Die Soziologie Pierre Bourdieus - Boike Rehbein - E-Book

Die Soziologie Pierre Bourdieus E-Book

Boike Rehbein

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Beschreibung

Das Buch zeigt verständlich und anschaulich die Entwicklung der Kerngedanken Pierre Bourdieus. Es untersucht seine wichtigsten Werke und Fragestellungen, von den ersten Schriften über die Situation in Algerien bis hin zur Kritik am Neoliberalismus. Dabei wird vor allem der innere Zusammenhang von Bourdieus Lebenswerk betont, so dass die gemeinsamen Wurzeln seiner Wissenschaftstheorie und seiner empirischen Forschung deutlich werden.

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Seitenzahl: 461

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Dr. Boike Rehbein ist Professor für Gesellschaften Asiens und Afrikas an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bis 2009 war Rehbein Direktor des Global Studies Programm der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Er hatte Gastprofessuren in Bangkok, Buenos Aires, Neu-Delhi, Santiago de Chile, Vientiane und Zürich inne. In Vientiane ist Boike Rehbein maßgeblich am Aufbau der sozialwissenschaftlichen Fakultät der National University of Laos beteiligt.

Online-Angebote oder elektronische Ausgaben sind erhältlich unter www.utb-shop.de.

Bibliografische Information der Deutschen BibliothekDie Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage: 2006

2. Auflage: 2011

3. Auflage: 2016

© UVK Verlagsgesellschaft mbH, Konstanz und München 2016Einbandgestaltung: Atelier Reichert, StuttgartDatenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

UVK Verlagsgesellschaft mbHSchützenstr. 24 • D-78462 KonstanzTel.: 07531-9053-0 • Fax 07531-9053-98www.uvk.deUTB-Band Nr. 2778ISBN 978-3-8252-4700-3 (Print)ISBN 978-3-8463-4700-3 (EPUB)

Hermann Schwengel gewidmet

Inhalt

Einleitung

1 Von der Praxis der Ökonomie zur Ökonomie der Praxis

1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit

1.2 Traditionen

1.3 Der Geist des Kapitalismus

1.4 Ethno-soziologische Methoden

2 Brüche

2.1 Der doppelte Bruch

2.2 Kritik

2.3 Konstruktion des Gegenstands

2.4 Emanzipation

3 Praxis (Grundbegriffe)

3.1 Habitus

3.2 Strategie

3.3 Feld

3.4 Kapital

3.5 Konfigurationen

4 Reproduktion

4.1 Ausbildung

4.2 Wissenschaft

4.3 Frankreichs Eliten

5 Differenz und Distinktion

5.1 Geschmack

5.2 Sozialer Raum

5.3 Klassen

5.4 Klassengeschmack und Klassendynamik

5.5 Zur Methode

6 Symbolische Gewalt

6.1 Sprache

6.2 Zwei Felder der Macht

6.3 Die männliche Herrschaft

7 Eingriffe

7.1 Das Elend der Welt

7.2 Verstehen

7.3 Zurück zur Praxis der Ökonomie

8 Rezeption und Weiterentwicklung

8.1 Der Beginn der Auseinandersetzung

8.2 Die breite Rezeption in der Soziologie

8.3 Scholastik und Weiterentwicklungen

Schluss

Glossar

Literatur

Sach- und Namensregister

Einleitung

Wozu eine weitere Einführung in Bourdieus Soziologie? Dieses Lehrbuch ist keine Einführung. Zum einen ist es für fortgeschrittene Studierende sowie Interessierte gedacht, die bereits etwas von oder über Bourdieu gelesen haben, sich weiter in seine Soziologie vertiefen möchten und vielleicht mit ihren Mitteln arbeiten wollen. Zum anderen liefert das Buch keinen Überblick über alle Werke und Gedanken Bourdieus, sondern sucht die Entwicklung des Kerns seiner Soziologie nachzuzeichnen. Ein Buch für diese Zielgruppe und mit dieser Zielsetzung gibt es meines Wissens noch nicht, zumindest nicht in deutscher Sprache. Ich hoffe, den inneren Zusammenhang der Werke und Gedanken Bourdieus aufzeigen zu können. Ferner möchte ich zur Lektüre Bourdieus anregen. Schließlich und vor allem soll das Buch dazu auffordern, mit Bourdieu zu forschen und zu denken.

Zwei Gründe rechtfertigen die Veröffentlichung von Sekundärliteratur zu Bourdieu. Erstens ist er mittlerweile ein Klassiker der Soziologie und gegenwärtig einer der am häufigsten zitierten Intellektuellen. Zweitens sind seine Schriften nicht leicht zu lesen und zu verstehen. Der bloße Status Bourdieus als Klassiker ist vielleicht noch kein hinreichender Beleg für seine Bedeutung. Ich meine allerdings, dass dieser Status eine sachliche Berechtigung hat. Die Höhe der Reflexion, die Bourdieu erreicht hat, sollte heute nicht mehr unterschritten werden. Man kann durchaus sagen, dass er die Messlatte für die Soziologie höher gehängt hat. Die Reflexionshöhe erschließt sich nicht von selbst. Viele der Werke Bourdieus wirken beim ersten Lesen naiv, als sei er nicht mit dem Wissen seiner Zeit vertraut gewesen und habe Probleme der Logik oder der Methode nicht gesehen. Methodologische Schwierigkeiten, Begriffsklärungen, strategische Überlegungen und Auseinandersetzungen mit der Geistesgeschichte finden in seinen Veröffentlichungen einen vergleichsweise geringen Raum. Die Leserschaft wird in erster Linie mit Ergebnissen konfrontiert, weniger mit Argumentationen und scholastischen Erörterungen.

Die Werke verarbeiten schwierige und fundamentale Probleme der Erkenntnistheorie in Verbindung mit zum Teil banal anmutendem empirischen Material. Was beim Lesen begegnet, sind Daten und wenig konsistent gebrauchte, undefinierte Begriffe. Dass eine außergewöhnliche theoretische Arbeit dahinter steckt, fällt nicht ins Auge. So unwahrscheinlich es wirkt, einer der wichtigsten Bezugspunkte Bourdieus ist Immanuel Kant. Bourdieu hat nicht nur an empirischen Gegenständen, sondern auch an einer soziologischen Vernunftkritik gearbeitet. Er wollte das, was bei Kant reine, überzeitliche Erkenntniskategorien sind, auf soziale Verhältnisse zurückführen und gleichzeitig Kants Philosophie als Ausdruck einer bestimmten Zeit und sozialen Position in ihr aufweisen. Er erklärte, seine Arbeit sei »im Grunde immer der Versuch […], die Erkenntniswerkzeuge zum Erkenntnisgegenstand zu machen und die mit den Erkenntniswerkzeugen gegebenen Grenzen der Erkenntnis zu erkennen« (1997e: 221).

Die soziologische Vernunftkritik war kein Selbstzweck, sondern als gelerntem Philosophen reichte Bourdieu die unreflektierte Fortführung (irgend) einer soziologischen Tradition nicht aus. Er wollte die Grundlagen der eigenen Erkenntnis kritisch beleuchten und möglichst weit gehend ausweisen. Indem Bourdieu in den Arbeiten der soziologischen Tradition unhinterfragte oder nicht überzeugende Voraussetzungen aufdeckte, vermied er sie und aus ihnen resultierende Unzulänglichkeiten der Forschung. Hieraus hat er eine regelrechte Methode gemacht, die an Gaston Bachelard anschließt. Er kontrastierte zwei einander widersprechende Ansätze der Tradition, um ihre Stärken und Schwächen abzuwägen. Die theoretischen Folgerungen, die er aus der Kontrastierung zog, arbeitete er dann am empirischen Material ab, um dieses und die Theorie zugleich kritisch zu beleuchten und anzureichern.

Man könnte sagen, dass Bourdieus Vorgehensweise zu einer Soziologie führte, die auf einer mittleren Ebene anzusiedeln ist. Sie steht zwischen Theorie und Empirie, Universalgeschichte und Momentaufnahme, Ethnologie und Soziologie, Globalem und Lokalem. Und ihre Theoreme haben eine mittlere Reichweite, sowohl örtlich wie zeitlich. Die mittlere Ebene ist mit einer Wissenschaftstheorie verknüpft, die nicht in Ableitungen und Substanzen, sondern in Konfigurationen und Relationen denkt. Der Ansatz scheint mir zukunftsweisend zu sein (vgl. Rehbein 2013). Die hier noch abstrakt wirkenden Bemerkungen zur Bedeutung Bourdieus werden im zweiten und dritten Kapitel ausführlich erläutert.

Neben Bourdieus Bedeutung ist der beschwerliche Zugang zu seinen Gedanken eine Rechtfertigung für Sekundärliteratur. Seine Schriften sind keine erholsame Lektüre. Man möchte meinen, dass er sich ständig wiederholt, jede Wiederholung aber leicht variiert. Die Sätze sind lang und komplex aufgebaut, konsistente Erklärungen sind selten. Theoreme und Begriffe werden je nach empirischem Gegenstand und Ort in der Darstellung leicht modifiziert. Bourdieu hat seinen schwierigen Stil mit zwei Argumenten gerechtfertigt. Erstens wolle er sich auf diese Weise gegen böswillige Lesarten schützen, zweitens sei die Komplexität der sozialen Welt nur durch komplexe Sätze und Darstellungen wiederzugeben (1992b: 70ff; 1993b: 14, 37; Leitner 2000: 152). Die Komplexität wird noch dadurch gesteigert, dass Bourdieu versuchte, seine eigene Sichtweise und den jeweiligen Zweck in die Darstellung zu integrieren. Ferner bemühte er sich, gegen den Strom zu schwimmen, Elemente herrschender Diskurse zu vermeiden und möglichst schwer greifbare Termini zu verwenden (1993b: 38). Er gestand jedoch zu, dass letztlich nur wohlmeinende Leser und Leserinnen diese Maßnahmen begriffen – also Menschen, die der Maßnahmen gar nicht bedürften (1993b: 14).

Da seine Werke komplex, an die äußeren Umstände angepasst und eng mit der Empirie verwoben sind, ist es einfach, Bourdieu zu kritisieren. Es wimmelt in seinem Werk von Schwächen in der Argumentation, kleineren und größeren Widersprüchen, ungenügend belegten Aussagen. Wer nach der Widerlegung einer Aussage von Bourdieu ablässt oder sich ihm gar überlegen glaubt, wird den ungeheuren Reichtum seiner Werke nicht ergründen können. Er suchte stets, der Sache gerecht zu werden, anstatt auf Konsistenz zu beharren. Wie Jürgen Habermas sah er die soziale Welt auf eine ungeheuer komplexe und differenzierte Weise. Beide entsagten dem soziologischen Denkstil, die Vielfalt auf wenige Gesetze zu reduzieren. Bourdieus Begriffe arbeiten unentwegt, damit ändern sie sich, schillern, lassen sich nicht eindeutig definieren. Aus diesem Grund bringt es wenig, die einschlägigen Zitate anzuführen, um in Stein hauen zu können, was mit dem Begriff des Habitus oder dem des Kapitals gemeint ist. Man wird abweichende Zitate finden, die nicht weniger »richtig« sein müssen. Die Widerlegung und die Definition isolierter Elemente von Bourdieus Soziologie verkennen meines Erachtens die relationale und konfigurationale Denkweise. Vor allem aus diesem Grund möchte ich den Zusammenhang der Kerngedanken nachzeichnen, anstatt einen Überblick oder Definitionen anzubieten.

Glücklicherweise sind fast alle Einführungen in Bourdieus Denken sehr gut und auf hohem Niveau. Bei UTB ist unlängst ein Buch für Anfänger erschienen (Fuchs-Heinritz, König 2005), auf das der vorliegende Band aufbaut. Ferner sei auf die großartige Einführung von Markus Schwingel (1995) und das leicht verständliche Werk von Christian Papilloud (2003) hingewiesen. In englischer Sprache sind unter anderem die Einführungen von Derek Robbins (1991), David Swartz (1997) und Deborah Reed-Danahay (2005) zu empfehlen. Schließlich bieten interessante Sammelbände, in denen Bourdieukenner über ihre Spezialgebiete schreiben, einen guten Überblick. Ich denke hier vor allem an die Bände von Klaus Eder (1989a), Gunter Gebauer und Christoph Wulf (1993), Ingo Mörth und Gerhard Fröhlich (1994), Uwe Bittlingmayer et al. (2002), Boike Rehbein, Gernot Saalmann und Hermann Schwengel (2003), Jörg Ebrecht und Frank Hillebrandt (2004), Margareta Steinrücke (2004) sowie Catherine Colliot-Thélène, Etienne François und Gunter Gebauer (2005). Das ist nur eine kleine Auswahl.

Inzwischen gibt es ein »Bourdieu-Handbuch« (Fröhlich, Rehbein 2009), in dem alle Grundbegriffe und Hauptwerke Bourdieus ausführlich erklärt werden. Das wie ein Lexikon aufgebaute Werk umfasst auch zahlreiche Einträge zu Einflüssen im Denken Bourdieus und zu seiner Rezeption. Als Einführung ist das Handbuch nicht geeignet, aber Anfänger können Erläuterungen von Begriffen und Texten finden, während Fortgeschrittene sich über Details und Zusammenhänge versichern können. Die Einträge im Handbuch wurden von anerkannten Experten und Expertinnen im deutschsprachigen Raum verfasst. Im Folgenden werde ich nicht an jeder Stelle auf die entsprechenden Artikel des Handbuchs hinweisen, denn man kann davon ausgehen, dass zu jedem wichtigen Begriff und Werk Bourdieus ein Artikel vorliegt, den man bei Interesse ergänzend lesen möge.

Am besten ist es, Bourdieu selbst zu lesen. Um die genannten Hindernisse abzubauen, möchte ich zum Einstieg einige Texte empfehlen. Wer wenig Zeit hat und lediglich an einem Überblick interessiert ist, möge die Sammlung mit dem Titel »Praktische Vernunft« (1998c) lesen, dann »Die feinen Unterschiede« (1982c) und schließlich »Soziologische Fragen« (1993b). Wer etwas tiefer einsteigen will, kann nach dem Band über Algerien, »Die zwei Gesichter der Arbeit« (2000c), die Bücher »Die Illusion der Chancengleichheit« (1971), »Entwurf einer Theorie der Praxis« (1976), »Die feinen Unterschiede« (1982c), »Vom Gebrauch der Wissenschaft« (1998e) und »Der Staatsadel« (2004a) lesen. Am sinnvollsten ist die chronologische Lektüre, die gleichwohl systematisch orientiert ist und die Schriften chronologisch wie systematisch gruppiert. Das ist auch das Vorgehen, das in diesem Buch gewählt wurde.

Der Aufbau des Buches versteht sich nicht von selbst. Zu den wichtigsten Lehren Bourdieus gehört die soziologische Selbstanalyse. Die sozialen Bedingungen der eigenen Sichtweise müssen hinterfragt werden, um nicht blind Vorurteile zu reproduzieren. Die Forderung mündet zwar in einen Zirkel – weil auch die Selbstanalyse einen Standpunkt und dessen soziale Bedingungen voraussetzt –, aber der Zirkel kann hermeneutischer, also fruchtbarer, Natur sein. Ich fühle mich durch diese Bemerkungen in die Pflicht genommen, einige der Voraussetzungen darzulegen, die ich in diesem Buch an Bourdieus Soziologie herantrage. Meine Perspektive auf die Soziologie Bourdieus ist zweifellos durch meine Ausbildung und durch meinen eigenen Umgang mit dieser Soziologie bestimmt. Mein Umgang ist nicht rezeptiv und nicht orthodox. Er beschränkt sich nicht auf die Lektüre und auf die Gegenstände, die Bourdieu durch seine eigenen Arbeiten gleichsam legitimiert oder gar geweiht hat. Wenn ich seine Soziologie auf die Grammatik, Südostasien, Aspekte der Globalisierung und globale Ungleichheit übertrage, so überdehne ich sie vielleicht (Rehbein 2004, 2007, 2013, 2015; Rehbein, Sayaseng 2004; Rehbein, Souza 2014). Möglicherweise missdeute ich sie, um sie auf Gegenstände anzuwenden, für die sie nicht geschaffen wurde. Diese Möglichkeit sollte man beim Lesen zumindest im Hinterkopf behalten. Ich will gleichsam zu einem ähnlichen, aktiven Umgang mit Bourdieu anregen. Aus diesem Grund weise ich an vielen Stellen möglicherweise zu ausführlich auf Schwächen und Lücken in Bourdieus Werk hin. Die Hinweise sollten nicht als – ohnehin vermessener – Versuch einer Widerlegung oder Besserwisserei missverstanden werden, sondern als Aufforderung, an dieser Stelle weiterzudenken.

Gleichzeitig nähere ich mich den Werken Bourdieus etwas vorsichtiger, als es die meisten Interpreten tun. In der Philosophie, die noch zur Promotion mein Hauptfach war, interpretiert man Texte auf recht philologische Weise. Das bedeutet beispielsweise, stets den Zusammenhang der Texte zu beachten, Interpretationen abzusichern und auf Mehrdeutigkeit zu achten. Meine Ausbildung nötigt mich dazu, nah am Text zu bleiben und Textstellen nicht eklektisch zusammenzusuchen. Meist werden in der Literatur zu Bourdieu Zitate relativ sorglos aus den verschiedensten Schriften und Perioden nebeneinander gestellt. Auf die orthodoxen Anhänger Bourdieus wird meine Interpretation seines Werks daher zugleich häretisch (oder nicht hinreichend loyal) und pedantisch wirken.

Meine Herangehensweise an Bourdieus Schriften wird sicher zumindest unbewusst von meinem Bild des Menschen Bourdieu beeinflusst. Wenn ich hier aus meiner Erinnerung einige Umrisse dieses Bildes skizziere, möchte ich einen Eindruck des Menschen, aber auch meiner Perspektive auf ihn vermitteln, die möglicherweise verzerrend wirkt. Die kritische Aufarbeitung an der eigenen Perspektive lehrte Bourdieu in seiner letzten Vorlesung am Collège de France. In seinem postum veröffentlichten »Soziologischen Selbstversuch« (2002b) führte er die soziologische Selbstanalyse exemplarisch an seiner eigenen Biographie durch. Auch wenn zweifellos manch ein Aspekt der Biographie im Rückblick verfälscht wurde, scheint mir das Werk ihre wichtigsten Konturen nachzuzeichnen. Es bietet nicht nur einen guten Überblick über Bourdieus Lebensgeschichte, sondern auch eine leicht zugängliche Anwendung seiner Soziologie.

Bourdieu verkörperte seine Lehre. Er war den wissenschaftlich Interessierten in seiner Umgebung ein Vorbild, indem er seine Forschung mit großem Ernst und außergewöhnlichem Engagement verfolgte. »Pierre Bourdieu war Tag und Nacht Wissenschaftler.« (Jurt 2003b: 170) Dabei war er persönlich bescheiden und uneitel. Stets trug er ein einfaches Oberhemd mit Sakko, durch seine Kleidung fiel er unter keinen Umständen auf. Im Gegensatz zu vielen berühmten Pariser Intellektuellen legte er auf eine modische Inszenierung seiner Person keinen Wert. (Und Mode hat in Paris einen anderen Stellenwert als in Gelsenkirchen). Sein Blick war immer wach, seine Ausstrahlung wohlwollend und zurückhaltend. Bei Menschen, die ihn nur kurz trafen, wird er keine nachhaltige Wirkung hinterlassen haben. Das galt umso mehr bei Vorträgen und Vorlesungen, die selten so eindrucksvoll waren wie die von Derrida oder Deleuze. Bourdieu rang oft nach Worten, verhaspelte sich, schweifte ab und war undeutlich. Die mündliche Undeutlichkeit war für ihn teilweise, wie im Schriftlichen, Programm. Er wollte nicht leicht verstanden werden, um weniger leicht missverstanden zu werden. Seine Zuhörer- und Leserschaft sollte sich bemühen müssen, eigene Erkenntnis zu erarbeiten, anstatt leicht zugängliche Resultate zu schlucken: »ich sage meinem Publikum aus Prinzip immer das, was am schwierigsten zu verdauen ist« (2003a: 79).

Bourdieus ausgeprägte Selbstreflexivität erwuchs gleichsam aus seinem eigenen Habitus. Man kann vielleicht sogar behaupten, dass sich in ihr die Verwunderung über sich selbst ausdrückte. Ein Landjunge hatte es auf den begehrtesten Soziologie-Lehrstuhl ganz Frankreichs gebracht. Bourdieu betonte immer wieder, dass er sich im akademischen Umfeld fremd fühlte. Die Verhaltens- und Denkweisen seiner Kolleginnen und Kollegen, die ihnen zur zweiten Natur geworden waren, betrachtete er mit innerer Distanz. Die selbstverständlichen Modi wissenschaftlichen Arbeitens, von der passiven Lektüre über die Zitierweise bis hin zur monologischen Forschung, waren ihm gerade nicht selbstverständlich. Er prüfte die Begriffe, Denk- und Verhaltensweisen, die er gelernt hatte, immer wieder mit kritischem Blick und Distanz. Eben das ist mit Selbstreflexivität gemeint. Im Laufe der Zeit wurde die Selbstreflexion theoretischer, indem Bourdieu sie mit seiner soziologischen Theorie auflud. Er betrachtete also sein eigenes Tun, wie er das der anderen sozialen Akteurinnen und Akteure betrachtete – und in gewisser Weise auch umgekehrt.

Einem Menschen wie Bourdieu fliegen nur wenige Herzen zu. Die Zuneigung seiner Umgebung hat er sich im wahrsten Sinne erarbeitet. Wer ihn nämlich bei der Arbeit erlebt hat, musste beeindruckt sein. Es ging ihm um die Sache, nicht um seine eigene Person. Gleichzeitig waren ihm alle Menschen seiner Umgebung in ihren persönlichen Anliegen wichtig. Und schließlich – um diese fast pathetische Heranführung abzurunden – konnte man sich seinem moralisch-politischen Impuls kaum entziehen, der sich durchaus in Marx’ Forderung verbalisieren lässt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Marx 1976: 385). Und wer von Bourdieus Feuer erst einmal angesteckt war, konnte es schwerlich wieder ersticken. Es kam nur vor, dass die Besessenheit, mit der Bourdieu seine Forschung verfolgte, Menschen in seiner Umgebung die Luft zum Atmen nahm. Die anderen seiner Schülerinnen und Schüler, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mit seinem Tod 2002 einen »Vater«, ein Vorbild und einen Freund verloren. Die Stelle, die er im Raum einnahm, ist leer geblieben. So scheint es angemessen.

Das Buch ist großenteils systematisch aufgebaut, bemüht sich aber darum, die Systematik mit Bourdieus Denkweg zu verknüpfen. Die ersten sieben Kapitel markieren Schritte in Bourdieus Denken, die teilweise gleichzeitig begonnen und teilweise gleichzeitig durchgeführt wurden, wobei das achte Kapitel sich auf die Rezeption seiner Forschung bezieht. Obwohl Bourdieus Werk eine außergewöhnliche Einheit aufweist, werden Grundbegriffe und Theoreme selten in zwei Arbeiten genau gleich vorgebracht, weil die jeweilige Stoßrichtung unterschiedlich war. Das ist ein sachlicher Grund dafür, nicht beliebig Zitate aus verschiedenen Arbeiten miteinander zu kombinieren und zur gegenseitigen Erläuterung heranzuziehen. Einige Missverständnisse in der Sekundärliteratur erwachsen aus dieser philologischen Unbekümmertheit, die durch die Einheitlichkeit von Bourdieus Werk gefördert wird. Im Folgenden soll vorsichtiger operiert werden. Die jeweiligen Denkschritte werden fast ausschließlich an einzelnen Arbeiten oder an Arbeiten aus derselben Periode demonstriert. Das gilt etwas weniger für die Kapitel zwei und drei, in denen die erkenntnistheoretischen und begrifflichen Grundlagen erläutert werden. Aber auch die Abschnitte dieser beiden Kapitel konzentrieren sich jeweils auf ein Buch und ziehen weitere Arbeiten nur heran, um die Weiterentwicklung von Bourdieus Denken darzulegen. Das Vorgehen bringt mit sich, dass einige bedeutende Werke Bourdieus nicht ausführlich diskutiert werden, allen voran »Die Regeln der Kunst« (1999) und die »Meditationen« (2001f).

Das erste Kapitel versucht, die Geburt wesentlicher Gedanken Bourdieus in Algerien nachzuzeichnen, wo er seine ersten Forschungen durchgeführt hat. Das zweite Kapitel beschäftigt sich mit seiner Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, die er in Grundzügen nach seiner Rückkehr aus Algerien ausgearbeitet hat. Im ersten Theorieentwurf Bourdieus sind die meisten der Grundbegriffe enthalten, die im dritten Kapitel skizziert werden. Die folgenden drei Kapitel resümieren Bourdieus Forschungen zu drei wichtigen Themengebieten: zum Bildungswesen, zu den Lebensstilen und zum symbolischen Universum. Das fünfte Kapitel (zu den Lebensstilen) ist hauptsächlich ein Kommentar der »Feinen Unterschiede«. Das siebte Kapitel ist Bourdieus politischer Soziologie (oder soziologischer Politik) gewidmet, die sein letztes Lebensjahrzehnt charakterisiert. Im letzten Kapitel wird die Rezeption seiner Werke, insbesondere in Deutschland skizziert. Dabei wird auch gezeigt, wie man mit Bourdieu arbeitet und arbeiten kann. Jedes Kapitel beginnt mit einer Einführung, die in den ersten Kapiteln eher der Lebensgeschichte Bourdieus, danach eher dem Zusammenhang zwischen den Gedanken und Kapiteln gewidmet ist. Der Hauptteil jedes Kapitels gliedert sich in mehrere Abschnitte, die sich auf ein Thema oder ein Werk konzentrieren.

Man könnte bildlich sagen, das Buch entfalte sich und ziehe sich wieder zusammen. Es geht aus von Bourdieus Begegnung mit dem Kolonialismus, aus der seine Soziologie erwuchs, und schließt im siebten Kapitel mit seiner Kritik an einer gegenwärtigen Form des Kolonialismus. Die Kapitel zwei und sechs beziehen sich auf den Bereich des Symbolischen, das zweite Kapitel auf die Theorie, das sechste auf die Praxis. In den Kapiteln drei und fünf werden die wichtigsten Begriffe Bourdieus erläutert, im früheren abstrakt, im späteren in Verbindung mit dem empirischen Material. Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit dem Angelpunkt der bourdieuschen Soziologie, der Lehre von der Reproduktion sozialer Ungleichheit. Die Kapitel greifen ineinander und kommunizieren gleichsam unterirdisch miteinander, können aber auch unabhängig voneinander gelesen werden. Allerdings sollte – wie bei Bourdieu – kein Satz ohne das Ganze des Buches als absolut und uneingeschränkt gültig verstanden werden.

Die Bücher Bourdieus werden nach dem Erscheinungsjahr zitiert – möglichst aus der deutschen Übersetzung. Die Verweise in Klammern enthalten Jahreszahlen (und zumeist Buchstaben), die sich auf die Literaturliste am Ende des Buches beziehen. Zitate sind – moderat – der neuen Rechtschreibung angepasst, um den Lesefluss zu erleichtern. Ein »Fn« nach der Seitenzahl bedeutet, dass sich die entsprechende Stelle in einer Fußnote findet. Bourdieus Auffassungen werden um der Lesbarkeit willen nicht durchgehend im Konjunktiv wiedergegeben. Damit hängt auch ein häufiger Zeitenwechsel zusammen. Von der in Vergangenheitsformen referierten Lebensgeschichte wird zur Darstellung der Soziologie im Präsens übergegangen – und zurück. Die Grenzen sind dabei fließend. Aus stilistischen Gründen habe ich nicht immer neben der männlichen auch die weibliche Form benutzt. Das wird aus dem Zusammenhang ersichtlich.

Für die Lektüre des Manuskripts und kritische Anmerkungen danke ich Gerhard Fröhlich, Rolf-Dieter Hepp, Karsten Kumoll, Gernot Saalmann und Kai Thyret. Zahlreiche Aspekte dieses Buches habe ich mit verschiedensten Menschen besprochen, deren Anregungen und Informationen auf die eine oder andere Weise in den Text eingegangen sind. Hierfür danke ich Carina Braun, Patrick Champagne, Gunter Gebauer, Remi Lenoir, Jochen Rehbein, Franz Schultheis, Kristina Schulz, Michael Vester, Loïc Wacquant und Anja Weiß. Danken und gedenken will ich an dieser Stelle der 2005 verstorbenen Steffani Engler. Des Weiteren danke ich Joseph Maran und den Teilnehmern und Teilnehmerinnen am Jahresprojekt über »Zeichen der Herrschaft« (Heidelberg/Freiburg). Auch meine Lehrveranstaltungen waren in dieser Hinsicht förderlich. Mein ganz besonderer Dank gilt allen Studierenden, die im Sommersemester 2005 mein Seminar über Bourdieu an der Universität Freiburg besucht und ihre Auffassungen eingebracht haben. Das Seminar war Grundlage der ersten Auflage dieses Buches.

1 Von der Praxis der Ökonomie zur Ökonomie der Praxis

Das Kapitel zeichnet die Entstehung von Bourdieus Soziologie in Algerien nach. Ohne die Ursprünge dieser Soziologie zu kennen, ist es schwer zu verstehen, warum sie später genau die Gestalt annahm, in der sie heute bekannt ist. Es ist durchaus angemessen, die algerischen Schriften als »Kristallisationskern« der gesamten Theorie Bourdieus zu bezeichnen (Schultheis 2000: 65; 2003a: 26).1 Die Theorie hat sich, so Schultheis, »spiralförmig« um diesen Kern entwickelt. Tatsächlich weisen die algerischen Schriften selbst eine derartige Entwicklung auf. Um die Entwicklung bildlich zu beschreiben, ist vielleicht ein Terminus passender, der von Bourdieu in seinem ersten Buch verwendet wird und gleichzeitig seine Vorstellung der sozialen Welt gut ausdrückt: der des »Kaleidoskops« (1958: 82). Bereits dieses erste Buch, so könnte man sagen, ist der Kristallisationskern, um den das Kaleidoskop von Bourdieus Theorie heranwuchs. Der Kern umfasst eine Kombination aus soziologischer Begrifflichkeit, Erkenntnistheorie, Instrumenten, quantitativer Empirie und Ethnologie. In Algerien begann Bourdieu mit Ethnographie, die sogleich um theoretische, methodologische und erkenntnistheoretische Erwägungen ergänzt wurde und ihn zu quantitativen Erhebungen führte. In diesem Spannungsfeld prägte Bourdieu seine Begrifflichkeit, deren Kern bereits in seinem ersten Buch (1958) zu verorten ist. Der Rest des Kapitels zeichnet die Ethnologie, theoretische und empirische Soziologie sowie die Methodologie Bourdieus in Algerien nach. Der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie ist das nächste Kapitel gewidmet, das sich allerdings nicht nur auf Algerien beschränkt.

Pierre Bourdieu wurde am 1.8.1930 in einem Dorf namens Denguin geboren. Das Dorf liegt in der historischen Landschaft Béarn in den westlichen Pyrenäen. Die Familie des Vaters, Albert Bourdieu, betrieb seit Generationen Landwirtschaft. Albert Bourdieu, dessen Bruder den Hof der Familie erbte, wandte sich von der Landwirtschaft ab und wurde Postbeamter. Alberts Frau, Noémie, war eine gebildete Protestantin, blieb aber Hausfrau. Pierre Bourdieu hätte in dieser Umgebung bestenfalls eine Karriere in der Lokalverwaltung oder als Kaufmann und die Heirat mit der Dorfschönheit erhoffen dürfen. Schlimmstenfalls wäre er zur Landwirtschaft zurückgekehrt. Da er in der Familie intellektuell gefördert wurde und sich als guter Schüler erwies, konnte er auf die bessere Variante des Lebenslaufs hoffen. Nach der Grundschule rieten die Lehrer, ihn auf das Gymnasium in der nächstgelegenen Stadt zu schicken. Von 1941 bis 1947 war Bourdieu in einem Internat untergebracht, dem Lycée von Pau. Da auch hier seine schulischen Leistungen außergewöhnlich waren, empfahl er sich für eine Laufbahn, die bereits die Hoffnungen überstieg, die er sich auf Grund seiner Herkunft machen durfte. Schon in Pau, so erinnerte sich Bourdieu in seinem »Soziologischen Selbstversuch« (2002b: 100ff), war er an die Grenzen seiner Herkunft gestoßen. Nur wenige Provinzler wie er schafften den Sprung ins Gymnasium. Eine noch deutlichere Trennlinie in der französischen Gesellschaft als die zwischen Stadt und Land verlief (und verläuft) zwischen der Provinz und Paris. Den entscheidenden Sprung tat Bourdieu, als er 1948 in das Pariser Lycée Louis-le-Grand eintrat. An dieser Institution waren zahlreiche Geistesgrößen der französischen Geschichte, von Voltaire bis Sartre, auf das Studium vorbereitet worden. Hier las Bourdieu die großen Vertreter der zeitgenössischen französischen Phänomenologie, Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty. Er beschäftigte sich dann auch mit dem Begründer der Phänomenologie, Edmund Husserl, den er auf Deutsch las und in Auszügen übersetzte.2 Da die französische Phänomenologie von marxistischen Einflüssen geprägt war, beschäftigte sich Bourdieu in dieser Zeit auch mit dem frühen Marx (1992b: 16). Bourdieu schloss die Schule 1951 ab – als ein Bildungstitel noch die Zugangsberechtigung zu den höheren Sphären der Gesellschaft darstellte. Im Grunde hatte es Bourdieu zu diesem Zeitpunkt geschafft. Er war in der Bildungselite angekommen, die in Frankreich seit Jahrhunderten einen Großteil der gesellschaftlichen Elite insgesamt stellt.

1951 bis 1954 studierte Bourdieu Philosophie an der Faculté des lettres der Sorbonne. Außerdem wurde er zum innersten Heiligtum der französischen Geisteswissenschaften zugelassen, der Ecole normale supérieure (ENS) in Paris. Nahezu gleichzeitig mit Bourdieu besuchte Jacques Derrida die ENS, etwas früher hatte Michel Foucault dort studiert. Die Sorbonne und die ENS befinden sich – symbolträchtig – im Zentrum von Paris zwischen dem Panthéon (in dem die Größen Frankreichs beerdigt sind) und der Kirche Notre-Dame. Der Sohn eines Dorfpostlers und einer protestantischen Mutter befand sich im intellektuellen Zentrum der »Grande Nation«. Auch hier hatte er Erfolg. 1954 bestand er mit Auszeichnung die Agrégation in Philosophie, die zum Eintritt in den Staatsdienst berechtigt und einen Status verleiht, der dem des chinesischen Mandarins vergleichbar ist. Seine Abschlussarbeit schrieb Bourdieu über »Leibniz als Kritiker von Descartes« (1992b: 17). Gleich nach der Agrégation erhielt er die dem Abschluss entsprechende Anstellung. Ein Jahr lang unterrichtete er an einem Provinzgymnasium in Alliers.

Der weitere Aufstieg (der ihn entweder an eine Universität in der Provinz oder ein Gymnasium in Paris geführt hätte) wurde 1955 durch die Einberufung zum Militärdienst unterbrochen. Die Ausbildung zum Reserveoffizier lehnte er ab. Daher sollte er – was immerhin noch standesgemäß gewesen wäre – dem psychologischen Dienst zugeordnet werden, aber er wurde nach Algerien geschickt – vermutlich weil er gleich nach seiner Einberufung Streit mit seinen Vorgesetzten bekam (2002b: 46). Algerien war eine französische Kolonie. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die algerische Bevölkerung – wie die anderer französischer Kolonialgebiete – nicht bereit, die Rückkehr der Besatzer zu akzeptieren. Eine Besonderheit Algeriens bestand darin, dass hier sehr viele Franzosen lebten, nahezu zehn Prozent der Gesamtbevölkerung, und die Kolonie als sehr wichtig betrachtet wurde. Die Franzosen bildeten die Oberschicht im Land. Sie bekleideten alle Führungspositionen und verdienten im Durchschnitt 20mal mehr als die Einheimischen (2003a: 14). Längst war eine Schicht von Algeriern herangewachsen, die eine europäische Bildung genossen und die europäischen Lehren von der Emanzipation kennen gelernt hatten. Ferner hatte der Zweite Weltkrieg die Besiegbarkeit Frankreichs gezeigt. 1954, kurz nach der Unabhängigkeit Nordvietnams, brach der offene Krieg aus. Wenige Monate später trat Soldat Bourdieu seinen Dienst an. Er musste allerdings nicht in die Kampfhandlungen eingreifen, sondern verrichtete Bürotätigkeiten in der Heeresverwaltung.

Die Kolonialkriege hatten Frankreichs Intellektuelle schon seit einem Jahrhundert gespalten. Die Franzosen hatten 1830 Algier besetzt, das Land aber erst 1870 ganz unter ihre Kontrolle gebracht. In der Folge wurde das Kolonialreich ständig vergrößert, auch unter sozialistischen Regierungen. Die linksgerichteten Kolonialisten argumentieren, die französische Herrschaft bringe den »Wilden« Zivilisation, Aufklärung und Freiheit. Diese Position wurde noch zur Zeit von Bourdieus Militärdienst vertreten. Die Mehrheit der französischen Intellektuellen – allen voran Sartre – verurteilte den algerischen Kolonialkrieg jedoch entschieden. Zu ihnen zählte auch Bourdieu (1992b: 17f). Allerdings stellte er sich nicht hinter die Bildungselite, zu der er jetzt ja gehörte. Es gab ihm vielmehr zu denken, dass die Intellektuellen in Paris den Kampf eines Volks unterstützten, von dem sie nichts wussten. Er selbst war nun täglich mit den Schrecken des Krieges und der kolonialen Unterdrückung konfrontiert. Über das, was er sah, war er zutiefst entsetzt. Eben deshalb schienen ihm die rein theoretisch und/ oder ideologisch begründeten Urteile Sartres und seiner Mitstreiter unangemessen.

»Gegenüber dem traditionellen Philosophieren über Gott und die Welt hatte ich das Glück, quasi-metaphysische Probleme und existenzielle Fragen auf sehr dramatische Weise im Konkreten gestellt zu sehen. Daraus erwuchs mir dann eine philosophische Anthropologie, aber im guten Sinne des Wortes, d. h. nicht als irgendeine vage Spekulation, sondern als Reflexion angesichts dramatischer menschlicher Lebensumstände, die mich tief erschütterten.« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2003a: 35)

Zu Beginn seines Kriegsdienstes versuchte Bourdieu, innerhalb der Armee gegen den Krieg zu agitieren. Dabei hatte er wenig Erfolg, weil die meisten anderen Soldaten eine rassistische und gleichsam professionelle Einstellung nach Algerien mitgebracht hatten (2002b: 47). Zunehmend wandte er sich von den Franzosen ab und den Algeriern zu. Sein Vorgesetzter gewährte ihm dabei eine gewisse Freiheit, weil er ebenfalls aus dem Béarn stammte (2002b: 48). Der Übergang aus dem französischen Milieu zur empirischen Beschäftigung mit dem Alltag der Menschen in Algerien war vielleicht die entscheidende Wende in Bourdieus intellektueller Laufbahn. Er hatte immer noch vor, nach der Beendigung des Militärdienstes seine Tätigkeit als Philosophielehrer bzw. -professor fortzusetzen (ebd.). Während seiner Beschäftigung mit dem algerischen Alltag rückte er von dem Vorhaben ab und brach, wie er rückblickend schrieb, »mit der gelehrten Sicht der Dinge« (2002b: 45f). Auf Grund seiner Herkunft hatte er sich in dieser »hochmütigen« Welt ohnehin nie zu Hause gefühlt (2002b: 50). »Wenn es etwas Einzigartiges an meiner Karriere gibt, dann die Tatsache, dass ich mich mit der Universität niemals in dem Maße identifiziert habe wie die meisten der von ihr Verzauberten.« (Bourdieu, zitiert in Jurt 2003b: 8) Nun beschäftigte er sich mit Menschen, die denen seiner Heimat sehr viel ähnlicher waren als die Pariser Intellektuellen. Franz Schultheis charakterisierte das Verhältnis Bourdieus als »Wahlverwandtschaft« (2003b).3

Mit größtem Eifer stürzte sich Bourdieu in sein neues Tätigkeitsfeld. Er wollte ein allgemeines Werk über Algerien schreiben, um die französischen Intellektuellen mit der algerischen Wirklichkeit zu konfrontieren. Später meinte er, seine Untersuchung sei eher zivil (im Sinne von staatsbürgerlich) als politisch motiviert gewesen. Die Franzosen hätten damals wenig über Algerien gewusst und für eine politische Meinung eigentlich keine Grundlage gehabt (2003a: 42). Dieser aufklärerische und politische Impetus wissenschaftlicher Arbeit ist ein Grundmerkmal von Bourdieus Soziologie. Er motivierte schon sein erstes Buch. Das Besondere dieser Motivation – der Unterschied etwa zu Sartre – besteht eben darin, dass Bourdieu keine Urteile als gegeben oder gar axiomatisch voraussetzen wollte; sondern er war der Meinung, dass wissenschaftliche Tätigkeit das beste Mittel sei, menschliches Leiden zu erkennen und letztlich zu beseitigen. In Bezug auf seine Arbeit in Algerien schrieb er: »Eine anscheinend abstrakte Analyse kann einen Beitrag zur Lösung der dringlichsten politischen Probleme leisten.« (2003a: 45; vgl. Schultheis 2003b) Ich werde im zweiten Kapitel ausführlich darauf eingehen.

Das allgemeine Werk erschien 1958, gleich nach Beendigung des Militärdienstes, in der renommierten Reihe »Presses universitaires de France« (PUF – die UTB in Deutschland vergleichbar ist) unter dem Titel »Sociologie d’Algérie«. Später hielt Bourdieu seinen wissenschaftlichen Anspruch dieser Zeit für vermessen. Das Buch selbst bezeichnete er als »die schlechte Strategie eines outsiders«, der die Regeln der akademischen Welt nicht kennt (1992b: 24). Nach dem Militärdienst blieb Bourdieu in Algier, wo er bis 1960 eine Assistentenstelle an der Universität erhielt. Diese Anstellung verschaffte ihm die Möglichkeit, seine Forschungen fortzuführen und zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen. Er begann mit ethnographischen Studien, weitete den Bereich seiner Begriffe, Methoden und Instrumente aber rasch aus. Es entbrannte in ihm ein unstillbarer Wissensdurst (2002b: 55). In den folgenden Jahren arbeitete er täglich vom frühen Morgen bis spät in die Nacht, verschlang unzählige Bücher und versuchte, alle Aspekte der algerischen Gesellschaft zu ergründen. Er sagte sich unentwegt: »Armer Bourdieu, mit den armseligen Instrumenten, die du hast, bist du der Sache nicht gewachsen, man müsste einfach alles wissen und alles verstehen, die Psychoanalyse, die Ökonomie …« (2003b: 36) Die Mittel der Wissenschaft sollten ihn in die Lage versetzen, die Wirklichkeit zu verstehen. Sie sollten ihn aber auch vor ihr schützen, ihm Halt geben und ihn vor den Versuchungen der Ideologie bewahren. Ein prinzipielles Vertrauen in die Wissenschaft behielt er sein Leben lang bei. Er schloss sich den Mitarbeitern des französischen Statistikamts (INSEE) an, die in Algerien arbeiteten. Mit ihnen führte er eine groß angelegte Fragebogenerhebung über die algerischen Haushalte durch. Mit einem algerischen Intellektuellen, Abdelmayek Sayad, schloss er enge Freundschaft. Gemeinsam wandten sie sich der qualitativen Forschung zu. Ferner beschäftigte sich Bourdieu mit Max Weber, übersetzte Teile seiner »Protestantischen Ethik« (in 1988; zuerst 1920) und übertrug ihre Fragestellung auf Algerien. Er arbeitete gewissermaßen an allen Fronten gleichzeitig. Die Grundzüge seiner Soziologie entwickelten sich im Zusammenhang mit dieser Arbeit.

Vom ersten bis zum letzten in Algerien entstandenen Buch ist eine gedankliche Entwicklung und eine thematische Verschiebung festzustellen, obwohl alles Spätere zumindest ansatzweise im ersten Werk enthalten ist. Das ist nicht verwunderlich, weil Bourdieu nahezu gleichzeitig an allen Schriften arbeitete. Die Gleichzeitigkeit zeichnete seine Arbeitsweise aus. Dadurch gewinnen seine Werke nicht nur ihren ungewöhnlichen Reichtum und Tiefgang, sondern auch einen inneren Zusammenhang, der durch Bourdieus ständige wissenschaftstheoretische Reflexion noch verstärkt wird. Hierzu gesellt sich der Umstand, dass Bourdieu fast alle Schriften in Gemeinschaftsarbeit produzierte. Er selbst garantierte ihren inneren Zusammenhang, während die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in immer wechselnden Kombinationen beteiligt waren, zu ihrer Vielfalt beitrugen (siehe Einführung zum nächsten Kapitel).

1.1 Einsicht: Ungleichzeitigkeit

Die Beschäftigung mit der algerischen Gesellschaft führte Bourdieu zur Soziologie. Nach seinen ersten ethnographischen Studien beschäftigte er sich mit Max Webers »Protestantischer Ethik« (in 1988). Die Frage nach den Bedingungen der Entstehung des Kapitalismus, die Weber am historischen Material untersucht hat, konnte Bourdieu an die algerische Gegenwart richten. Damit befand sich Bourdieu im Zentrum der Soziologie. Die Soziologie entwickelte sich als Disziplin großenteils durch das Bemühen, die Entstehung des Kapitalismus und ihre Folgen theoretisch einzuholen. Sie erwuchs gleichsam aus der Entfaltung des Marktes und der Wirtschaftswissenschaften. Der Kapitalismus bildete nicht nur das Kernproblem der frühen soziologischen Klassiker (insbesondere Marx, Durkheim, Simmel und Weber), sondern kann auch heute noch als Horizont der soziologischen Arbeit gelten.

Bourdieu reiht sich in dieser Hinsicht nahtlos in die Folge der Klassiker ein. Er wandelte sich vom Philosophen zum Soziologen, als er in Algerien die Ausbreitung des Kapitalismus unmittelbar vor Augen geführt bekam. Er erkannte, dass die sozialen Probleme nicht nur aus dem Kolonialkrieg erwuchsen, sondern auch aus der Konfrontation zweier unvereinbarer Wirtschaftsweisen, besser gesagt: aus der Verdrängung einer »traditionalen« Wirtschaft durch eine kapitalistische. Aus der Untersuchung dieser Frage wollte er nicht nur etwas über Algerien lernen, sondern auch Erkenntnisse über den Kapitalismus insgesamt gewinnen (2003a: 43). Er erkannte, dass die algerische Gesellschaft höchst unterschiedlich vom Kapitalismus durchdrungen war und die soziale wie ökonomische Ungleichheit mit der Ausbreitung des Kapitalismus zunahm. Bourdieu versuchte nun, alle Aspekte des Phänomens zu untersuchen. Er beschäftigte sich mit Unterschieden in der Arbeitsmoral, im ökonomischen Denken, im Konsumverhalten, mit Klassenstrukturen, Klassenbewusstsein, Lebensführung und vielem mehr. Die zahlreichen Arbeiten, die ab 1958 in rascher Folge erschienen, enthalten seine wichtigsten Forschungsergebnisse. Für sich wären sie wertvolles und höchst interessantes wissenschaftliches Material, höben sich von der Masse soziologischer Literatur jedoch kaum ab. Zwei Aspekte kamen zusammen, um den »Kristallisationskern« zu bilden, der die neuartige und wegweisende soziologische Theorie Bourdieus ermöglichte. Ein Aspekt war Bourdieus Position zwischen den Disziplinen, Ideologien und sozialen Welten, der andere war eine wissenschaftliche Einsicht.

In Algerien entwickelte Bourdieu eine eigene Fragestellung. Man kann sie als entwicklungssoziologisch oder wirtschaftssoziologisch bezeichnen. Aber Bourdieu beschäftigte sich kaum mit den Diskussionen, die in diesen Bereichen geführt wurden. Vielmehr übertrug er die ethnologischen Methoden auf die Fragestellung Max Webers, welche gesellschaftlichen Voraussetzungen gegeben sein müssen, damit kapitalistisches Handeln möglich ist. Aus dieser Kombination entwickelte sich Bourdieus Frage. Sie wurde dadurch ermöglicht, dass er nicht den vorgezeichneten Wegen folgte, sondern völlig disparate und unzusammenhängende Bereiche miteinander verband. Er selbst meinte später, die Eigentümlichkeit seines Ansatzes sei dadurch ermöglicht worden, dass die Frage nach der Entstehung des Kapitalismus in Algerien weder von der Ethnologie noch von der Soziologie besetzt gewesen sei (2003a: 45). Ende der Fünfzigerjahre sei die Soziologie für die Industrienationen, die Ethnologie für die anderen zuständig gewesen; Orientalismus und philologische Orientierung prägten die Auseinandersetzung mit Algerien (ebd.: 40). Daher konnte er sich »frei« bewegen. Als Philosoph kam er nach Algerien, um dort als Soldat zu dienen. Als Soldat entdeckte er die Leiden der Algerier unter der Kolonialherrschaft. Um die Leiden zu verstehen, bediente er sich ethnologischer Methoden. Diese Methoden wandte er auf eine soziologische Fragestellung an, die sich in eine kulturtheoretische verwandelte. Daraufhin bediente er sich quantitativer soziologischer Methoden. All diese Momente gingen in sein Denken ein und verbanden sich später zu seiner soziologischen Theorie.

Bourdieu selbst hat immer wieder deutlich gemacht, dass er die ausgetretenen Pfade mied. Ein wenig Ehrgeiz, wissenschaftliches Neuland zu betreten, wird dabei eine Rolle gespielt haben. Ein größeres Gewicht aber dürfte seiner eigentümlichen Laufbahn zukommen, die ihn dazu bestimmte, sich in jeder Umgebung fremd zu fühlen. In seinem »Selbstversuch« (2002b) erklärt er das Phänomen sehr plausibel in Begriffen seiner eigenen Theorie. Seine Denkrichtung, so Bourdieu, habe sich vor allem durch intellektuelle Abneigungen und Verweigerungen ergeben, die er selten benannt habe, beispielsweise gegen de Sade, Bataille und Klossowski (2002b: 10). Die Abneigung gegen einige Denker führte nicht dazu, dass er sich anderen anschloss. Vielmehr fühlte er sich in keiner Schule zu Hause. Sein früh entwickelter Eigensinn zeigt sich beispielsweise darin, dass er bereits in seinem ersten Buch, »Sociologie d’Algérie« (1958) die Unterdrückung der Frau konstatierte, für ein soziologisches Problem hielt und als solches analysierte (1958: 14f, 86). Das Thema war seinerzeit keineswegs in Mode und schon gar nicht mit akademischen Weihen gesegnet. Dennoch widmete ihm Bourdieu 1962 einen eigenen Aufsatz. Und als es später in Mode kam, bewies Bourdieu seinen Eigensinn erneut, indem er sich weigerte, die geläufigen Positionen anzuerkennen. In seinem 1998 veröffentlichten Buch über »La domination masculine« (1998b; dt. 2005b) greift er auf seine Forschungen in Algerien zurück, um standardisierten und vereinfachenden Sichtweisen des Themas entgegenzuwirken.

Die eigentümliche Kombination verschiedener Denkweisen, Erkenntnisinteressen und Methoden ermöglichte Bourdieus Einsicht. Eine Einsicht ist weder eine Theorie noch ein empirisches Datum, sondern die Erfassung eines Zusammenhangs zwischen verschiedenen Phänomenen oder Begriffen. Viel mehr als eine Einsicht darf man als Wissenschaftler oder Wissenschaftlerin kaum erhoffen. Auf der Grundlage einer Einsicht lassen sich Phänomene anders deuten und erklären. Ein Beispiel für eine Einsicht ist Thomas Kuhns Erkenntnis, dass wissenschaftlicher Fortschritt keine kumulative Entwicklung ist, sondern Brüche beinhaltet, an denen eine alte Theorie durch eine neue ersetzt wird. Und der Keim eines Bruchs ist eben eine Einsicht. Sie kann in alte Theorien integriert werden, vermag aber auch als Zeitbombe zu fungieren, die langfristig zum Bruch führt.

Bourdieus Einsicht kann man mit dem Terminus »Ungleichzeitigkeit« umschreiben. Kapitalismus und traditionale Wirtschaft waren nicht passgenau auf zwei soziale Gruppen verteilt, sondern variierten nach verschiedenen Parametern. Ferner konnten Menschen in einigen Bereichen kapitalistisch handeln, ohne das konsistent zu tun oder entsprechend zu denken. Bourdieu schloss: Das Beharrungsvermögen erlernter Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsmuster hat zur Folge, dass Menschen an sozialen Wandel nicht hinreichend angepasst sind. Und das gilt natürlich insbesondere für die Menschen, die dem Wandel passiv ausgesetzt sind und ihn nicht beeinflussen können. 1962 schrieb er in einem Aufsatz über die Revolution in Algerien: »Die Durchsetzung einer gemeinsamen Sprache ist nicht gering zu schätzen. Aber man darf dabei nicht vergessen, dass sich Verhaltensweisen, Haltungen und Kategorien des Denkens nicht so leicht verändern lassen.« (2003a: 32f) Rückblickend meinte er, erkannt zu haben, dass am Schnittpunkt zwischen vorkapitalistischer und kapitalistischer Ökonomie der Habitus nicht aus den Strukturen abgeleitet werden konnte (2000c: 21). Verallgemeinert lautete die Erkenntnis, dass soziale und kulturelle Merkmale keine festgeschriebene Bedeutung und keine konstanten Träger haben, sondern je nach sozialem Kontext, historischem Zeitpunkt und Lebensphase variieren können. Sogar innerhalb der Individuen selbst konnten verschiedene Schichten existieren. 1964 stellte Bourdieu fest, dass in jedem Subjekt die alte und die neue Logik, das alte und das neue Ethos koexistierten, die kulturelle Syntax und Sprache bestehe aus unvereinbaren Fragmenten (1964a: 163). Später konnte Bourdieu die Einsicht durch Ernst Cassirers relationale Wissenschaftstheorie begründen und zu einer konsistenten Theorie ausbauen. Diese Entwicklung wird Gegenstand des zweiten und dritten Kapitels sein.

Die Einsicht stellte sich nicht von selbst ein. Sie benötigte wohl gut zehn Jahre, um zu reifen. Obgleich bereits der Anfang des ersten Buchs den Keim zur Einsicht enthält, ist sie noch nicht Grundlage der Untersuchung. Die algerische Gesellschaft lasse sich schwer analysieren, heißt es dort, weil sich die Trennlinien in vielfacher Weise überschnitten (1958: 6). Dann aber folgt eine recht klare und kategorische Gliederung in traditionale und moderne Gesellschaft. Die nächsten Veröffentlichungen hatten einen entweder politischen, ethnologischen oder soziologischen Schwerpunkt und ließen die transdisziplinäre Einsicht nicht zur Geltung kommen. Sie beschäftigten sich in erster Linie mit jeweils einem Widerspruch der Kolonialgesellschaft, mit dem Krieg (1959), mit dem Geschlechterverhältnis (1962a), mit der Klassenstruktur (1963), mit der Migration und dem Stadt-Land-Gegensatz (1964a). Erst in der Untersuchung über die Entstehung eines kalkulierenden Denkens (»Algérie soixante«) ist die Einsicht und damit auch Bourdieus Einsicht voll entfaltet.4

Im Folgenden werden die wichtigsten Ergebnisse von Bourdieus Veröffentlichungen über Algerien skizziert, die teils Etappen auf dem Weg zur Entfaltung der Einsicht, teils Elemente eines Ganzen markieren. Sie münden in den Versuch, die Ungleichzeitigkeit strukturalistisch zu erklären. Da Bourdieus Einsicht jedoch nur fruchtbar zu machen war, wenn man an der Differenz zwischen Individuum und Struktur festhielt, war der Versuch von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das Scheitern ermöglichte Bourdieu die Entwicklung seiner eigenen Theorie, deren erste Fassung in der »Theorie der Praxis« (1976; 1972) vorgelegt wurde. Sie wird im dritten Kapitel behandelt.

1.2 Traditionen

Zunächst hatte Bourdieu die Einsicht in eine Ungleichzeitigkeit innerhalb der algerischen Gesellschaft, die durch die Frage angeregt worden war, warum die Menschen nach westlichen Maßstäben in der Wirtschaft irrational handelten, obwohl sich die westliche Marktwirtschaft bereits ausgebreitet hatte. Er entdeckte, dass eingeübte Verhaltensweisen noch fortbestehen, auch wenn sich die Bedingungen bereits geändert haben. Die Menschen in Algerien handelten nicht irrational, sondern sie folgten den Verhaltensmustern, die sie gelernt hatten und über Jahrhunderte die einzig angemessenen gewesen waren. In dieser Einsicht liegt der Ursprung des Habitusbegriffs, wie auch Bourdieu selbst später meinte (Schultheis 2000: 166; siehe drittes Kapitel).5 Mit der Einsicht drängte sich darüber hinaus die Erkenntnis auf, dass die Wirtschaft kein selbständiges System ist, das vollständig aus sich heraus erklärbar wäre. Vielmehr müssen auch die jeweiligen soziokulturellen Bedingungen betrachtet werden. Nur so wird beispielsweise das »irrationale« Verhalten der Menschen in Algerien erklärbar.

Zu Beginn war Bourdieus Beschäftigung mit Algerien noch stark von einem Dualismus geprägt:

»[D]ie Erscheinungen des sozialen, ökonomischen und psychologischen Zerfalls müssen offenbar verstanden werden als Resultat des Zusammenwirkens von ›externen Kräften‹ (Eindringen der westlichen Zivilisation) und von ›internen Kräften‹ (ursprüngliche Strukturen der einheimischen Zivilisation).« (1959: 54; übersetzt von Fuchs-Heinritz, König 2005: 14)

Auf der einen Seite standen die Franzosen, auf der anderen die Algerier. Dem entsprachen zwei Wirtschaftsweisen, eine kapitalistische und eine traditionale. Bourdieu meinte, die koloniale Gesellschaft sei durch einen ökonomischen Dualismus gekennzeichnet (1962 in 2003a: 37). Eine einflussreiche Strömung der gerade entstehenden Entwicklungssoziologie suchte die Kolonialgesellschaften auf genau diese Weise zu verstehen, als duale Gesellschaften, und die Wirtschaftssysteme als duale Ökonomien. Man kann von Glück sagen, dass Bourdieu die Diskussionen in der Entwicklungssoziologie entweder nicht kannte oder sich nicht intensiv mit ihnen beschäftigte. Sonst hätte er vermutlich nicht erkennen können, dass der Dualismus die vielfältigen Verschränkungen von Tradition und Moderne verdeckt.6

Wenn Algerien in den Fünfzigerjahren nur als Konfrontation von kolonialen und traditionalen Formen zu verstehen war, musste sich Bourdieu auch mit der traditionalen Gesellschaft beschäftigen. Das tat er, wie wir gesehen haben, mit größtem Engagement. Die ersten Ergebnisse veröffentlichte er in der »Sociologie d’Algérie«. Das Werk ist noch stark dualistisch geprägt. Auch in den folgenden Werken bemühte sich Bourdieu noch, die Grundzüge der vorkapitalistischen Gesellschaft herauszuarbeiten – die es so schon lange nicht mehr geben konnte, war doch die algerische Küste mindestens seit dem antiken Griechenland integraler Bestandteil der Mittelmeerzivilisation und seit 1830 unter französischem Einfluss gewesen. Auch wenn die Ergebnisse einen idealisierten Charakter haben und nicht mehr den Standards der heutigen Ethnologie genügen, sind sie sehr interessant.

Die traditionale Gesellschaft untersuchte Bourdieu bei den Kabylen, einer ethnischen Gruppe im Bergland Nordalgeriens. Die Kabylei war wegen ihrer Topographie in den Fünfzigerjahren noch recht isoliert. Seine Bevölkerung lebte vom Anbau von Oliven, Feigen und Gemüse (1958: 9ff). Nur wenige Menschen waren zum Islam übergetreten. So meinte Bourdieu, bei den Kabylen einen »ursprüngliche Lebensweise« vorzufinden. Seine Beschreibung der Lebensweise erinnert stark an Emile Durkheim, indem die traditionale Gesellschaft als eine Art totale Gemeinschaft mit mechanischer Solidarität gedeutet wird (1958: 22ff). Durkheim hatte die Auffassung vertreten, dass es in traditionalen Gesellschaften wenig Spielraum für individuelle Abweichungen gebe und die Gesellschaft gleichsam die Substanz der Individuen sei. Selbst wenn Bourdieu für seine »Sociologie d’Algérie« Durkheim nicht gelesen haben sollte – was unwahrscheinlich ist – waren seine Gedanken doch so verbreitet, dass sie Bourdieu sicher vertraut waren. Zweifellos bildeten sie den theoretischen Boden, auf dem seine Einsicht heranwuchs. Denn Bourdieu behielt stets die Auffassung bei, dass die Menschen ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung erwarben. In diesem Sinne blieb für ihn die Gesellschaft die Substanz der Individuen. Die Existenz ungleichzeitiger Gesellschaften in Algerien führte ihn jedoch zu einer Neubestimmung von Durkheims Konzeption. Die Menschen erwerben Bourdieu zufolge zwar ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster durch soziale Einübung, aber diese Muster erweisen sich als träge, indem sie sich nicht gleichzeitig mit den sozialen Verhältnissen ändern. Die Gesamtheit der Muster ist eben der Habitus (siehe 3.1). Der Habitus wird von der Gesellschaft »eingepflanzt«, so dass ein Mensch sozial determiniert ist, aber nach seiner Einpflanzung entwickelt er eine eigene Dynamik, die nicht mit der Dynamik der Gesellschaft identisch ist. Der Habitus bestimmt das Denken, Wahrnehmen und Verhalten, aber er beinhaltet nicht die zukünftigen Bedingungen, auf die er reagieren muss. Die Bedingungen sind vielleicht determiniert, und der Habitus ist determiniert, aber ihr Zusammentreffen eröffnet verschiedene Möglichkeiten mit unterschiedlichen statistischen Wahrscheinlichkeiten. Wenn sich die Gesellschaft nicht verändert, wirkt der Habitus determinierend. Denn die Bedingungen der Einübung sind auch die Bedingungen der Anwendung, das gegenwärtige Denken, Wahrnehmen und Verhalten ist mit dem zukünftigen identisch. Genau das behauptet Bourdieu von den Kabylen (1958: 22ff). Hätte er auf der Basis von Durkheim lediglich ethnologische Feldforschung betrieben, so hätte er den vorangehend skizzierten Gedanken kaum entwickeln können. Es ist wiederum die Vielfalt der Ansätze und Probleme, die ihn über Durkheim hinausführte.

Bourdieu kam zum Ergebnis, dass die Familie der Kern und das Modell der gesamten kabylischen Gesellschaft sei (1958: 11, 20f). Das ist nicht überraschend, denn es gilt für die meisten oder vielleicht alle traditionalen Gesellschaften. In der kabylischen Gesellschaft würden, so Bourdieu, alle Verhältnisse nach dem Vorbild der Verwandtschaftsverhältnisse bestimmt, die Menschen könnten sich Beziehungen sogar nur nach diesem Muster vorstellen (1958: 21). Das Individuum sei zuerst und vor allem Mitglied einer Familie und sodann ein Mitglied der Gruppe (des Dorfes). Daher empfinde es die Regeln der Gemeinschaft nicht als Zwang, sondern als Teil seines eigenen Bewusstseins (1958: 22). Das Gemeinschaftsgefühl mache politische und rechtliche Institutionen überflüssig (1958: 24). Die Angst vor der Gemeinschaft – insbesondere vor dem Ausschluss aus der Gemeinschaft – sei bereits eine hinreichende Garantie für Konformität (1958: 22, 86). Mangelnde Konformität beschmutze das eigene Ansehen und sei ein Angriff auf die Gemeinschaft (1958: 25; 2000c: 46). Diese doppelte Sicherung bezeichnete Bourdieu als »Ehre« (1958: 23). Sie sei der einzige Verhaltenskodex.7 Tatsächlich aber sei die Ehre auch sozial abgestuft, und diese Hierarchie scheint mir eine wichtige zusätzliche Garantie der Konformität zu sein. Jede Familie habe einen Chef, ebenso jeder Clan und jeder Stamm (1958: 12, 61). Hierbei handelt es sich um die jeweils ältesten Männer. Sicherlich hatten auch die anderen Mitglieder der Gemeinschaft ihre eindeutig festgelegte (niedrigere) soziale Position (Rehbein 2004). Jede kabylische Großfamilie besitze ein Stück Land, meist ein bis zwei Hektar (1958: 11). Durch die Besitzgemeinschaft und die Anpassung des Konsums an den Jahreszyklus gebe es keinen Hunger. Da sich diese Verhältnisse prinzipiell nicht änderten, sei eine Ökonomie im Sinne eines vorausschauenden Kalküls unnötig und sogar sinnlos (1958: 11, 95; 2000c: 45).

Diese Strukturen schienen nun auch dort erhalten zu bleiben, wo die Moderne Einzug hielt – wenn die Gemeinschaften zumindest teilweise fortbestanden. Dort erwarben die Algerier und Algerierinnen weiterhin ihre Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster von ihren Vorfahren, die kulturellen Werte würden mündlich übermittelt (1958: 83). Selbst in den Städten kümmerten sich die Menschen nicht um Produktivität, Effizienz und Gewinn, sie behielten den gewohnten Tagesablauf bei (1958, 55f). Was aber geschah dort, wo die traditionalen Gemeinschaften zerstört wurden oder wo der Druck zur Anpassung an die Moderne zu groß wurde? Aus den traditionalen Strukturen fielen vor allem die Menschen heraus, die eine Lohnarbeit finden mussten und nur instabile Beschäftigung fanden. Sie waren vereinzelt.

»Der Mensch der ländlichen Gemeinschaften, der stark in gemeinschaftliche Bande verwoben ist, eng von den Alten angeleitet und von einer Fülle von Traditionen unterstützt wird, macht dem isolierten und hilflosen Herdenmenschen Platz, der aus den organischen Einheiten herausgerissen ist« (2003a: 26).

Die Auswirkungen der Vereinzelung, des Kapitalismus, der Arbeitslosigkeit, der sozialen Differenzierung untersuchte Bourdieu in den Jahren nach dem Erscheinen der »Sociologie d’Algérie« genauer. Besser gesagt, er führte die begonnenen Detailuntersuchungen fort. In ihnen tritt sein Ansatz schon recht deutlich hervor, auch wenn seine Einsicht noch nicht ganz entfaltet ist. Er fand heraus, dass gerade der Wechsel von Arbeit und Arbeitslosigkeit die Traditionen zerstörte (1962b: 1039). Die Angst vor Arbeitslosigkeit bestimmte zunehmend das Denken und Handeln der städtischen Bevölkerung (1963: 268). Die in prekären Verhältnissen lebenden Menschen brachen mit der Tradition, obwohl sich ihre Lebensweise auf den ersten Blick nicht von der traditionalen unterschied: unregelmäßiger Wechsel von Arbeit und »Freizeit«, keine Planung der Zukunft, keine Ersparnisse, keine Reflexion auf die Bedingungen und erst recht keine Bemühung zur Veränderung der Bedingungen (1962b). Unter den oberflächlichen Ähnlichkeiten verbargen sich jedoch grundlegende Differenzen: Die traditional Lebenden waren immer »beschäftigt«, auch wenn sie nicht arbeiteten, sie waren in eine Gemeinschaft integriert, sie mussten für ihren Lebensunterhalt keine Schulden machen, sie brauchten sich nicht um ihre Zukunft zu kümmern, während die Tagelöhner, Arbeitslosen und von Arbeitslosigkeit Bedrohten nicht für ihre Zukunft sorgen konnten, unehrenhaft Schulden machen mussten und vereinzelt waren (ebd.). Da sie nicht für die Zukunft planen konnten, entwickelten sie auch kein kapitalistisches Kalkül. Das war nur den Unternehmern und den stabil Beschäftigten möglich (siehe unten; vgl. Rehbein 2004). Hier sah Bourdieu die entscheidende Trennlinie in der algerischen Gesellschaft, zumindest in der städtischen. Sie ließ sich genauer bestimmen als Differenz zwischen fester Stelle und Gelegenheitsarbeit. Quantitativ ermöglichte erst ein Einkommen über 600 Francs eine rationale Planung der Zukunft und damit ein kapitalistisches Kalkül (1963: 361ff). Die Trennlinie wird in Abbildung 1 veranschaulicht. Menschen oberhalb der Trennlinie nahmen die kapitalistische Denkweise an und wiesen den geringsten Unterschied zwischen Ideologie und Verhalten auf. Dennoch machte sich auch bei ihnen noch die Trägheit des traditionalen Habitus bemerkbar. Die Menschen kehrten jederzeit zu wirklichen oder vermeintlichen Traditionen zurück, wenn die kapitalistischen Bedingungen und Handlungsmöglichkeiten verschwanden (1963: 366).

Der Kapitalismus entwickelte sich also nicht gleichmäßig. Man konnte nicht einmal sagen, dass er auf dem Land langsam und in der Stadt schnell entstand. Eher entwickelte er sich in verschiedenen Klassen unterschiedlich schnell, genauer gesagt: die Entwicklung hing von den Existenzbedingungen der Menschen ab (2000c: 24f). Bourdieu führte das kapitalistische Denken also nicht auf einen Geist und nicht auf eine Klasse zurück, aber auch nicht auf ein Bündel kultureller Merkmale. Er unterschied mehrere Klassen mit unterschiedlich ausgeprägtem kapitalistischen Denken, das wiederum der individuellen Laufbahn und den jeweiligen Bedingungen entsprechend noch einmal variierte.

»Da alles Verhalten das Resultat einer Transaktion zwischen Muster und Situation ist und die Individuen gemäß ihren Fähigkeiten und ihrem Zustand mit sehr unterschiedlichen Situationen konfrontiert sind, wird das System der Verhaltensmuster, das gemeinsame Erbe, tendenziell durch Systeme ersetzt, die für jede Klasse spezifisch sind« (1963: 382; eigene Übersetzung).

Als »Faktoren der Differenzierung« wirken sich dabei die ökonomische Notwendigkeit, die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, der Kontakt mit der europäischen Gesellschaft, das Einkommen, das Bildungsniveau und die Ideologie der Klasse aus (ebd.). Diese Gedankenfigur kommt der entfalteten Einsicht und dem Ansatz des reifen Bourdieu schon recht nahe.

Auf der Basis seiner »Faktoren der Differenzierung« unterschied Bourdieu in der städtischen Gesellschaft Algeriens vier Klassen: Subproletariat, Proletariat und Semiproletariat (neue Arbeiter und traditionelle Arbeiter), Kleinbürgertum, Bourgeoisie (1963: 365ff). Die Klassen bestimmten sich also nicht allein – wie bei Marx – durch ihren Besitz an Produktionsmitteln, aber auch nicht allein nach ihrem Einkommen. Bourdieu hielt auch nicht an der alten Einteilung in Stadt und Land bzw. westliche und traditionale Gesellschaft fest. Vielmehr überlagerten sich all diese Unterschiede mit weiteren wichtigen Differenzen. Diese differenzierte Betrachtung der Sozialstruktur ist ein wichtiger Beitrag Bourdieus zur Soziologie und hat die Sozialstrukturforschung nachhaltig verändert (siehe 5. Kapitel).

Bourdieu stellte, wie wir gesehen haben, nicht beliebige Fragen. Ihn interessierte das Leiden der Menschen in der Kolonialgesellschaft. Das moralische Elend der Menschen schien ihm dabei noch gravierender als das materielle Elend (2003a: 26).8 Auch wenn er sich diesem Leiden auf eine innovative, eigensinnige Weise näherte, war er dabei alles andere als naiv. Die Frage nach dem Kapitalismus stellte er in enger Auseinandersetzung mit Max Weber. »Es war eine webersche Frage, die ich allerdings in marxschen Begriffen stellte …« (Bourdieu, zitiert in Schultheis 2000: 166) Webers Antwort, dass die ethisch-religiöse Orientierung eine wichtige Rolle bei der Entstehung eines kapitalistischen Kalküls spiele, verwarf Bourdieu rasch. Algerien habe viel mit nicht-islamischen Gesellschaften gemeinsam, der Islam sei weder Ursache noch Folge der Sozialstruktur (1958: 96). Und die Sozialstruktur fasste Bourdieu in marxschen Begriffen.

Aus heutiger Sicht erscheint der Verweis auf Marx vielleicht etwas irreführend, denn Ausführungen über »Das Kapital« – also Begriffe wie Wert, Arbeitszeit, Profit – sucht man in Bourdieus Frühschriften vergeblich. Mit dem Verweis auf Marx konnte nur der Klassenkampf gemeint sein. Während des algerischen Kolonialkriegs bis weit in die Siebzigerjahre hinein war die Frage nach der Revolution das beherrschende Thema der politischen Linken. Und das war keine Spinnerei Pariser Intellektueller, sondern rund um die Welt Realität. Nachdem das geographisch größte Land 1917 eine sozialistische Revolution erlebt hatte, folgte 1949 mit China das bevölkerungsreichste Land. Die französische Kolonie Indochina verlor 1954 Nordvietnam, während die Vereinigten Staaten die Teilung Koreas akzeptieren mussten. Überall in der »Dritten Welt« entstanden sozialistische Befreiungsbewegungen. Die USA, die 1945 Frankreich noch dafür getadelt hatten, seine Kolonialherrschaft wiederherstellen zu wollen, stellten sich wenig später auf die Seite der Kolonialherren. Nun hieß es für sie, Sozialismus oder Freiheit (Kapitalismus). Für die meisten Pariser Intellektuellen war die Frage längst beantwortet. Ihre Fragen lauteten, wo die Revolution stattfinden sollte, ob sie dem chinesischen oder dem sowjetischen Vorbild zu folgen hätte, ob die Bauern oder die Arbeiter sie vollziehen würden.

Bourdieu konnte sich dem politischen Diskurs, der ja reale Grundlagen hatte, nicht entziehen. Er wollte nur nicht intuitiv Partei ergreifen, sondern die Fragen wissenschaftlich beantworten: »man musste die Frage beantworten, ob die Bauern oder das Proletariat die revolutionäre Klasse sind. Ich habe versucht, diese fast metaphysischen Fragen in wissenschaftliche Begriffe zu übersetzen.« (2003a: 44) Auch in dieser Hinsicht stand Bourdieu quer zu allen Fronten. Die »fast metaphysischen Fragen« mussten in Paris am Schreibtisch gelöst werden, während sich echte Wissenschaftler mit allem beschäftigten, nur nicht mit der Revolution. Wenn man sich mit der Entstehung eines kapitalistischen Denkens beschäftigte, so war man Anhänger Max Webers, und wenn es um den Klassenkampf ging, musste man sich hinter Marx stellen. Und in Algerien stand man als Franzose auf der falschen Seite. Bourdieu missachtete diese eindeutigen Zuordnungen. Wenn Bourdieu Webers Frage »in marxschen Begriffen stellte«, so heißt das, dass er eine kapitalistische Wirtschaftsethik nicht in der Religion suchte, sondern in den Klassenkämpfen. Umgekehrt setzte er keineswegs die marxsche Lehre der zwei Klassen voraus, sondern suchte die Klassen empirisch zu bestimmen, und zwar nicht nur ökonomisch.