Kaleidoskopische Dialektik - Boike Rehbein - E-Book

Kaleidoskopische Dialektik E-Book

Boike Rehbein

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  • Herausgeber: UVK
  • Kategorie: Bildung
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

In der globalisierten, multizentrischen Welt des 21. Jahrhunderts muss die gewohnte europäische Sicht auf die Welt revidiert werden. Boike Rehbein untersucht die Theorie der Sozialwissenschaften auf ihre Tragfähigkeit in der multizentrischen Welt und stellt im Anschluss daran eine neue kritische Theorie vor. Die Revision der kritischen Theorie stützt sich einerseits auf eine Lektüre der Klassiker und andererseits auf die von Poststrukturalismus über Postkolonialismus bis zur Theorie aus dem globalen Süden vorgebrachte Kritik an ihnen. Der Ausgangspunkt der Revision besteht im Argument, dass die Rückkehr der multizentrischen Welt die Auflösung zahlreicher Aporien ermöglicht, in die sich die kritische Theorie sowie die eurozentrischen Sozialwissenschaften insgesamt verstrickt haben. Boike Rehbein schlägt eine Auflösung in Gestalt einer 'kaleidoskopischen Dialektik' vor. Diese Form der Dialektik überwindet die Dichotomie zwischen Universalismus und Relativismus durch eine Wissenschaftstheorie von Konfigurationen, die in eine Ethik des Verstehens, der Verständigung und des Lernens eingebettet und mit sozialwissenschaftlicher Kritik verknüpft wird.

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[1]Boike Rehbein

Kaleidoskopische Dialektik

[2][3]Boike Rehbein

Kaleidoskopische Dialektik

Kritische Theorie nach dem Aufstieg des globalen Südens

UVK Verlagsgesellschaft Konstanz · München

[4]Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-86496-028-4

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

Jede Verwertung außer halb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne

Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.

Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die

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Dieses eBook ist zitierfähig. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass die Seitenangaben der Druckausgabe des Titels in den Text integriert wurden. Sie finden diese in eckigen Klammern dort, wo die jeweilige Druckseite beginnt. Die Position kann in Einzelfällen inmitten eines Wortes liegen, wenn der Seitenumbruch in der gedruckten Ausgabe ebenfalls genau an dieser Stelle liegt. Es handelt sich dabei nicht um einen Fehler.

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2013

Einbandgestaltung: Susanne Fuellhaas, Konstanz

Einbandfoto: © Getty Images

UVK Verlagsgesellschaft mbH

Schützenstr. 24 · D-78462 Konstanz

Tel.: 07531-9053-0 · Fax: 07531-9053-98

www.uvk.de

eBook-Herstellung und Auslieferung: Brockhaus Commission, Kornwestheimwww.brocom.de

[5]Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Die neue Ausgangslage

1 Eurozentrische Theorie

1.1 Erklären

1.2 Verstehen

1.3 Dialektik

2 Kaleidoskopische Dialektik

2.1 Konfigurationen

2.2 Globale Hermeneutik

2.3 Dialektische Kritik

Ausblick

Literatur

Namenregister

[6][7]Vorwort

Das Buch reflektiert die Konsequenzen der Globalisierung für die Philosophie und die Grundlagen der Sozialwissenschaften. Ausgehend von der Diagnose, dass heute keine Gesellschaft oder Tradition mehr vorgeben kann, im alleinigen Besitz der Weisheit zu sein, betrachtet es die Rückkehr der multizentrischen Welt als eine einzigartige Chance, blinde Flecken und unhinterfragte Voraussetzungen unserer eurozentrischen Sozialwissenschaften einer Kritik zu unterziehen. Da sich die Sozialwissenschaften etwa zeitgleich mit der euroamerikanischen Weltherrschaft entwickelten und somit die eurozentrische Perspektive nahe liegen musste, war eine Reflexion auf ihre blinden Flecken und Voraussetzungen bislang kaum möglich. Ich argumentiere, dass die Reflexion den Horizont für eine zugleich angemessenere und umfassendere Sozialwissenschaft öffnet. Nach einer Kritik der eurozentrischen Wissenschaftstheorie im ersten Teil des Buches stelle ich im zweiten Teil eine alternative Theorie vor, die ich als kaleidoskopische Dialektik bezeichne.

Die kaleidoskopische Dialektik zieht wie jede kritische Theorie die Konsequenz daraus, dass die Sozialwissenschaften auf komplexe Weise in ihren Gegenstandsbereich verstrickt sind. Die Analyse der Verstrickung erweist ein spezifisches Verhältnis zwischen Erkenntnistheorie, Ethik und Kritik, dessen Klärung die zentrale Aufgabe des Buches darstellt. Eine kaleidoskopische Erkenntnis zielt auf empirisch fundierte Konfigurationen ab, die sich im Bereich des Besonderen bewegen, Relationen bestimmen und relativ zum Gegenstandsbereich bleiben. Jede sozialwissenschaftliche Konfiguration muss ein Verstehen beinhalten, das sich nicht nur auf Gegenstände und Handlungen richtet, sondern auch das Dasein einbezieht. Das spezifische Verhältnis von Wissenschaft und Gegenstand führt in einen dialektischen Prozess von Verstehen, Verständigung und Lernen. Dieser Prozess zielt auf eine Vermehrung und Verbesserung der Seinsmöglichkeiten ab. Da jede Sozialwissenschaft notwendiger Weise normative Folgen und gesellschaftliche Auswirkungen hat, muss sie ihre soziale Position kritisch reflektieren. Die Reflexion auf die Folgen beinhaltet auch einen normativen Maßstab für den Gegenstand. In Bezug auf [8]jede Konfiguration ist zu prüfen, ob in ihr das gesellschaftlich für richtig gehaltene Dasein verwirklicht ist. Die Frage wird relativ zur jeweiligen Konfiguration, also zum jeweiligen sozialen Bezugssystem, gestellt und beantwortet. Die Antwort beinhaltet einen hermeneutischen Zirkel von empirischer Forschung, Verstehen, Verständigung, Reflexion und Kritik, in den möglichst viele und andere Lebensformen einbezogen werden.

Einige der im Buch ausgeführten Gedanken habe ich in zahlreichen Vorträgen dargestellt oder angerissen. Von der im Anschluss geäußerten Kritik habe ich viel gelernt. Das Manuskript konnte ich dadurch zweifellos stark verbessern. Besonders intensive und für mich fruchtbare Diskussionen haben sich in Bangkok, Berlin, Delhi, Kassel, Linz, Mendoza (Argentinien), Santiago de Chile und Worcester (Massachusetts) entwickelt. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie den Organisatoren der Vorträge fühle ich mich zu Dank verpflichtet. Ich danke auch ganz herzlich den Personen, die das gesamte Manuskript des Buches gelesen und kritisch kommentiert haben: Klaus Eder, Gerhard Fröhlich, Gernot Saalmann, Hermann Schwengel, Martin Seeh und Jessé Souza. Ferner danke ich den Teilnehmerinnen und Teilnehmern meines Seminars im Sommersemester 2012, das sich mit der Argumentation des Buches befasste. Schließlich habe ich von schriftlich formulierter Kritik profitiert, insbesondere von Ercüment Çelik et al. (2011) und von Tamer Söyler (auf Türkisch veröffentlicht in felsefe talismaleri, Nr. 47, 2011).

Auf einige Kritikpunkte konnte ich im Manuskript reagieren, indem ich meinen eigenen Gedankengang verbessert habe. Manche Kritikpunkte beruhen auf Missverständnissen, die oft fruchtbar sind und mich lediglich zu einer deutlicheren Formulierung meiner Thesen veranlasst haben. Auf drei Kritikpunkte konnte ich nicht befriedigend antworten. Sie scheinen mir auch noch die hier vorliegende Version des Manuskripts zu treffen. Erstens entspricht die Darstellungsform selbst zu wenig dem Konzept des Kaleidoskops. Sie folgt zu sehr der eindimensionalen wissenschaftlichen Prosa. Zweitens müssten am Buch mehrere Autorinnen und Autoren beteiligt sein. Ein Monolog widerspricht der Intention des Kaleidoskops. Drittens bleibt das Verhältnis zwischen einer Kritik der Macht und einer Kritik der Erkenntnis letztlich unklar. Ich interpretiere die Kritikpunkte als Aufgabe und hoffe auf weitere Kritik.

Berlin, im September 2012

[9]Die neue Ausgangslage

Wenn Philosophie „die Zeit in Gedanken gefasst“ ist, wie Hegel schrieb, dann eröffnet unsere Gegenwart dem Denken ganz neue Horizonte. Eine 200 Jahre währende euro-amerikanische Weltherrschaft und eine 2500 Jahre alte eurozentrische Tradition des Denkens werden durch den Aufstieg neuer Mächte herausgefordert.1 Die multizentrische Welt, die in den meisten Perioden der Geschichte vorherrschte, ist mit dem Wiederaufstieg Chinas und Indiens sowie dem Aufstieg neuer Zentren wie São Paulo, Johannesburg, Teheran, Abu Dhabi und Singapur zurückgekehrt. In der multizentrischen Welt ist es nicht mehr möglich, aus Arroganz und Ignoranz auf den Voraussetzungen der je eigenen Tradition zu beharren. Das gilt auch für die eurozentrische Tradition, die sich bislang für universal gehalten hat. Zu deutlich hat die postkoloniale Kritik die Blindheit der eurozentrischen Tradition für koloniale und andere hegemoniale Strukturen – im Denken und in der Wirklichkeit – aufgewiesen. Zu stark ist die ökonomische und politische Kraft Chinas oder Indiens, den Ansprüchen ihrer eigenen Traditionen Nachdruck zu verleihen. Zu offensichtlich sind die Aporien einer ausschließlich auf sich selbst bezogenen Tradition eurozentrischer Wissenschaft geworden.

Daraus erwächst die Möglichkeit, zum ersten Mal den ethnozentrischen Käfig, in dem bislang jedes sich philosophisch nennende Denken gefangen war, ernsthaft zu verlassen. Dieses Buch schlägt eine Lösung für einige philosophische und wissenschaftstheoretische Probleme vor, die innerhalb des ethnozentrischen Käfigs unlösbar blieben. Über alle politischen und strategischen Erwägungen hinaus eröffnet die neue Ausgangslage einen neuen Horizont für die Erkenntnistheorie und die Ethik. Ich argumentiere, dass der „Westen“ [10]einen großen Fortschritt machen kann, wenn er seine unhinterfragten Voraussetzungen mit den Ansätzen des „Südens“ konfrontiert.2 Das Ziel besteht darin, die eurozentrische Erkenntnistheorie und Ethik so zu transformieren, dass sie für diejenigen anschlussfähig sind, die aus den Traditionen anderer Zentren auszubrechen suchen. Man könnte das Vorhaben auch von anderen Traditionen ausgehend verfolgen, aber als Europäer bleibt mir nur dieser Weg.

Das Buch konzentriert sich aus drei Gründen auf die Sozialwissenschaften. Erstens müssen die Sozialwissenschaften zum Teil die Aufgabe der Philosophie übernehmen, die Neuordnung der sozialen Welt zu reflektieren, denn diese ist ihr disziplinärer Gegenstand. Zweitens gehörte die Dichotomie von Natur- und Humanwissenschaften zum Kernbestand der eurozentrischen Tradition. Sei es bewusst und affirmativ, sei es unbewusst oder kritisch, stets galt das naturwissenschaftliche Paradigma, insbesondere in seiner mechanistischen Variante, als Inbegriff von Wissenschaft. Die Abkehr von diesem Paradigma macht meines Erachtens eine angemessene Sozialwissenschaft erst möglich. Drittens bringt die Fokussierung eine Schärfe in der Argumentation mit sich, die in einer Generalkritik verloren ginge. Die Konzentration auf die Sozialwissenschaften in diesem Buch soll dazu führen, die Probleme der eurozentrischen Tradition weitaus genauer und deutlicher zu fassen, als das in einer Generalkritik möglich wäre.

Das zentrale Problem, das der hier vorgeschlagene Ansatz zu lösen versucht, ist der Widerstreit zwischen Relativismus und Universalismus – in Erkenntnistheorie und Ethik. Durch die scharfe und unablässige Kritik ist der Universalismus derart diskreditiert, dass er nur noch durch Ausblendung ernsthafter Schwierigkeiten oder in sehr schwacher Form zu halten ist. Die verschiedenen Post-ismen, wie Poststrukturalismus, Postmoderne und Postkolonialismus, haben gezeigt, dass der Universalismus eine göttliche Allwissenheit voraussetzt, die heute nicht mehr plausibel wirkt, oder in einen Zirkel führt, indem er sich selbst als universal begründen muss. Mit der Rückkehr der multizentrischen [11]Welt wirkt der Universalismus auch in politischer Hinsicht auf eine chauvinistische Art veraltet. Die Destruktion des Universalismus hinterlässt nun einen Relativismus, der nicht nur in einen Selbstwiderspruch führt, indem alles außer der Relativität selbst relativ sein soll, sondern auch keine Orientierung in Erkenntnistheorie und Ethik zu liefern vermag. Die postmoderne Beliebigkeit durchdringt die Bereiche der Gesellschaft, die sich dem Universalismus zu entziehen suchen. So lange der Widerstreit zwischen Universalismus und Relativismus nur aus der eurozentrischen Tradition heraus bearbeitet werden konnte, musste er in eine Aporie führen. Die neue Ausgangslage der multizentrischen Welt eröffnet eine Lösung des Problems, die ich als kaleidoskopisch bezeichnen möchte.

Der Kern des kaleidoskopischen Ansatzes besteht darin, Unvereinbares zu verknüpfen, Relatives in Relation zueinander zu setzen und zum ersten Mal einen mit Recht als hermeneutisch zu bezeichnenden Prozess in Gang zu bringen. Die Relativismen schließen sich gegeneinander ab und beharren auf ihrer Singularität, obwohl sie faktisch in Relation zu zahlreichen anderen Positionen stehen. Die Relationen gilt es klar herauszuarbeiten, anstatt sie zu leugnen. Wie die Relationen zu verstehen sind, ist ein Gegenstand dieses Buches. Der relationale Blick wird einige der ungelösten Probleme der eurozentrischen Tradition in den Hintergrund treten lassen, wenn nicht gar als Scheinprobleme erweisen. Die miteinander verwandten Dichotomien von Induktion und Deduktion, Allgemeinem und Einzelnem, Subjekt und Objekt verschwinden zugunsten gradueller Unterschiede. Die Extremformen, die in den Dichotomien vorausgesetzt werden, gibt es nicht, außer in gegenstandslosen Formalsprachen und leeren Abstraktionen. An ihre Stelle tritt ein dialektisch zu interpretierendes Kaleidoskop.

Die Dichotomie von Universalismus und Relativismus ergibt sich aus der Norm der Allwissenheit, an der sich die eurozentrische Tradition orientierte. Man ging davon aus, Erkenntnis auf unbezweifelbare Grundlagen stützen zu müssen und zu können, um die eine mit sich selbst identische und widerspruchsfreie Wahrheit zu erkennen. Die Vorstellung ist sicher insofern richtig, als Gedanken und Aussagen wahrer oder falscher sind. Sie ist jedoch insofern vollkommen abwegig, als aufeinander nicht reduzierbare und miteinander nicht kompatible Theorien existieren. Hegel hat das Problem klar erkannt und dahingehend gelöst, dass der Durchgang durch alle Theorien ihre Einseitigkeit erweisen und am Ende zu ihrer Aufhebung in einer Theorie aller Theorien [12]führen sollte. Hegel ging jedoch weiterhin davon aus, dass die Welt eine einheitliche Totalität sei, die aus einer einzigen objektiven Perspektive erkennbar ist. Damit nahm Hegel für sich die Perspektive der Allwissenheit in Anspruch und löste sich aus den gesellschaftlichen und historischen Relationen.

In Opposition zu Hegel standen die objektivistischen Ansätze, die sich mit dem perspektivischen Charakter von Erkenntnis gar nicht beschäftigten. Es ist zweifellos möglich, eine rein deskriptive Theorie der Gesellschaft im Sinne eines Modells zu konstruieren, aber diese Konstruktion wäre weder begründbar noch reflektiert. Sie wäre nur unter Vernachlässigung einer Reihe von Faktoren wissenschaftlich. Die Wissenschaftlerin oder der Wissenschaftler entnimmt alle Begriffe, Methoden, Theorien und Ziele einer vorgefundenen, gesellschaftlichen Tradition. Ferner muss der Sinn verstanden werden, den der Gegenstand sich selbst gibt. Schließlich beeinflusst die wissenschaftliche Tätigkeit den Gegenstand und ändert ihn dadurch, ja am Ende kann der Gegenstand die wissenschaftliche Tätigkeit kritisieren oder gar eine eigene Theorie vorschlagen. Die Geltung sozialwissenschaftlicher Theorien kann weder objektiv noch konstruktivistisch begründet werden, sondern bleibt immer relativ zu Geschichte und Gesellschaft. Der Anspruch auf Wertfreiheit muss daher ersetzt werden durch eine komplexe, aber vollkommen durchsichtig zu machende Schichtung von Abhängigkeiten, deren Angelpunkt die Grundidee der kritischen Theorie bleibt, nämlich die Idee eines besseren Lebens.

Aus der Idee folgen allerdings keine Normen und wissenschaftlichen Sätze, sondern sie dient als Maßstab der Kritik. Die Kritik muss die mehrfache, relationale Verstrickung von Sozialwissenschaft und Gesellschaft einbeziehen. Habermas hat der Komplexität des Problems Rechnung getragen und durch die Forderung eines Konsenses über die Maßstäbe von Sozialwissenschaft aufzulösen gesucht. Durch diese Forderung vereinfachte er die komplexe Lage der Sozialwissenschaften wieder. Die Möglichkeit des Konsenses begründete er durch eine Gesellschaftstheorie. Damit setzte er eine einheitliche Erzählung der Geschichte, einen universalistischen Wahrheitsbegriff und letztlich eine objektive Geltung seiner eigenen Interpretation voraus. Diese Voraussetzungen werden mit dem Aufstieg des globalen Südens hinfällig. Der Aufstieg macht eine Reinterpretation der eurozentrischen Geschichten, einen neuen Wahrheitsbegriff und die Relationierung der eigenen Perspektive erforderlich. Die Theorie der Sozialwissenschaften wird zu einer Theorie des Lernens, in der Verstehen, Verständigung, Erklären, Kritik und die Idee des besseren Lebens [13]zu einer Dialektik zusammengefügt werden, die ich als kaleidoskopisch bezeichne.

Im ersten Teil des Buches werde ich einige wichtige Punkte der innereuropäischen Diskussionen über die Theorie der Sozialwissenschaften zusammenfassen, um im zweiten Teil einen Ansatz vorzustellen, der die Ergebnisse der Diskussionen aufnimmt und für eine neue, im Horizont globale Theorie anschlussfähig macht. In jedem Teil wird von der formalen Struktur von Wissenschaft ausgegangen, dann das Subjekt und schließlich seine gesellschaftliche Verstrickung eingeführt.

Eine genauere Zusammenfassung der Argumentation soll in diesem hinführenden Kapitel nicht gegeben werden, denn die Darstellung ist dialektisch. Sie entwickelt den Gedanken, indem sie das zuvor Gesagte als unzureichend erweist und ergänzt, aber gleichzeitig voraussetzt. Dadurch kommt es zu Wiederholungen, die beim Lesen möglicherweise störend wirken. Sie sind jedoch in einem dialektischen Verfahren notwendig, weil ein identischer Gehalt jedes Mal in anderem Licht erscheint, wenn die dialektische Entwicklung des Gedankens fortgeschritten ist und eine andere Perspektive eingenommen wird.

Dennoch ist die Darstellung nicht im herkömmlichen Sinne dialektisch, weil sie weder einen klaren Ausgangspunkt noch ein klares Ziel kennt. Ferner gibt das Buch nicht vor, den Gegenstand vollständig und abschließend zu behandeln, obwohl der Anspruch auf Systematik bestehen bleibt. Das ist mit der Form des Kaleidoskops gemeint. Das Kaleidoskop soll offen und anschlussfähig sein. Die Form des Aphorismus ist ein Schritt in diese Richtung. Bei Nietzsche bleibt der Aphorismus unsystematisch. Seine Aphorismen bilden kein Kaleidoskop, sondern eine Ansammlung. Der Beginn von Wittgensteins Philosophischen Untersuchungen kommt der gesuchten Form schon näher, weil er keine Vollständigkeit vorgaukelt, aber dennoch die Relationen zwischen den Gedanken zu verdeutlichen sucht. An dieser Darstellungsform orientiert sich das Buch.

Das Ende der eurozentrischen Welt

Alle Europäer, aber auch die meisten anderen Menschen lernen folgendes Bild der Geschichte in der Schule: Nach dem Verlassen der tierischen Welt durchstreifte der Mensch die Steppen, um nach endlosen Zeiten fehlenden Wandels in mehreren Regionen der Welt sesshaft zu werden. Wenige Jahrtausende später [14]entstand in Mesopotamien und Ägypten die Zivilisation, die von Griechenland und Rom aufgenommen und zu einer ersten Blüte entfaltet wurde. Im dunklen Mittelalter dominierte kurzzeitig der Islam auf der Basis griechischer Wissenschaft, bevor sich Europa über die Welt ausbreitete und mit Aufklärung, Moderne, Kapitalismus und Demokratie die eigentliche Blüte der Zivilisation hervorbrachte. Diese Auffassung der Geschichte zeichnet eine einzige, einheitliche Erzählung nach, die unsere eigene, europäische Vorgeschichte ist. Hegel hat sie vollkommen klar und überzeugend entwickelt. Bis in unsere Gegenwart wird sie wiederholt.

Dieses Geschichtsbild konstruiert die Erzählung auf ein Ziel hin, nämlich die von Europa oder den USA beherrschte Gegenwart oder nahe Zukunft. Seit Kant und Hegel wird das je gegenwärtige Europa als Höhepunkt und Erfüllung einer Evolution interpretiert (Hegel 1986, Band 12). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts traten die USA an die Stelle Europas, bedienten sich aber genau derselben Erzählung und Tradition (Fukuyama 1992). Nichteuropäische Gesellschaften wurden als unterentwickelt gezeichnet und sollten einem früheren Stadium der Geschichte entsprechen. Marx (1953, MEW 13: 615ff) zufolge herrschten in Asien orientalische Despotien über Gesellschaften mit asiatischer Produktionsweise und Subsistenzwirtschaft. Laut Weber (1978) hätten die asiatischen Gesellschaften von sich aus nie eine modernisierende Dynamik erzeugen können, weil ihnen die spezifischen Voraussetzungen Europas fehlten. Worin diese Voraussetzungen bestanden, war ein vorrangiger Gegenstand und Streitpunkt der eurozentrischen Sozialwissenschaften. Der zurückgebliebene Charakter der außereuropäischen Welt bis zur Moderne stand dagegen nicht zur Debatte.

Die ethnozentrische und teleologische Auffassung der Geschichte musste sich Hegel, Marx, Weber und Fukuyama aufdrängen. Denn faktisch haben Westeuropa und die USA die Welt im 19. und 20. Jahrhundert beherrscht. Um 1800 begannen Englands Wirtschaftsdaten die chinesischen zu überholen, 1914 waren 84,4 Prozent der Erdoberfläche unter der Herrschaft westlicher Mächte (Nederveen Pieterse 1989: 179), und 1989 verblieben die USA nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als einzige Supermacht. Die herrschenden Mächte zeichneten sich unter anderem durch einen großen technologischen Vorsprung, ein überproportional hohes Bruttosozialprodukt, überlegene Streitkräfte, Kapitalismus und Demokratie aus. Es lag nahe, sie als entwickelt und andere Weltregionen als unterentwickelt zu betrachten. Ebenso selbstverständlich [15]war die Ausrichtung der Geschichte auf die „entwickelten“ Gesellschaften hin.

Die eurozentrische Auffassung der Geschichte ist in den letzten Jahren vollkommen dekonstruiert worden (z.B. Frank 1998; Chakrabarty 2000; Uberoi 2002; Reuter/Villa 2010; vgl. schon Panikkar 1955). Sie lässt sich heute weder für die Gegenwart noch für die vorkoloniale Vergangenheit aufrechterhalten. Die neuere empirische Forschung zeigt, dass während der letzten drei Jahrtausende eine multizentrische Welt vorherrschte, in der asiatische Gesellschaften ein leichtes Übergewicht besaßen (Pomeranz 2000). Der Aufstieg Europas wirkt aus der Perspektive des 16. wie aus der des 21. Jahrhunderts wie ein kurzes Intermezzo (Hobson 2004). Die beiden Aufstiegsphasen Europas in der Antike und der Neuzeit bedienten sich des innerasiatischen Handels und wären unabhängig von ihm kaum möglich gewesen. Vor der Antike bündelten sich die Zentren der Welt im Vorderen Orient und in Ägypten (McNeill 1963: 249). Nach dem Zerfall des Römischen Reiches bildete das Dreieck zwischen arabischer Halbinsel, China und Indien bis zum europäischen Aufstieg den Kern des Welthandels (Hodgson 1993: 17ff). Bis 1750 hatte China ein höheres Pro-Kopf-Einkommen als England (vgl. Bairoch 1993: 106), bis 1850 ein größeres Bruttosozialprodukt und bis 1860 einen größeren Anteil an der Weltproduktion (Hobson 2004: 73ff).

Es ist bekannt, dass die Erfindungen, die Francis Bacon für die drei größten der Menschheit hielt, zuerst in China gemacht wurden: der Buchdruck, das Schießpulver und der Kompass. Unsere eurozentrische Geschichtsschreibung gründen wir auf das Vorurteil, in China habe man die Erfindungen nur spielerisch und nicht ökonomisch genutzt. Tatsächlich gab es in China Bomben, Feuerwaffen und Raketen, Papiergeld, Einkommensteuer und landwirtschaftliche Subventionen schon vor dem 14. Jahrhundert, als Europa im Tiefschlaf lag (Franke/Trauzettel 1971: 194). Neben China hatten Indien und Südostasien die wirtschaftliche Bedeutung, die sie heute zurückgewinnen. Indischer Stahl war bis ins 19. Jahrhundert besser und billiger als der englische, die indischen Textilien wurden in die gesamte östliche Halbkugel verschifft, das Finanzwesen war in Indien entwickelter als in Europa (Hobson 2004). Indien und China bezogen ihre Rohstoffe zu einem großen Teil aus Südostasien. Alle Einheiten des „mittelalterlichen Weltsystems“ produzierten einen Überschuss, was eine effiziente Produktionsweise voraussetzte (Abu-Lughod 1989: 8). Das Gleiche gilt für das Weltsystem vor dem Aufstieg Griechenlands (Heinz 2009: 56ff).

[16]Die Europäer konnten sich vom 16. Jahrhundert an den Bedarf Asiens nach Edelmetallen zunutze machen, die sie aus Süd- und Mittelamerika nach Asien brachten, um sie dort gegen Waren einzutauschen (Reid 1996). Ferner ermöglichten ihnen der Sklavenhandel und die militärische Besetzung asiatischer Gebiete Möglichkeiten, die den Konkurrenten verwehrt blieben (Abu-Lughod 1989: 365). Der dann folgende Aufstieg des europäischen Handels korrespondierte mit einer relativen Schwäche Asiens. Europa rückte langsam ins Zentrum der Welt. Erst nach der spezifischen Entwicklung Europas und seiner globalen Vorherrschaft konnte sich die europäische Zivilisation als Modell für den Rest der Welt etablieren (Arnason 2003). Es war keine Fantasterei mehr, eine ethnozentrische Geschichte mit dem Ziel des aufgeklärten Europas zu schreiben. Vielmehr war Europa nun in der Lage, dem Rest der Welt mit Gewalt sein Modell aufzuzwingen.

Der Aufstieg der Vereinigten Staaten und der Japans haben die europäische Vorherrschaft bereits relativiert, aber seit dem Aufstieg des globalen Südens ist die Welt ganz zweifellos nicht mehr eurozentrisch oder westlich dominiert. Damit wurde der historische Normalzustand wiederhergestellt (Mahbubani 2008: 49ff). In keinem Fall wird die nahe Zukunft dem Modell der eurozentrischen Geschichtsschreibung entsprechen. Der globale Süden übernimmt in vielen Bereichen die Führung, so dass die These logisch unhaltbar wird, dass er der Entwicklung Europas folgen müsse. Sogar nach den uns gewohnten, im Rahmen des euro-amerikanischen Gesellschaftsmodells entwickelten Parametern ist der Aufstieg des globalen Südens nicht zu leugnen. Die eurozentrische Perspektive bewertet den „Entwicklungsstand“ oder den Rang eines Landes nach Parametern wie Industrialisierung, Handel, Finanzen, Politik, Bildung und Demografie. Bringt man sie in Anschlag, fällt der Unterschied zwischen Norden und Süden gering aus.

Die Industrialisierung des globalen Südens ist auf wenige Zentren beschränkt und wird in vielen Branchen von transnationalen Unternehmen mit Sitz im globalen Norden vorangetrieben, aber die Abwanderung der Produktionsstätten in den globalen Süden ist nicht zu leugnen (Dicken 2011: 26). In vielen Bereichen der Produktion hat China den ersten Platz errungen. Ballungszentren im globalen Süden, die billige Arbeitskraft mit guter Infrastruktur und hinreichender Ausbildung verknüpfen, haben sich zu den Fabriken der Welt entwickelt, während der Anteil Europas und Nordamerikas an der Weltproduktion seit Jahren schrumpft (Nederveen Pieterse 2009: 15ff).

[17]Auch im Welthandel nimmt China zunehmend die führende Position ein. Gleichzeitig stärkt die wachsende Nachfrage nach Rohstoffen die Position der Rohstoffexporteure (Dicken 2011: 247). Die Konstellation im Welthandel hat sich fundamental verändert und entspricht nicht mehr der eurozentrischen Theorie. Die Veränderung der Konstellation ist eng mit einer Neuordnung der Finanzströme verknüpft. Die globalen Geldreserven lagern jetzt in Beijing, Caracas und Abu Dhabi, nicht mehr in Washington (Prestowitz 2005). Das Vertrauen in die neoliberale Ordnung ist ebenso erschüttert wie die finanzielle Basis des westlichen Kapitalismus. Das bedeutet das Ende eines internationalen Finanzsystems, das von IWF und Weltbank (und somit den USA) reguliert wird. In den letzten Jahren hat sich darüber hinaus die politische Landkarte verändert (Harris 2005). Die Süd-Süd-Kooperation findet häufig ohne Beteiligung des globalen Nordens statt, während internationale Vereinbarungen ohne die Zustimmung Beijings und Delhis bedeutungslos sind.

Es ist nicht wahrscheinlich, dass der Aufstieg des globalen Südens ephemer bleibt. Vielmehr lässt seine Bildungsoffensive eine Beschleunigung erwarten. In Indien ist die Lage zwar ambivalent (Kumar 2011), aber insgesamt lässt sich die ökonomische Struktur des globalen Südens nicht mehr als unterentwickelt bezeichnen. China produziert nicht nur Schuhe und Brasilien nicht nur Holz. Ein wachsender Teil der Hochtechnologie verlagert sich in diese Länder (Winters/Yusuf 2007: 12ff). Wachsenden Bildungsausgaben im globalen Süden stehen Kürzungen im Norden gegenüber. Auch die Demografie spricht für ein Anhalten des Aufstiegs. Während die Bevölkerung Deutschlands oder Japans bald zur Hälfte in Rente sein wird, ist nahezu die Hälfte der indischen Bevölkerung unter 18 Jahre alt. Für den globalen Norden reicht es jedoch nicht mehr aus, die arbeitsfähige Bevölkerung quantitativ aufzustocken, sondern angesichts der Abwanderung von Produktion und Handel kann er seinen Vorsprung nur noch auf die Wissensökonomie stützen. Für sie fehlen der eigene Nachwuchs, ausländische Migranten und das Geld.

Es wäre verfehlt, den globalen Süden als einheitlichen Block und als hegemonialen Nachfolger des Nordens zu betrachten. Der Süden hat mit innerer Ungleichheit, administrativer Ineffizienz, landwirtschaftlichen Krisen, politischer Fragmentierung, schwachen Finanzmärkten und Energieknappheit zu kämpfen. Sie schwächen und zersplittern die aufstrebende Welt. Genau diese Probleme suchen allerdings auch den globalen Norden (wieder) heim. Ein Zentrum der amerikanisch dominierten Weltwirtschaft, Flint, Michigan, ist [18]zur Subsistenzwirtschaft zurückgekehrt, in der Land kostenlos an Bauern abgegeben wird und eine lokale Verwaltung nicht mehr existiert (Schindler 2012). Zwar bleibt die militärische Dominanz der USA, die für die Hälfte der globalen Verteidigungsausgaben verantwortlich zeichnen, unbestritten, aber die Herrschaft lag letztlich stets bei dem, der das Militär bezahlen konnte. Heute wird das amerikanische Militär von China und arabischen Ländern finanziert. Die historische Tendenz führt eindeutig von der euro-amerikanischen Vorherrschaft zurück zu einer multizentrischen Welt.

Eurozentrismus und Sozialwissenschaften

Welche Bedeutung hat der Aufstieg des globalen Südens für Erkenntnistheorie und Ethik? Man könnte ihn mit dem Liberalismus als Erfolg der offenen nationalen Marktwirtschaften, mit dem Marxismus als Verschiebung der Klassengegensätze auf die globale Ebene, mit der Modernisierungstheorie als erfolgreiche Entwicklung und mit der Dependenztheorie als die Entstehung neuer Peripherien deuten (Escobar 1995). Damit würde man das Neue in das Bekannte einordnen – und sich ähnlich verhalten, wie es die Bischöfe Galilei gegenüber taten, als sie durch sein Fernrohr nur Schmutzflecken auf der Linse sahen und seine Theorie der Himmelskörper für abwegig hielten. Das Neue lässt sich immer durch Ergänzungen der paradigmatischen Theorie erklären – also durch Epizyklen (vgl. Kuhn 1978).

Wenn man dem Aufstieg des globalen Südens durch leichte Modifikationen der eurozentrischen Theorie zu begegnen sucht (z.B. Giddens 1995: 70f), läuft man Gefahr, noch schneller veraltet zu wirken als seinerzeit die Kirche gegenüber der Naturwissenschaft. Erstens ist Europa faktisch nicht mehr das (alleinige) Zentrum der Welt. Zweitens kann sich eine Sozialwissenschaft heute nicht mehr allein auf die europäische Erfahrung stützen. Drittens ist die europäische Tradition nicht mehr notwendig als die einzige Variante von Erkenntnistheorie und Ethik vorauszusetzen. Wenn die Sozialwissenschaften nicht auf diese neue Ausgangslage reagieren, werden in den neuen Zentren Traditionen entstehen, die der Wirklichkeit angemessener sind und die Debatten in Europa oder Nordamerika ebenso ignorieren, wie sie von ihnen ignoriert werden.3

[19]Der Aufstieg des globalen Südens ist jedoch, wie erwähnt, nicht nur von politischem, sondern auch von wissenschaftstheoretischem Interesse. Denn er überspannt die bislang einzig etablierte und akzeptierte Tradition der Wissenschaft. Er wird die 200 Jahre dauernde Vorherrschaft des globalen Nordens beenden und damit die Sozialwissenschaften entwerten, die den globalen Norden als Paradigma und alleinigen Gegenstand wählten, weil er ihnen ganz offenkundig den Weltgeist oder das Ziel der Geschichte zu verkörpern schien. Wenn die Gesellschaft durch ihre entwickeltste Erscheinungsform erklärt wird, so kann die Erklärung nicht mehr Europa als paradigmatisch betrachten. China hat nach vielen Kriterien, nach denen wir aus eurozentrischer Perspektive Entwicklung bewerten, die Führungsrolle errungen. Wer Modernisierungstheorie oder Dependenztheorie, Marxismus oder Liberalismus betreibt, muss wenigstens den Aufstieg Chinas in logisch konsistenter Weise erklären können.

China ersetzt jedoch nicht einfach die USA als globale Supermacht. Der chinesische Staat hat eine andere Agenda als der europäische, und Indien hat andere Prioritäten als Nordamerika. Die Unterschiede beeinflussen die internationale Politik. Sie führen nicht nur dazu, dass sich China, Indien, Europa und Nordamerika nicht leicht über ein Problem einigen können, sondern auch dazu, dass schon das Verständnis von Politik und vom Politischen kein gemeinsames ist. Die Alleinherrschaft der Partei steht in China nicht zur politischen Debatte (vgl. Heberer 2008). Damit unterscheiden sich auch die Gegenstände einer Sozialwissenschaft Chinas, Indiens und Europas. Es ist nicht einmal klar, ob es unter diesen Bedingungen ein gemeinsames Paradigma der Sozialwissenschaften geben kann. Geht es in Europa – vielleicht – um Wachstum, so könnte es in China eher um Stabilität und in Indien eher um Identität gehen. Die jeweilige Perspektive hat ein je spezifisches Paradigma zufolge. Eine globale Sozialwissenschaft müsste zumindest in der Lage sein, diese Paradigmen zu reflektieren und zu integrieren. Sie einfach auf die europäische Perspektive zu reduzieren, reicht nicht mehr aus.

Es ist sicher richtig, dass die europäische Zivilisation, das europäische Gesellschaftsmodell und die europäische Wissenschaft sich durch zwei Jahrhunderte europäischer und amerikanischer Weltherrschaft über den gesamten [20]Globus ausgebreitet haben. Daraus folgt jedoch nicht, dass es nur noch eine einzige homogene Weltgesellschaft nach europäischem oder amerikanischem Modell gibt (Stichweh 2000; Hardt/Negri 2000). Die Gesellschaften des globalen Südens basieren immer noch auf nicht-europäischen Traditionen. Gleichzeitig konstruieren und rekonstruieren sie eigene Formen von Kultur und Gesellschaft, indem sie beispielsweise Kapitalismus ohne Demokratie oder Demokratie ohne freien Wettbewerb einführen. Tatsächlich werden die scheinbar universalen Modelle so transformiert, dass sie mit den nicht-europäischen Traditionen kompatibel sind. Nun kommt hinzu, dass die Gesellschaften des globalen Südens auf immer mehr Gebieten Neuland betreten, das Europäer und Amerikaner noch nicht erreicht haben, weil sie die Entwicklung nicht mehr in allen Gebieten anführen.

Wenn Moderne das „kulturelle Programm“ des globalen Nordens ist und Industrialisierung, Kapitalismus, Demokratie sowie Differenzierung umfasst, dann gibt es nur eine Moderne, nämlich die des globalen Nordens. Die anderen Regionen modernisieren sich aus dieser Perspektive nicht, sondern sie übernehmen einen Großteil der nördlichen Technologie und Wissenschaft, viele Institutionen und die ökonomische Denkweise. Da sie dabei selektiv verfahren und einen Teil ihres eigenen kulturellen Programms beibehalten, hat Eisenstadt (2000) von „multiplen Modernen“ gesprochen. Wenn jedoch wirklich jede Gesellschaft eine eigene Moderne hat, weisen die Modernen allenfalls Familienähnlichkeiten, aber nicht wie Eisenstadt zufolge eine gemeinsame spezifische Differenz auf (Gaonkar 2001). Daher ist die Rede von Moderne und Modernisierung entweder unspezifisch, oder sie sollte auf die Phase des Kapitalismus im globalen Norden beschränkt werden.

Obwohl die kulturelle Angleichung rasant fortschreitet, ist es unwahrscheinlich, dass die Weltbevölkerung in eine homogene Masse gut situierter Konsumenten verwandelt wird und dass alle Staaten einander gleichen. Erstens werden lokale Sprachen und Traditionen fortbestehen (Das 1995). Zweitens sind die Umweltbedingungen überall unterschiedlich (Urry 2003: 86). Drittens sind die Gesellschaften des globalen Südens höchst vielfältig und folgen nicht demselben Modell (Rehbein/Schwengel 2012). Viertens nehmen soziale Ungleichheiten eher zu als ab (Milanovic 2005). Und fünftens wird es sicher auch in Zukunft Experimente zur Überwindung des Kapitalismus geben. Der globale Süden könnte sogar mit den Mitteln der europäischen Wissenschaft und Gesellschaft etwas Anderes als der Norden machen.

[21]Die multizentrische Welt ist zurückgekehrt. Es gibt keine paradigmatische Gesellschaftsordnung und keinen paradigmatischen Gegenstand der Sozialwissenschaften mehr. Sie können ihre Theorien nicht mehr ausschließlich auf der Basis der Interpretation westlicher Gesellschaften erarbeiten, sondern müssen Gesellschaften des globalen Südens einbeziehen (Houben/Schrempf 2008). Diese Erweiterung des Gegenstands bedarf vielleicht keiner ausführlichen Begründung mehr, auch wenn die Theoriebildung erst zögerlich auf den globalen Süden ausgedehnt wird. Weitaus problematischer sind die Folgen einer Ausweitung für den Kernbestand der Sozialwissenschaften. Axiome wie auch Binsenweisheiten der Sozialwissenschaften, die seit der Emanzipation der Sozialwissenschaften von der Philosophie zu Beginn des 19. Jahrhunderts den nicht in Frage zu stellenden Kern des Wissens ausmachen, werden plötzlich zweifelhaft. Es ist nicht mehr klar, ob die Grundlagen, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts an allen Universitäten den Studierenden der Sozialwissenschaften vermittelt wurden, weiterhin zum Bestand zählen werden. Allein die Erweiterung des Gegenstands der Sozialwissenschaften könnte eine Erneuerung der Grundlagen erforderlich machen (Sitas 2005).

Sozialwissenschaften nach dem Eurozentrismus

Der Aufstieg des Südens fordert unsere Sozialwissenschaften auf mehrfache Weise heraus, wie Raewyn Connell (2007) überzeugend argumentiert hat: Erstens schafft er neue Gegenstände; plötzlich muss man sich auch mit der Gesellschaft von Indien beschäftigen, für die unsere Theorien so nicht gelten. Zweitens schafft er neue praktische Perspektiven auf die Gesellschaft; Wachstum ist nicht das Maß aller Dinge. Drittens schafft er neue Theorien und wissenschaftliche Ansätze. Viertens schafft er neue Epistemologien. Während ich die ersten Punkte im Folgenden zwar einbeziehe, geht es mir hier doch um den letzten Punkt.

Inder und Chinesen werden sagen, die etablierten Sozialwissenschaften gälten nur für Europa und Nordamerika. Sie werden hinzufügen, der Westen sei nie in allen Belangen Vorreiter und Vorbild der Entwicklung gewesen, in jedem Fall aber spiele er für die Entwicklung Indiens und Chinas eine immer geringere Rolle. Das lässt sich faktisch kaum noch bestreiten. Wir leben längst in einer multizentrischen Welt. Die multizentrische Welt ist keine homogene Welt mit einer Entwicklungslogik mehr, sondern wächst aus sehr heterogenen [22]Zentren zusammen. Jedes Zentrum hat eine eigene Entwicklungslogik und wird besondere Paradigmen entwickeln.

Die multizentrische Ausgangslage fordert die von Hegel bis Gadamer selbstverständliche Erkenntnistheorie als Beschäftigung mit der eigenen Tradition ebenso heraus wie die von Kant bis Habermas selbstverständliche Ethik des Konsenses zwischen aufgeklärten Europäern. In der eurozentrischen Tradition geht es darum, unumstößliche Wahrheiten zu erkennen und wahre Sätze aus ihnen abzuleiten. Aus heutiger Perspektive ist der Glaube an die Möglichkeit unveränderlicher Wahrheiten ebenso befremdlich wie die Fixierung auf dieses Ziel. Das Leben soll geschlossen, das Feld des Möglichen eingeschränkt, Neues auf Bekanntes reduziert werden. Der wissenschaftliche Lernprozess kann heute nicht mehr eine Selbstverständigung der Tradition sein, sondern muss im Gegenteil für Unbekanntes geöffnet werden. Wie aber sollen miteinander unvereinbare Traditionen sich wissenschaftlich und ethisch verständigen? Wie sehen die Kriterien für Wahrheit und Richtigkeit in einer multizentrischen Welt aus? Geht es in einer multizentrischen Welt überhaupt um Wahrheit und Richtigkeit? Können die Ziele europäischer Gesellschaften noch als allgemeingültig vorausgesetzt werden (vgl. Uberoi 2002)? Wie kann eine multikulturelle Praxis aussehen? Diese Fragen verbalisieren die Ausgangslage, auf die das Buch zu reagieren sucht.

Die Situation in der Medizin vermag die Ausgangslage zu illustrieren. An vielen Krankenhäusern der Welt – im Westen wie in Asien – werden Krankheiten im Rahmen unterschiedlicher, einander widersprechender Paradigmen behandelt. Für den Großteil der Symptome ist die westliche Schulmedizin zuständig, aber eine beträchtliche Gruppe von Krankheiten wird den Abteilungen für TCM (Traditionelle Chinesische Medizin) und Ayurveda (klassische indische Medizin) zugeordnet. Auch Homöopathie ist mittlerweile an vielen Kliniken anerkannt. Es ist nicht möglich, die vier Medizinsysteme auf ein gemeinsames Paradigma zurückzuführen, weil ihre Grundlagen einander widersprechen (Sujatha/Abraham 2011). In den Sozialwissenschaften ist man die Existenz einander widersprechender Schulen gewohnt – nicht aber die Existenz einander widersprechender Erkenntnissysteme. Und hierum handelt es sich bei den unterschiedlichen Medizinsystemen (ebd.). Das ist nicht nur für eine bestimmte, historisch zufällig entstandene Theoriekonstruktion oder eine wissenschaftliche Disziplin relevant. In einer multizentrischen Welt kann keine Gesellschaft der anderen ihre Ordnung vorschreiben.

[23]Daraus erwächst das Problem des Relativismus in Erkenntnis und Ethik. Die verschiedenen Post-ismen (Poststrukturalismus, Postmoderne, Postkolonialismus usw.) schlagen schon seit Jahrzehnten einen Relativismus vor. Es soll am Ende beliebig oder eine Angelegenheit persönlicher Entscheidung bleiben, für welche Theorie und für welche Praxis man sich entscheidet. Mit dem Aufstieg des globalen Südens ist dieser Vorschlag keine geistige Übung abgehobener Intellektueller mehr, sondern er ist ein zentrales Thema von Theorie und Praxis.

Nachdem 1989 die sozialistischen Utopien einen schweren Rückschlag erlitten haben, sind seit 2008 auch die liberalen Utopien nur noch eingeschränkt glaubwürdig. Die in diesem Zeitraum entstandene Welt ist mit den alten begrifflichen Mitteln nicht mehr zu fassen. Normative Orientierungen stehen unter dem gleichen Generalverdacht wie wissenschaftliche Systeme, lediglich Rationalisierungen von Ideologie zu sein. Der Verdacht muss ernst genommen werden, aber er kann nicht das letzte Wort sein. Homi Bhabha hat darauf hingewiesen, dass jede Anti-Theorie oder Wissenschaftsfeindlichkeit selber Theorie enthält (2000: 33). Das Ziel kann nicht darin bestehen, die Theorie zu hintergehen. Vielmehr sind die Relationen zwischen Theorie und Anti-Theorie zu untersuchen, anstatt eine unbegründete Position zu beziehen oder beliebige Positionen unverbunden nebeneinander bestehen zu lassen.

Meines Erachtens birgt die gegenwärtige Verwirrung, die aus dem Aufstieg des globalen Südens folgt, eine einzigartige Chance für Erkenntnistheorie und Ethik. Sie ermöglicht es, endlich den hermeneutischen Charakter der Geistesund Sozialwissenschaften wie auch der Praxis anzuerkennen. Ich möchte eine dialektische Lösung jenseits von Relativismus und Universalismus vorschlagen. Die gesellschaftlich-historische Verstrickung muss allen Ernstes als hermeneutische Ausgangslage begriffen werden: Erkenntnis ist nur möglich in einer realen Geschichte und Gesellschaft und kann sich nur der von ihnen hervorgebrachten Mittel bedienen (Hegel 1986, 3; Gadamer 1960). Unter posteurozentrischen Vorzeichen stellt sich diese Ausgangslage jedoch vollkommen anders dar als für die eurozentrische Hermeneutik, weil die Geschichte, auf die sich die Hermeneutik beziehen muss, keine homogene Geschichte mit allgemein geteilten Voraussetzungen mehr ist – wenn sie es denn je war. Adornos Beharren auf der Unüberwindbarkeit von Gesellschaft weist nicht nur mit Recht eine Grenze von Erkenntnis auf, sondern ermöglicht unter Bedingungen der Vielfalt von Gesellschaften die Erkenntnis von zuvor Unbekanntem. Wenn [24]Geschichten und Gesellschaften fundamental unterschiedlich sind, kann die eigene Gesellschaft transzendiert werden. Man kann nicht nur, wie in Gadamers Hermeneutik, Vorhandenes interpretieren, sondern Neues, zuvor Unbekanntes lernen. Eine Hermeneutik wird möglich, die prinzipiell Nichtidentisches umfasst, keine geschlossene Totalität voraussetzt, die Geschichten nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführt und keine Höherentwicklung auf ein bestimmtes Ziel unterstellen muss. Die Hermeneutik muss selbst den Gegensatz von Universalismus und Relativismus überwinden und die Form einer kaleidoskopischen Dialektik annehmen.

Niklas Luhmann (1975: 55) hat schon vor 40 Jahren erkannt, dass die Welt zusammenwächst, indem unterschiedliche Gesellschaften auf mehreren Ebenen miteinander verflochten werden.4 Die heterogene Verflechtung könne eine neue Qualität des Lernens eröffnen, die erkenntnistheoretisch von Bedeutung sei, weil ein Lernen im Rahmen eines durch die Tradition gegebenen Erwartungshorizonts durch ein Lernen unter unsicheren Bedingungen ersetzt werde. Ein „kognitives Lernen“ werde möglich. Das ist genau der Punkt. Allerdings hat Luhmann daraus für seine eigene Theorie keine Konsequenzen gezogen, sondern die Probleme der multizentrischen Welt, des Relativismus und der Hermeneutik durch die Konstruktion eines geschlossenen Begriffssystems zu lösen versucht. Ich werde genau die gegenteilige Strategie verfolgen. Ich gehe von der poststrukturalen, postkolonialen und postmodernen Konstellation aus, die unlösbar mit einer gesellschaftlichen Wirklichkeit verknüpft und nicht in ein homogenes System zu verwandeln ist. Dann verwandelt sich Wissenschaft selbst in jenes „kognitive Lernen“, das Luhmann mit der Weltgesellschaft verknüpft hat, während Erkenntnistheorie und Ethik die Grundlagen dieses Lernens zu klären haben.

Wissenschaft ist weniger, wie Luhmann mit Platon und Hegel vorausgesetzt hat, ein System als ein Prozess. Man sollte Wissenschaft als Praxis auffassen, ähnlich wie Bourdieu (1976) sie zu interpretieren versucht hat. Jede Theorie ist zeitlich, in ihrer Entwicklung nicht umkehrbar, hat immer eine sozial und praktisch begrenzte Geltung, weist eine gewisse Mehrdeutigkeit auf, ist mit anderen Bereichen von Wissenschaft nicht genau deckungsgleich und immer in bestimmte soziokulturelle Kontexte eingebettet (vgl. Saalmann 2012). Allerdings [25]berücksichtigt Bourdieu nicht hinreichend, dass auch die Theorie der Praxis zugleich eine Theorie und eine Praxis ist, also nur eine mögliche Perspektive auf die Praxis ist und die Struktur der Praxis nicht einfach direkt abbildet.

Ich schlage jedoch nicht nur ein wechselseitiges Lernen vor, sondern eine spezifische Form der Hermeneutik. Für die Hermeneutik macht es einen Unterschied, von welcher Tradition man ausgeht, weil das Denken immer relativ zur gewählten Tradition bleibt. Bei Hegel, Marx, der Modernisierungstheorie und dem Objektivismus gibt es hingegen nur ein Gesetz, das für alle historischen Umstände gleichermaßen gilt. Wenn ich hier also von der europäischen Tradition ausgehe, ist das durchaus keine beliebige, durch einen hinreichenden hermeneutischen Zirkel aufzuhebende Entscheidung. Vielmehr erfordert die hermeneutische Reflexion auf die europäische Tradition nicht nur den Einbezug anderer Traditionen, sondern auch eine Selbstkritik und eine Relativierung mit Bezug auf andere Traditionen.

Es wäre sicher verkehrt, die gesamten Sozialwissenschaften zu verurteilen, nur weil sie in Europa entstanden sind. Aber sie müssen eine neue, globale Orientierung entwickeln. Dabei bleiben manche der in Europa entwickelten Theoreme und Begriffe erhalten, weil die entsprechenden sozialen Verhältnisse von Europa über die Welt ausgebreitet wurden und manche der Erkenntnisse allgemein für eine Konfiguration gelten. Überdies haben Europäerinnen und Europäer einige normative Probleme herausgearbeitet, die in anderen Gesellschaften nicht für Probleme gehalten wurden – in einigen Fällen vielleicht mit Recht, in anderen nicht.

Der Ausgang von der europäischen Tradition hat allerdings noch einen weiteren Grund. Noch ist es nicht möglich, die europäische Tradition in andere Traditionen zu integrieren oder aufzuheben. Die europäische Tradition hat sich als vorherrschende etabliert, während andere Traditionen nach der Kolonialzeit entweder rekonstruiert oder ganz neu erfunden werden müssen (vgl. Hountondji 2002). Auch wenn die europäische Tradition überwunden, um Rekonstruktionen anderer Traditionen ergänzt oder in nicht-europäische Traditionen integriert wird, kann sie doch nicht mehr verschwinden. Wie sich alle künftigen Gesellschaften in irgendeiner Weise auf das europäische Modell der Gesellschaft beziehen müssen, weil es sich durch den Kolonialismus über die ganze Welt ausgebreitet hat, so wird Wissenschaft kaum ohne jeden Bezug auf die eurozentrische Tradition auskommen (vgl. Dirlik 2007).

[26]Umgekehrt können die Strömungen des globalen Südens auch dann etwas zur eurozentrischen Tradition beitragen, wenn sie fundamental von ihr beeinflusst sind. Der Beitrag muss zu einer globalen Wissenschaft geleistet werden. Eine koloniale Aneignung reicht ebenso wenig aus wie eine antikoloniale Isolation. Im Anschluss an Farid Alatas (2000) möchte ich mehrere Ebenen unterscheiden, auf denen der Süden Beiträge zur globalen Sozialwissenschaft leisten kann: die Aufarbeitung lokaler Quellen in lokalen Sprachen, der Einbezug lokaler Sichtweisen, die Entwicklung neuer Theorien auf der Basis lokaler Empirie, eine Universalisierung lokaler Theorien (Ausdehnung südlicher Theorien auf den Norden), die Entwicklung neuer Epistemologien und Initiativen für eine neue wissenschaftliche Arbeitsteilung.

Bislang spielte sich Sozialwissenschaft größtenteils in europäischen Sprachen ab. Wenn außereuropäische Gesellschaften berücksichtigt wurden, so geschah das aus europäischer Perspektive. Die Gesellschaften wurden von Europäern in europäischen Sprachen beschrieben und dann auf der Basis eurozentrischer Theorien interpretiert oder erklärt. Die universale Gültigkeit der eurozentrischen Theorien wurde a priori vorausgesetzt. Die erste Ebene einer Revision dieses Ansatzes könnte darin bestehen, die von den Europäern ignorierten oder bestenfalls übersetzten lokalen Quellen (Texte, Diskurse, mündliche Überlieferungen und Äußerungen) in den jeweiligen Lokalsprachen zu interpretieren. Diese Interpretation setzt nicht unbedingt eine eurozentrische Theorie als Interpretationsgrundlage voraus und vermag in linguistischer und semantischer Hinsicht ganz andere Aspekte herauszuarbeiten, als es mittels einer Übersetzung möglich ist (vgl. Gutiérrez-Rodríguez 2010: 52). Im zweiten Teil des Buches werde ich die erkenntnistheoretische Bedeutung einer mehrsprachigen Forschung näher erläutern.

Auf der nächsten Ebene können die lokalen Perspektiven einbezogen werden, die bislang durch die Voraussetzung europäischer Theorie a priori ausgeschlossen waren. Als Interpretationsgrundlage könnte die Sichtweise der lokalen Autorin bzw. des Autors (des Textes, des Diskurses oder der Äußerung) oder die lokale Interpretation gewählt werden. Es kann auch ein hermeneutischer Prozess der Verständigung des Interpreten mit seiner lokalen Tradition nach dem Vorbild Gadamers in Gang gesetzt werden.

Die dritte Ebene könnte der Prozess einer lokalen Theoriebildung sein. Auf der Grundlage lokaler Sichtweisen und lokaler Quellen wären Theorien zu entwickeln, die für den Gegenstand Gültigkeit besitzen. Die Definition des [27]