerdem brachte er die Schriftsteller Seneca, Lucanus und Petronius um. Er hat auch einige prominente Senatoren auf dem Gewissen … und angeblich Rom niederbrennen lassen. Es ist leicht, den Stab über ihn zu brechen. 

Das aktuelle Buch von Meinhard-Wilhelm Schulz vermeidet es tunlichst, auf diesen ausgetretenen Pfaden zu wandeln. Unvoreingenommen und geduldig nimmt er sich die Quellen vor.

Genau hier müsste man stutzig werden: Wir verdanken unser ›Wissen‹ in Wirklichkeit nur drei Historikern, die erklärte Feinde dieses Herrschers sind, ohne ihn persönlich erlebt zu haben: Die Überlieferung war bereits vergiftet.

Sie beschreiben seine Herrschaft aus der Froschperspektive der Stadt Rom, und das unvollständig. Im Blick haben sie nur ein paar Prominente. Dass aber in Rom die meisten gerne mit dem Kaiser feierten und den Frieden genossen, geht unter. Die aufblühenden Provinzen sind den Autoren nicht der Erwähnung wert. Sie träumen von der Republik. Wenn sie von ›Freiheit‹ reden, meinen sie die ihrer Klasse. Sie sind keine Demokraten. Das darf freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Nero ihnen gegenüber ein fast krankhaft misstrauischer Tyrann war, dem etliche zum Opfer fielen.

Meinhard-Wilhelm Schulz schafft es in seinem Buch nachvollziehbare Erklärungen zu finden, die uns zum Teil einen ganz anderen Nero offerieren …

 

 

Nero: Glyptothek München

 

Auctor librum d.d.

dis manibus amicissimorum

et Helmut Schareika et Dieter Timpe

Vorbemerkung

 

Das unten folgende Werk ist von vorn herein als ›e-book printing on demand‹ geplant. Darum wird man vergebens nach den auch sonst eher lästigen, den Lesefluss störenden Fußnoten oder umständlich zu ortenden Endnoten suchen. Ziel des Verfassers ist es, eine (an in Klammern angeführten Quellen orientierte) Biografie zu erstellen, die auch für den Laien lesbar zu sein hat. Der Verfasser versteht sich als ›Historiker und Schriftsteller‹. Deshalb ist er stets darum bemüht, das unten folgende Werk spannend, amüsant und/oder unterhaltsam zu gestalten – unter Vermeidung der Gendersprache.

Die traditionelle Vorgehensweise, die Literatur mehr oder weniger vollständig aufzubereiten und dann mit kritischen Bemerkungen zu versehen, um, auf ausgetretenen Pfaden wandelnd, alten Wein in neuen Schläuchen zu verkaufen, lehnt er ab. Jeden, den es nach solcher Lektüre dürstet, möge sich der ›Gnomon-Datei‹ bedienen.

Vielmehr geht es ihm darum, sich unvoreingenommen dem Stoff zu widmen. Wenn dabei streckenweise ein ›historischer Roman‹ zum Vorschein kommt, ist es kein Wunder, denn bereits die antike Überlieferung stellt uns vielfach manch Romanhaftes zur Verfügung und darf es nach damaligem Verständnis auch tun.

Da wir aber i. W. keine anderen Quellen als die in Teil 2 vorgestellten haben, müssen wir eingestehen, dass es nicht mehr möglich ist, ein objektives Bild des Kaisers zu erstellen, der noch im Mittelalter als ein Satan auf Erden angesehen wurde; ein eigenes Thema. Einzig der Wirklichkeit sich anzunähern, kann das Ziel der Arbeit sein. Von ›Wahrheit‹ zu sprechen, sollte man den Theologen überlassen.

Die Erkenntnispsychologie lehrt, dass vieles, was wir Historiker schreiben, am Rand eines Glaubensaktes ist, weil der Mensch gar nicht objektiv sein kann. Dies habe ich in meinen drei Caesar-Bänden sowie der Untersuchung zu Seianus und Tiberius beherzigt und daselbst mit manche einem guten alten ›Glauben‹ aufgeräumt.

 

[Das Buch beschäftigt sich übrigens nur am Rande mit der ›Außenpolitik‹ der Zeit Neros: Die Ereignisse v.a. in und um Armenien sind nur noch für Spezialisten unter den Althistorikern von Interesse, und die planmäßige Eroberung Britanniens, die übrigens zu keiner dauerhaften Romanisierung führte, wurde erst unter Kaiser Domitian dank dem Feldherrngenie des Julius Agricola, Schwiegervater des Tacitus, zu einem einigermaßen befriedigenden Abschluss gebracht.]

 

 

1. Teil: Kaiser Nero bis heute

 

Nero blieb den Gebildeten des Mittelalters als der teuflische Feind des Christentums in Erinnerung, weil er nach dem Brand Roms einen Sündenbock für das Desaster suchte und in der winzigen Christengemeinde fand, falls wir dem Historiker Tacitus glauben wollen.

Hieran knüpfte der Pole Henryk Sienkiewicz (1848-1916; Nobelpreis 1905) mit seinem Roman ›Quo vadis‹ an, der im 20. Jh. zu einer Vielzahl von Filmen führte (dazu: M. Junkelmann: Hollywoods Traum von Rom; ein großartig illustriertes Buch: Zuletzt gab es noch eine ›brutale‹ polnische Verfilmung mit ›realistischen‹ Szenen der Arena).

Der berühmt-berüchtigte Kaiser avancierte also wie kein zweiter Römer zum Filmstar. [Sein Onkel, Kaiser Caligula, brachte es nur zur Titelfigur eines Porno-Films.] Das einseitig von Hollywood geprägte Bild des Mörders seiner Mutter (und der schwangeren Gattin) ist bis heute in den Köpfen von Millionen Menschen vorhanden. Dazu kommt noch eine andere, durchaus bemerkenswerte Facette:

 

An einem Wintertag des Jahres 1506 schuftete ein päpstlicher Angestellter in seinem Weinberg, als die Erde unter ihm nachgab. Er rutschte zehn Meter in die Tiefe und … entdeckte hinter einer noch zugemauerten Pforte die ›Gruppe des Laokoon‹, die vielleicht bekannteste Skulptur der Antike überhaupt, die den Namensträger samt seinen zwei Söhnen im Kampf gegen die Riesenschlangen zeigt. (Die Nische, in der das Werk stand, gehörte zur privaten Bleibe des Kaisers Nero.)

Kurz darauf begab sich der berühmte Maler Raffael in die angrenzenden Gänge und entdeckt herrliche Wandgemälde und großartige Stuckdekorationen. Er kopierte alles sorgsam und verwendete es für die Loggien des Vatikans, die den äußeren Warteraum für Besucher des Papstes bildeten. Neros Geschmack fand auf diese Weise ausgerechnet Eingang in den päpstlichen Palast.

Als die Trümmer des im großen Brand untergegangenen Roms beiseite geräumt waren, ließ sich Nero nämlich einen neuen Palast errichten, den größten, den Rom jemals gesehen hatte. Eingangs ließ er eine Statue von sich aufstellen, über 35 Meter hoch. Vorbild war die nach einem Erdbeben gestürzte Riesenstatue des Sonnengottes am Hafen zu Rhodos. Sie galt als eines der sieben Weltwunder und ist in die Geschichte als der ›Koloss von Rhodos‹ eingegangen (griechisch: Kolossós = große Statue). Dass die Schiffe einst durch seine gespreizten Beine einfuhren, ist ein zählebiges Märchen. Wie Neros ›Goldenes Haus‹ ausgesehen haben könnte, schildert sein antiker Biograf Gaius Suetonius Tranquillus (Nero 31) so:

 

»Er baute einen Palast vom Palatin bis zum Esquilin, den er […] ›Goldenes Haus‹ nannte […]. Das Vestibül (Eingangshalle) war so groß, dass darin seine Kolossalstatue […] Platz fand. Der gesamte Bau war so ausgedehnt, dass ihn eine Halle mit drei Säulenreihen in der Länge von (modern ausgedrückt) anderthalb Kilometern Länge schmückte. Ferner befand sich darin ein (umfangreicher) Teich, der wie ein Meer mit Gebäuden umgeben war, die Städte vorstellten. (Auf der Stelle des Teiches ließ Vespasian das Kolosseum bauen.) Dazu kamen Ländereien mit Feldern, Weingärten, Weiden und Wäldern […]. Ansonsten war alles mit Gold, Edelsteinen und Perlmutt bedeckt. Die Speisezimmer hatten Decken aus beweglichen, durchlöcherten Elfenbeinplatten, so dass man […] über die Gäste Blumen streuen oder Parfüme sprengen konnte. Der Hauptspeisesaal war rund. Seine Decke rotierte Tag und Nacht wie das Weltall […]. Als dieser Palast fertiggestellt war, sagte Nero […], jetzt endlich könne er anfangen, wie ein Mensch zu leben.« 

 

Da es sich um einen vielfach bezeugten Zustand handelt und Suetonius die übrig gebliebenen Trümmer persönlich besichtigen konnte, dürfte der obige Bericht einigermaßen authentisch sein. 

Nach Neros Tod ließ Kaiser Vespasianus das ›Goldene Haus‹ teilweise einreißen. Erst hundert Jahre später wurden die Reste an Privatleute verscherbelt. Wohin all der Marmor gewandert ist, bleibt Spekulation. Doch wenn wir über den Fußboden dieser oder jener römischen Kirche gehen, ist der Gedanke reizvoll, dass einst Kaiser Nero mit seiner Geliebten Akté oder vielleicht sogar der bezaubernden Gattin Poppea Sabina über eben diese Marmorpatten geschritten ist.

Vierzig Jahre später stand Neros Koloss (natürlich längst mit neuem Kopf versehen) einem Bauvorhaben des Kaisers Hadrianus im Wege, seinem Tempel der Venus und Roma. So ließ er ihn denn vor das ›Große Amphitheater‹ des Vespasianus versetzen, wo man in modernen Zeiten noch den Sockel entdeckte. Seitdem, so vermuten viele, wird Roms Wahrweichen ›Kolosseum‹ genannt.

Es war übrigens bis ins 14. Jh. gut erhalten. Ein Erdbeben setzt ihm zu. Dann begann der Abbruch. Drei der größten Palazzi Roms sind aus seinen Steinmassen errichtet. Man sollte es wieder instand setzen. Es könnte für alle Sportarten auf dem Kleinfeld und für jedwede kulturelle Veranstaltung verwendet werden, aber das arme Italien …

In römischen Kreisen blieb die Erinnerung an Nero in ganz anderem Gewande wach. Noch viele Jahre nach seinem Tode soll man sein Grab mit Blumen geschmückt haben (Suetonius, Nero 57) oder stellte Bildnisse von ihm auf. Selbst 300 Jahre später, als das Christentum seinen Siegeszug bereits angetreten hatte, tauschten konservative Familien zu Neujahr Gedenkmünzen mit seinem Bildnis aus, um an Ruhm und Glanz des untergegangenen heidnischen Roms zu erinnern.

Wir kennen Neros Portrait darum u.a. von Münzen. Er zeigt darauf das Gesicht eines Genießers mit auffällig dickem Hals; mit und ohne krausen Bart. Sein Biograf Suetonius will folgendes über sein Aussehen erfahren haben (Nero 51):

»Er hatte eine mittelgroße Gestalt. Sein Körper war mit Flecken übersät und übelreichend; das Haar hellblond; das Gesicht eher schön als anmutig; Augen bläulich und schwach; Hals dick; Bauch hervortretend; Beine sehr dünn; Gesundheit gut. Obwohl er nämlich ungeheuer ausschweifend lebte, war er während seiner vierzehnjährigen Regentschaft nur dreimal krank gewesen.« 

Insgesamt gesehen, war er nicht der Mann, in den sich eine Frau Hals über Kopf verliebt. Die frühere Sklavin Akté liebte ihn trotzdem, bis zum bitteren Ende (s.u. 5. 2. 1). Von Neros dritter und letzter Ehefrau, einer Statilia Messalina wissen wir leider so gut wie nichts. Sie überlebte jedenfalls seinen Suizid und wurde noch vom kurzlebigen Kaiser Otho, einst Neros Zechkumpan und Ex-Ehemann von Neros zweiter Gattin Poppaea Sabina umworben, bevor sie aus der Geschichte verschwindet. Soviel mag feststehen:  

Akté durfte und musste auch noch neben Statilia Messalina ein Schattendasein führen, von der ihm aufgezwungenen ersten Ehefrau Octavia, Tochter des Kaisers Claudius, ganz zu schweigen. Einzig Poppaea Sabina verstand es offenbar auf Dauer, ihn zu verzaubern … bis er sie in einem Wutanfall umbrachte und dann betrauerte.  

 

 

1. 1: Schlaglichter

 

•15. 12. 37: *Nero; Geburtsname: Lucius Domitius Ahenobarbus

•Mutter: Agrippina II, Urenkelin des Augustus (15-59 n. Chr.)

•Vater: der berüchtigte Gnaeus Domitius Ahenobarbus; † 40

•25. 2. 50: Agrippina II (35) heiratet Kaiser Claudius, ihren leiblichen Onkel; Bruder ihres Vaters (60)

•Nachfolgend 1.: Lucius Domitius Ahenobarbus wird vom Großonkel Claudius adoptiert und heißt nun ›Nero Claudius Caesar Germanicus‹

•Nachfolgend 2.: Nero muss darum Octavia, Tochter des Claudius, heiraten, ohne sie offenbar jemals ›berührt‹ zu haben.

•12. 10. 54: Claudius stirbt; vielleicht von Agrippina vergiftet

•13. 10. 54: Nero (~ 17) wird als römischer Kaiser anerkannt, ohne sich anfangs um die Herrschaft zu kümmern

•März 59: Nero lässt seine (herrschsüchtige) Mutter ermorden

•9. 6. 62: Nero lässt seine erste Frau, Octavia, ermorden

•i.J. 65: Nero zwingt Seneca, den führenden Philosophen und Literaten Roms, Ex-Premierminister des Reiches, als Oppositionellen zusammen mit dem Dichter Lucanus, seinem Neffen, zum Suizid

•i.J. 65: Nero tötet Poppaea Sabina, seine zweite Frau, im Jähzorn

•i.J. 66: Nero zwingt Thrasea Paetus, geistiges Haupt einer Verschwörung gegen ihn, ›das Gewissen Roms‹, zum Suizid

•i. J. 66: Nero zwingt nun auch den Schriftsteller Petronius zum Selbstmord; sein berühmt-berüchtigtes Werk: ›Satyricon‹ (verfilmt)

•9. 6. 68: Nero flieht und begeht im Keller eines Freundes Suizid, um der vom Senat angeordneten Hinrichtung zu entgehen

•Anschließend: Nero wird in der Gruft der Domitier (seines Vaters) und nicht im Mausoleum des Augustus, dem Grabmal der Iulier, beigesetzt; neben den zwei Ammen geleitet auch Akté seine Urne zum Grabmal; sie war seine Jugendliebe und ihm treu bis zuletzt.

 

 

2. Teil: Zur Quellenlage

 

Wie Lucius Domitius Ahenobarbus, der sich als Herrscher ›Claudius Drusus Germanicus Caesar‹ nannte (37-68; Kaiser 54-68) aussah, ist besonders aus Münzbildnissen bekannt; auffällig sein dicker Hals. Es ist aber unzulässig, irgendetwas in sein Gesicht hinein zu interpretieren. Insgesamt gesehen, weisen die Portraits nichts auf, was uns an einen Film-Bösewicht gemahnte. Seine Züge sind regelmäßig. Vielleicht drückt das mollige Gesicht das Wohlleben aus, dem er sich angeblich hingab, vielleicht auch nicht.

Nero war der Sohn des Augustus-Großneffen Gnaeus Domitius Ahenobarbus, eines Mannes mit ›schlechter Presse‹ und der Augustus-Urenkelin Agrippina II; eine Verbindung am Rand der Inzucht. Vater Gnaeus war für damalige Verhältnisse ein alter Mann; Mutter Agrippina noch eine Jugendliche; Konstrukt der kaiserlichen Heiratspolitik, die keine Rücksicht auf die Wünsche der Frauen nahm.

Gnaeus starb. Agrippina strebte nach neuen Ufern. Als direkte Nachkommin des Augustus sah sie in ihrer Person die ideale Herrscherin Roms. Doch auf dem Thron saß der alte Claudius, Bruder ihres Vaters; ein Mann, den viele nicht erst nahmen. Hatte er nicht kürzlich seine dritte Ehefrau namens Messalina umbringen lassen, nachdem sie ihm einen Wald von Hörnern auf den Kopf gepflanzt hatte?

Wie es Agrippina, seine machtlüsterne Nichte, bewerkstelligte, ins Schlafzimmer des Fünfzigjährigen vorzudringen, wissen nur die Götter. Jedenfalls heirateten Onkel und Nichte. Nicht lange, und Agrippina setzte es durch, dass Claudius ihren Sohn Lucius adoptierte.

 

Über Neros Glück und Ende erfahren wir weder aus erster Hand noch über die Berichte von Autoren, die sich um Objektivität bemühten. Ja, in damaligen Zeiten gab es noch keinen Unterschied zwischen der strengen Darstellung von Geschichte und historischem Roman. Es gibt im Grunde nur zwei, auf deren Berichten das Nero-Bild fußt. Es sind die fast gleichaltrigen Schriftsteller Publius Cornelius Tacitus (ca. 55-116/20) und sein Kollege Gaius Suetonius Tranquillus (ca. 75-150).

Senator Tacitus (›der Schweigsame‹) gilt als Roms größter Geschichtsschreiber. Mit den ›Kleinen Werken‹ (Dialog; Agricola; Germania) begann er seine Autorenkarriere um ca. 100 n. Chr. Zuvor hatte er eine eher mäßige politische Karriere unter Kaiser Domitianus verfolgt und sich dem Tyrannen zähneknirschend untergeordnet. Danach widmete er sich seinem Hauptwerk, den ›Historien‹. Sie beschrieben die Jahre 69-96 und waren selbst erlebte ›Zeitgeschichte‹. Erhalten haben sich leider nur die Schilderungen der ersten zwei Jahre und füllen dennoch bereits einen stattlichen modernen Band.

Zuletzt widmete er sich den ›Annalen‹, seinem Alterswerk. Große Teile davon sind erhalten. Sie behandeln die Jahre 14-68 n. Chr. und sind mit Abstand unsere wichtigste Quelle zu Nero.

Tacitus beginnt die Annalen mit einem schockierenden Rückblick auf die glanzvolle Zeit des Augustus, um dann Kaiser nach Kaiser der allgemeinen Verdammung anheim fallen zu lassen. Er sieht in ihnen grundsätzlich nur Tyrannen, die den römischen Senat entmachtet und die Republik abgeschafft haben.

Zu Beginn sagt er, dass er ›sine ira et studio‹ (›ohne Hass und Parteinahme‹) schreiben wolle. Doch was bleibt, ist ein Gemälde Schwarz in Schwarz. Er ist in seinen letzten Jahren ein pessimistischer Misanthrop geworden, der gar nicht mehr objektiv schreiben konnte.

Mit Kaiser Tiberius beginnt der Rundumschlag, mit Nero kommt er zum Ende. Wo Tacitus nur hinschaut, findet er Gräueltaten, Mord, Verrat, Heimtücke und Unmenschlichkeit. Nero scheint es ihm freilich besonders leicht gemacht zu haben, die ›Feder zu wetzen‹ [korrekter: das Schilfrohr zuzuspitzen].

Doch Tacitus schreibt nicht synchron. Die Annalen sind über ein halbes Jahrhundert nach Neros Tod entstanden. Er ist weder Augenzeuge noch Zeitgenosse und war ein Kind, als Nero starb. Also musste er aus den trüben Wassern fischen, die ihm der Klatsch, die rachsüchtige senatorische Geschichtsschreibung und die berüchtigten ›Memoiren‹ der Augustus-Enkelin Agrippina hinterließen (nicht erhalten). Eine andere Überlieferung gab es nicht. Nero hatte dem Senat schwer zugesetzt, wenn auch nicht so brutal wie Kaiser Caligula, sein Onkel, von dem das Hörensagen berichtete, er wolle ihn gar ausrotten. Das vergaßen ihm die durchweg oppositionellen Historiker nicht.

Gaius Suetonius Tranquillus (›der Stille‹) war Zeitgenosse der Kaiser Domitianus, Traianus und Hadrianus. Es gelang ihm seit den Tagen der mäßig strengen Herrschaft des Kaisers Traianus, in der Staatsverwaltung Fuß zu fassen. Unter Hadrianus hatte er sogar den Posten eines ›epistularum magister‹ inne, was so viel wie ›privater Sekretär des Kaisers‹ bedeutete, fiel aber eines Tages in Ungnade, musste das ›Vorzimmer‹ räumen und dachte von nun an anders über die Kaiser.

Nach seinem Sturz verfasste er literarische Werke, aus denen seine zwölf Kaiserbiografien herausragen, beginnend mit Iulius Caesar, endend mit Domitianus; darunter die über Claudius und Nero.

Suetonius reiht Details aneinander, ohne besonderen logischen Bezug oder tieferes Verständnis für die Zusammenhänge. In breitem Fluss ist der Hofklatsch (heute würden wir sagen: die Produkte der Regenbogenpresse) in sein Werk eingegangen. Er will vor allem unterhalten und versteht sich gar nicht als Historiker.

Schwer lässt sich daher bei ihm Erfundenes vom Historischen trennen. Suetonius hatte nämlich das Recht, seinen ›Helden‹ Züge anzudichten, die sie seiner Meinung nach besitzen konnten. Der Quellenwert seiner sprunghaften Biografien wird dadurch weiter eingeschränkt, dass er grundsätzlich Gegner der dargestellten Kaiser ist, wenn auch nicht in gleicher Verbissenheit wie Cornelius Tacitus.

Seine Biografien im Allgemeinen und sein Nero-Bild im Besonderen machten noch im Mittealter großen Eindruck, sehr zum Schaden einer nüchternen Geschichtsschreibung und führten u.a. dazu, in Nero die Inkarnation des Satans zu sehen. Sein bedeutendster Epigone war ein gewisser Eginhard (›Einhard‹), der eine Biografie Karls d. Gr. verfasste, die auf weiten Strecken so nichtssagend ist, dass man daran zweifeln müsste, ob er den Kaiser überhaupt persönlich kannte.

Für unser Thema ist Suetonius schon deshalb von Bedeutung, weil er Ergänzendes zu den Berichten des Tacitus sagt, mit dem zusammen er der einzige einigermaßen zeitnahe Autor ist.

Anders Cassius Dio Cocceianus (ca. 150-235). Er ist der dritte im Bunde und kam aus dem griechischen Osten nach Rom, um dort Staatsbeamter zu werden. In seiner freien Zeit verfasste er auf Griechisch eine ›Römische Geschichte‹ in 80 Büchern, von den Anfängen Roms bis 229, dem Jahr, in dem er als Konsul amtierte.

Vollständig erhalten sind die Bücher 36-60 (die Jahre 69 v. Chr. bis 46 n. Chr.). Die Bücher 1-35 sind nur in Bruchstücken überliefert. Ersatz für die Bücher 61-80 bietet vor allem ein Auszug des byzantinischen Mönches Xiphilinos. Dieser lebte in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts in Konstantinopel. Ihm lag das Werk des Dio wohl noch vollständig vor, dessen Bücher 61-80 uns in seinen Auszügen bekannt sind und die Zeit der Kaiser Claudius und Nero berücksichtigen.

Das Werk des Cassius Dio besitzt keinen eigenen Quellenwert. Nero ist weiter von ihm entfernt als Bismarck von uns. Da aber die meisten synchronen Quellen verloren gegangen sind, ist auch Dios Bericht von Wert. Geschmälert wird der Lesegenuss leider durch seine langen, frei erfundenen Reden und seinen Glauben an Vorzeichen und Wunder.

Im 12. Jahrhundert trat der byzantinische Mönch Zonaras mit einer bis 1118 reichende Weltchronik an die Öffentlichkeit, in der Zitate aus den verlorenen Büchern des Dio entdeckt wurden, darunter zu Nero.

Desweiteren wurde eine Handschrift aus dem 10. Jh. entdeckt (›De virtutibus et vitiis‹) und von H. Velesius 1634 veröffentlicht (›exc. Val.‹). Sie enthält 415 zitierte Stellen aus Cassius Dio.

 

Insgesamt gesehen sind wir über Nero – trotz aller Mängel der Überlieferung – besser als über die meisten Kaiser unterrichtet.

 

 

3. Teil: Des Kaisers Nero neue Kleider

 

Wir schreiben den 8. Juni 68. In Rom herrscht helle Aufregung. Gaius Iulius Vindex, Statthalter in Gallien, hat sich erhoben. Scharen von Galliern, die von Unabhängigkeit träumen, sind ihm zugeströmt. Er ist in Verbindung mit General Galba getreten, Oberkommandierender in Spanien, dem man nachsagt, er wäre darauf aus, den Thron über einen Militärputsch zu besteigen. Auch die übrigen Truppen des Reiches neigen dazu, dem Kaiser den Gehorsam zu verweigern. In der Hauptstadt selbst kommt es zu einer Absetzbewegung, frei nach dem Motto, ›die Ratten verlassen das sinkende Schiff‹.

Nero, ein Meister der Verdrängungskunst, hat all dem tatenlos zugeschaut und sein Leben als Schlemmer und selbsternannter Künstler sowie Wagenlenker fortgesetzt. Jetzt aber, wo die Dinge ihre eigene Dynamik entfalten, holt ihn die Wirklichkeit ein.

Er tafelt gerade in seinem ›Goldene Haus‹, als wäre nichts geschehen. Wie viel Wein er geschluckt und was er verspeist hat, weiß man nicht, aber seine Maßlosigkeit ist sprichwörtlich.

Da tritt ein Bote ein und überreicht ihm einen Brief. Gewiss stammt er von einem seiner letzten Freunde. Nero liest den Wisch und fetzt ihn in Stücke. Die Nachricht ist niederschmetternd. Viel zu lange hat er seine prekäre Lage verdrängt. Jetzt steht er vor dem Abgrund. Die Generäle in nah und fern rebellieren.

Der Kaiser rastet aus. Er springt vom Speisesofa und stößt den Tisch um. Speisen, Getränke und Geschirr klirren in wirrem Durcheinander zu Boden. Dann nimmt er seine beiden Lieblingsbecher zur Hand und schmettert sie auf den Estrich.

Er hat begriffen, dass es aus und vorbei mit ihm ist. Glanz und Gloria sind des Lebens passé. Seine Schreckensherrschaft ist Geschichte. Niemand nimmt ihn mehr ernst. Jetzt gilt es für ihn, entweder das nackte Leben zu retten oder den Tod durch eigene Hand zu suchen.

Er schreit nach einer Sklavin mit dem Spitznamen Locusta (›die Heuschrecke‹). Sie ist eine bewährte Giftmischerin. Der Kaiser hat sie bereits für seine Gräueltaten eingesetzt und (angeblich) mit ihrer Hilfe seinen Cousin und Adoptivbruder Britannicus ermordet.

Locusta hat sich noch nicht aus dem Staub gemacht. Sie kommt und reicht dem Kaiser das verlangte Gift, damit er sich von allem Irdischen verabschieden kann. Nero nimmt es an sich und … steckt es in eine goldene Büchse, statt es zu schlucken. Noch ist er nicht bereit, oder viel zu feige, sich das Leben zu nehmen.

Stattdessen schickt der mollige Dreißigjährige ein paar Freigelassene, die ihn auch in der Stunde der Not nicht verlassen, nach Ostia, um dort Schiffe für seine Flucht bereitstellen zu lassen. Wohin er fliehen will, ist ein streng gehütetes Geheimnis. Die Kommandeure in Roms Seehafen sind klug genug, sich nicht von seiner Panik mitreißen zu lassen und spielen natürlich auf Zeit.

Gleichzeitig denkt Nero jetzt an seine Leibgarde, die Prätorianer, denen er seinerzeit den Thron verdankte. Sie bilden eine vergleichsweise kleine Truppe, sind aber die bestausgebildeten Soldaten des Reiches. Agrippina, seine von ihm später umgebrachte Mutter, hatte sie einst reich beschenken lassen, um ihrem Söhnchen den Weg zum Thron zu ebnen. Und jetzt? Wo bleiben sie?

Neros Freigelassene gehen zur Kaserne und bitten die Offiziere und Unteroffiziere um Hilfe. Doch diese Schufte reagieren mit Ausflüchten und tun gut daran. Wenn nämlich Galba mit der mächtigen spanischen Armee nach Rom marschiert, sind sie so gut wie tot, sollten sie aufs falsche Pferd gesetzt haben. Einer der Kommandeure, der offenbar über etwas Bildung verfügte, soll mit den Worten des Dichters Vergilius (Aeneis 12, 646) gehöhnt haben:

»Ist das Sterben denn so schrecklich und schwer? «

Damit ist Neros letzte Hoffnung zerstoben. In rasender Eile brausen noch ein paar Pläne durch sein Hirn. Wenn er schon im Reiche selbst keine Zuflucht mehr besitzt, dann muss er sich eben ins Exil begeben. Wie wäre es, wenn man den Großkönig der iranischen Parther, Roms Erzfeind, darum bäte? Doch wie soll er dorthin gelangen. Wie soll er in der Kürze der Zeit mit ihm Verbindung aufnehmen?

Oder sollte er sich vor General Galba in den Staub werfen und ihn um Gnade anflehen? Unmöglich! Der Kommandeur hält sich im fernen Spanien auf und kann als Nachfolger Neros naturgemäß nur dann ruhig schlafen, wenn sein Vorgänger tot ist. So war es zu allen Zeiten: ›Der Kaiser ist tot! Es lebe der Kaiser!‹

Oder soll er in Trauerkleidung auf die Rednertribüne am Forum Romanum klettern und die Römer um Verzeihung für seine jahrelangen Gräueltaten bitten? Nein, abwegig! Wie könnte es vonstattengehen, sich lebend nur bis zum Marktplatz durchzuschlagen? Dort angekommen, wäre es ein Ding der Unmöglichkeit, sich verständlich zu machen, denn wie weit trägt eine menschliche Stimme? Er wäre wohl nur von einer aufgebrachten Menge niedergeschrien und anschließend gelyncht worden.

Der immer noch sehr junge Kaiser begreift, dass er seine Autorität eingebüßt hat. Mit der Autorität verliert der Herrscher seine Macht, denn auf der Autorität beruht der Gehorsam der Untergebenen.

Rom hat bemerkt, dass dieses Scheusal ohne willfährige Lakaien in Politik und Militär erledigt ist. Nero kann jetzt tun und lassen, was er will, erreichen lässt sich nichts mehr. Es ist aus und vorbei.

Sein Plänchen, sich als Chef Ägyptens zur vorzeitigen Ruhe zu setzen, ist abenteuerlich, obwohl die Provinz formal im Privatbesitz des Kaisers ist; ein irres Hirngespinst des Verzweifelten.

Nero fällt nun gar nichts mehr ein außer ›abwarten, Wein trinken‹. Morgen ist ja auch noch ein Tag. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Ein Wunder, wenn er einmal nicht betrunken wäre. Wo sind seine verdammten Sklaven? Spurlos verschwunden. Er macht sich aus dem Triklinium (Speisesaal) davon und haut sich aufs Ohr, doch an gesunden Schlaf ist trotz zu viel Alkohol im Blut nicht zu denken.

Tief in der Nacht hält er es nicht mehr aus, verlässt das Lager und schreit nach den Dienern. Ein einziger nur kommt und berichtet ihm, auch die Palastwache habe sich aus dem Staub gemacht. Niemand könne mehr für seine Sicherheit einstehen.

Jetzt denkt Nero an seine einst so zahlreichen Freunde, die jahrelang fröhlich mit ihm getafelt haben. Seine letzten treuen Diener schwärmen aus, sie um Hilfe anzuflehen. Keiner regiert. Die eigene Haut ist ihnen lieber als die gute alte Freundschaft. Der Römer sagt dazu, ›in angustiis amici apparent – in der Not erscheinen die Freunde‹. Nero hat keine mehr. Er hatte auch zuvor keine. Nur Speichellecker hatten sich um ihn versammelt. Wenn er aber zufällig einmal einen echten Freund hatte, wie Gaius Petronius Arbiter, ließ er ihn umbringen. Jetzt ist alles anders. Inzwischen ist bereits das kleinste Anzeichen der Freundschaft mit dem Entmachteten lebensgefährlich.  

Nero kann es nicht fassen. Er schart seine letzten Freigelassenen um sich und irrt mit ihnen durchs nächtliche Rom, um sich vor den einstigen Lobhudlern in den Dreck zu werfen, nur, damit sie ihn zuhause aufnehmen und vor den Häschern verstecken. Von Palazzo zu Palazzo hechelt er, aber sämtliche Türen bleiben verschlossen. Er klopft an und gibt kund, wer da gekommen ist. Niemand antwortet.

Es herrscht noch das Morgengrauen des 9. Juni. Er hetzt zum ›Goldenen Haus‹ zurück, das demnächst wenigstens teilweise von Kaiser Vespasian abgerissen und durch das Kolosseum ersetzt werden wird und haut sich erschöpft auf die Pritsche. Seine Leibwächter haben das Weite gesucht und alles mitgehen lassen, was sie nur fortschleppen konnten. Sie wussten, was sie taten, denn Nero ist erledigt. Sogar die goldene Dose mit Locustas Gift haben sie mitgehen lassen. Warum auch nicht? Herrenloses Gut. Von der Giftmischerin keine Spur. Auch sie ist untergetaucht. Wie soll Nero sich da noch umbringen?

Er schreit nach einigen seiner Lieblingsgladiatoren. Einer von ihnen wird doch Manns genug sein, ihn zu töten? Doch wo sind diese Männer geblieben, welche er einst gefördert hatte? Keiner kommt. Nicht einmal sie wollen vom Kaiser noch etwas wissen. Keiner denkt daran, ihm in Gladiatoren-Manier den Dolch in die Kehle zu stoßen. Wie verrückt rennt er ins Freie, um sich im Tiber zu ersäufen, aber am Ufer des behäbig dahin rauschenden Flusses verlässt ihn der Mut.

Also beschließt er, sich zu verstecken; aber wo nur? Sein Freigelassener Pháon steht zu ihm, einer der letzten Getreuen. Der einstige, sonst unbekannte Sklave trägt einen vielsagenden griechischen Namen: Der ›Leuchtende‹, der ›Strahlemann‹, soll‹s richten. Er bietet dem machtlosen Machthaber sein rund sechs Kilometer vor den Mauern Roms liegendes Landgut als Unterschlupf an, das er sich gewiss als ehemaliger Sklave nur dank Neros Protektion leisten kann.

Der Kaiser spottet jeder Beschreibung. Der verwöhnte Lebemann hat sich einen Tag lang nicht mehr ins Bad begeben und seit gestern Abend nichts gegessen. Wie verwahrlost er aussieht, lässt sich nur erahnen. Ferner wissen wir nicht, wie ihn die Botschaft erreichte, dass ihm Pháon Asyl gewähren möchte. Vermutlich hat der ehemalige Sklave einen eigenen Sklaven ins ›Goldene Haus‹ geschickt, in welchem der Kaiser rastlos umherirrt.

Nero nimmt sich keine Zeit für Körperpflege. Verwahrlost, wie er ist, steckt er nur in der Tunika, dem ärmellosen kniefreien ›Hemd‹ der römischen Männer, das man gegürtet oder ohne Gürtel tragen kann; bei Kälte zweifach oder dreifach übereinander.

Barfuß stürzt er aus dem Palast und springt auf ein bereitgestelltes Pferd, auf dem er mit bloßem Gesäß thronend davon galoppiert. Vier letzte Freunde begleiten ihn. Mindestens ein weiterer bleibt zurück, um dem Geflüchteten zu melden, wie die Dinge in Rom stehen.

Ja, bei allem Wohlleben hatte sich Pferdenarr Nero das standesgemäße Reiten nicht abgewöhnt. Jetzt ist es ihm von Nutzen. Doch um die Kniebundhosen der Kavallerie überzustreifen, müsste er die Flucht unnötig verschieben, falls die Kluft überhaupt so rasch zur Hand wäre. Ferner weiß man nicht, woher er das Ross so rasch zur Hand hatte.

 

[Die Pferde der Römer waren kleiner als ein heutiges Islandpony; Steigbügel und ›moderner‹ Sattel waren noch nicht erfunden; man trug damals keine Unterhosen; darum ritt Nero mit nacktem Gesäß.]

 

Er ist zusätzlich in einen alten Mantel geschlüpft, vielleicht eine gallische Caracalla mit Kapuze, denn er verhüllt seinen Kopf, um nur ja nicht erkannt zu werden. Ein Tuch soll er zusätzlich vors Gesicht gehalten haben. Falls es wirklich so war, hielt er die Trense seines Pferdes nur in der einen Hand, damals durchaus üblich. Wer es ihm aufgezäumt hat, ist nicht überliefert; wohl einer der Männer, die den flüchtenden Kaiser nun eskortieren, darunter pikanterweise ein gewisser Sporus. Wer war dieser Mensch?

 

Wenn wir Suetonius und Cassius Dio (über Xiphilinos) glauben wollen, fand Nero Gefallen am hübschen Sklaven, weil er Ähnlichkeit mit seiner von ihm durch einen Tritt in den Unterleib umgebrachten hochschwangeren zweiten Frau Sabina Poppaea hatte, die er nach der Tat im Jähzorn aber schmerzlich vermisste.

Er ließ Sporus (angeblich) kastrieren, um ihn zum Weib zu verwandeln, das er dann ›Sabina‹ nannte. Mit dem flammend roten Schleier der typisch römischen Braut ließ er ihn sich zuführen und ›heiratete‹ ihn allen Ernstes. Aufgeputzt und grell geschminkt wurde der Eunuch öffentlich in einer Sänfte herumtragen, wo immer der Kaiser unterwegs war. Scheinbar stillte er an ihm seine perversen Lüste. Ein Witzbold meinte dazu, es sei jammerschade, dass sich Neros Vater nicht ebenfalls eine solche ›Frau‹ genommen habe.

Wie auch immer, ob glaubwürdig oder nur alberner Klatsch, der Kastrat hält ihm die Treue, und das ehrt ihn, falls er nicht doch die Flucht ergriff, wie es ein Auszug aus Cassius Dio nahelegt (zu finden bei Joannes aus Antiocheia, 7. Jh. in fr. 92).

Was nach Neros Tod aus diesem ›Eunuchen‹ geworden ist, ›weiß‹ man von Cassius Dio (64, 10; über Exc. Val. 270): Als ›Kaiser‹ Vitellius im Vierkaiserjahr 68 n. Chr. kurzfristig das Sagen hatte, bevor er den Löffel vorzeitig unfreiwillig abgab, soll er das irre Plänchen gehegt haben, den aufgegriffenen Sporus im Rahmen der Gladiatorenspiele als ›geraubtes Mädchen‹ auftreten zu lassen. Weitere Details dazu finden sich leider keine in der winzigen Notiz.

Vermutlich sollte sich das Publikum am seltsamen ›Weib‹ belustigen, bevor man ›sie‹ tötete; entweder als ›Gladiatorin‹ durch einen professionellen Fechter, oder den Bestien im Amphitheater vorgeworfen.

Neros Liebling wusste, was ihm blühte. Er soll sich getötet und dadurch den lüsternen Pöbel ums unverdiente Vergnügen gebracht haben. Zurück zum Drama von Neros Flucht!

 

Phaons Villa liegt nordwestlich Roms an der ›Via Nementana‹. Das ist ein gefährlicher Fluchtweg, denn südöstlich der ›Porta Nementana‹ (dem zugehörigen Stadttor) liegt das Lager der Prätorianer. Er muss an ihrer Kaserne vorbeireiten. Wehe, ihn erkennt jemand. Doch zum Glück geht ein Gewitter nieder. Ein Blitz schlägt in der Nähe ein. Ob das Pferd scheute, ist nicht überliefert aber wahrscheinlich.

Im Lager selbst ist man, modern ausgedrückt, in Sektlaune. Verwirrende Stimmen dringen in Neros Ohren. Die einen Soldaten verfluchen ihn und wünschen ihm Tod und Verderben an den Leib. Die anderen feiern bereits General Galba als künftigen Kaiser, mit Fug und Recht. Er kam nämlich für kurze Zeit an die Macht … und wurde dann umgebracht.

Jetzt haben Nero und seine vier Begleiter das freie Feld gewonnen und streben nach Nordosten. Von ferne lässt sich Hufgetrappel einer berittenen Mannschaft vernehmen. Bei den damals noch nicht beschlagenen Rössern ist es ein unablässiges ›Plopp-Plopp‹. Ein einsamer Reiter trabt Richtung Rom und damit auf Nero zu. Dass er den Kaiser vor sich hat, bemerkt er nicht. Einer von Neros Begleitern fragt ihn, was das ferne Geräusch zu bedeuten habe; er antwortet:

»Man ist auf der Jagd nach Nero.« 

Der Kaiser hat es jetzt doppelt eilig, aber das Pferd scheut. Wer weiß, wie ihm der von Panik getriebene Reiter zugesetzt hatte. Nero lässt das Tuch vor seinem Gesicht fahren, um sich mit der freien Hand festzuhalten und einen Sturz zu vermeiden. Ein ausgedienter Prätorianer kommt des Weges daher und erkennt ihn. Vermutlich ist es einer von denen, die sich einst kaufen ließen, um ihm den Weg auf den Thron zu ebnen. Er steht stramm und salutiert, um dann eiligst …  

Nero reitet weiter. Man gelangt zu einem so gut wie zugewachsenen Seitenpfad, einem Schleichweg zur Villa des Pháon. Die Reiter springen von den Rössern (Steigbügel gab es noch nicht) und überlassen sie sich selber, um sich durch die Büsche zu schlagen.  

Schließlich bessert sich der Zustand des Weges, aber Neros nackte Füße bluten. Man breitet Tücher vor ihm aus, über die er vorankommt, bis es dem Trupp gelingt, die Rückseite des Hauses zu erreichen, während die eigentliche Zufahrt an ihrer Abzweigung von der genannten Straße bereits von Häschern blockiert wird. Nicht einmal durchs vordere Portal ins Gebäude zu gehen, wagt man noch. 

Pháon fordert den Kaiser auf, sich in einer sandigen Mulde zu verstecken. Nero weigert sich, lebend in dieses ›Grab‹ hinabzusteigen und fragt seine Genossen, ob sie für ihn nicht einen Gang ins Kellergeschoss graben könnten. Das Gewitter ist abgezogen. Alle fünf Männer sind bis auf die Haut durchnässt. Nero ist durstig. Er schöpft mit der hohlen Hand Wasser aus einer schlammigen Pfütze. Am Vortag hatte er noch den besten Wein des Reiches gebechert.

Inzwischen haben seine Freunde ein Loch in den Keller freigelegt. Die frisch gegrabene Öffnung gähnt Nero entgegen. Ob seine Kumpels sie mit bloßen Händen gegraben haben? In seinen von Dornen halb zerrissenen Mantel gewickelt, kriecht er auf allen Vieren hindurch und gelangt in eine erbärmliche Kammer. Immerhin steht dort eine ausgemusterte Liege. Er lässt sich drauf fallen und deckt sich mit dem schmutzstarrenden Mantel zu.

Man bietet ihm Speis und Trank an. Halb verhungert setzt er sich auf, weigert sich aber, dieses alte grobe Brot zu essen. Naturgemäß ist er an feinstes Weißbrot gewöhnt. Das angebotene Wasser hingegen kübelt er sich in den Schlund. Nach der dramatischen Flucht dürfte ihn brennender Durst foltern. Doch was jetzt?

Seine letzten Freunde machen ihn darauf aufmerksam, dass trotz vorerst gelungener Flucht alles verloren ist. Als einziger Ausweg vor einem Ende in Schimpf und Schande, so sie, bleibe nur der Suizid übrig.

---ENDE DER LESEPROBE---