Kalt wie Eis - Felix Münter - E-Book

Kalt wie Eis E-Book

Felix Münter

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Beschreibung

Die Küstenstadt Zitrabyt am eisigen Firnmeer wird seit Anbeginn der Zeit von unzähligen Zwergenclans friedlich bevölkert. Nun deutet sich jedoch eine Verwerfung des Status Quo an: Das Gerücht über die Sichtung großer Walflotten vor den Küsten löst – in der Hoffnung auf reiche Beute – ein regelrechtes Wettrennen aus. In der Hoffnung, sich einen Vorteil und mehr Einfluss sichern zu können, setzen die Clans ihre Flotten in Bewegung. Bald schon gibt es Berichte, dass diese untereinander in Konflikt geraten: Im Kampf um die besten Jagdgründe attackieren sie sich gegenseitig, versenken und kapern mitunter. Die Hafenmeisterin und Friedenswahrerin Vychoda hat die Vermutung, dass der Streit bewusst geschürt wird. Da sie als Parteiische wenig ausrichten kann, wendet sie sich an einen alten Freund: den Gnom Baro. Zusammen mit seiner Leibwächterin Marca soll er Beweise für Vychodas Vermutung sammeln ... Ein neues Abenteuer aus Lorakis, der fantastischen Welt des preisgekrönten Rollenspiels Splittermond!

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Seitenzahl: 378

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Autoren: Felix Münter

Lektorat: Jörg Löhnerz

Korrektorat: Alex Polochowitz und Heimke Husmann

Umschlaggestaltung und Satz: Oliver Graute

Umschlagillustration: Florian Stitz

© Feder&Schwert 2018

E-Book-Ausgabe 2018

ISBN 978-386762-332-2

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-86762-331-5

Kalt wie Eis ist ein Produkt der Feder & Schwert GmbH unter Lizenz des Uhrwerk Verlages. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlages.

Die in diesem Buch beschriebenen Charaktere und Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit zwischen den Charakteren und lebenden oder toten Personen ist rein zufällig. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf Firmen oder Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar.

www.feder-und-schwert.com

www.splittermond.de

Kapitel I

Der Hafen im Eis

Der Wind kam aus Westen und er blähte die gestreiften Segel des Langboots auf. Das Schiff pflügte durch die Wellen des tiefblauen Firnmeers. Frost lag in der Luft. Frost lag hier im hohen Norden immer in der Luft.

Das Langboot machte gute Fahrt, hielt sich im Schatten des Kontinents und folgte dem Verlauf der Küste gen Osten. Während der Blick auf die Landschaft an Steuerbord Sicherheit und Vertrautheit, zumindest aber festen Boden unter den Füßen versprach, war es mit dem Panorama an Backbord anders. Dort erstreckte sich das dunkle, beinah schwarze Meer bis zum Horizont. Hier und da schimmerte und glitzerte es auf den Fluten. Doch es war kein Widerschein der Sonne, die hinter einem dichten Wolkenschleier lag und nur diffuses Licht spendete. Es war Eis. Brocken, größer als Häuser und Schiffe, die ganz im hohen Norden abgebrochen waren und nun behäbig in der Strömung nach Süden trieben.

Am Bug des Langboots standen zwei Gestalten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können: Die eine war klein, kaum größer als einen Meter und eingepackt in dicke Winterkleidung. Aus der Ferne hätte man sie für ein Kind halten können, doch wie viele Kinder gab es denn, die genüsslich an einer Meerschaumpfeife sogen und dichte Rauchwolken auspafften? Neben dem rauchenden Gnom erhob sich eine über zwei Meter große Gestalt, die ihn noch viel kleiner wirken ließ, als er wirklich war. Auch sie trug dichtes Fell, das gegen die Kälte schützte, doch es war ihr eigenes. Es handelte sich um einen kräftigen Varg mit dunkelgrauem Fell. Es gab zwei Arten von Vargen: jene, die Füchsen auf zwei Beinen ähnelten und vor allem im fernen Osten, in Takasadu lebten und jene, die an Wölfe auf zwei Beinen erinnerten. Bei dem Exemplar neben dem kleinen Gnom handelte es sich eindeutig um einen Wolf. Genau genommen um eine kräftige Wölfin. Sie blickten hinaus auf das Meer und während in den orangenen Augen des Gnoms Freude und Faszination blitzten, ein Schimmer, der ihn schon seit Jahren begleitete, starrten die bernsteinfarbenen Augen der Vargin skeptisch auf das in der Ferne treibende Eis.

„Was stört dich?“, fragte der Gnom und reckte den Kopf zu seiner Begleiterin. Seine Haut hatte einen grauen Schimmer und es war schwer zu sagen, ob es der Staub des Reisens war, der ihm noch in den Poren lag oder etwas anderes.

„Das verdammte Eis, Baro“, brummte die Vargin und fletschte die Zähne. „Diese Brocken sind mir nicht geheuer.“

„Sie sind weit genug weg“, erklärte der Gnom beschwichtigend und deutete mit dem Pfeifenstiel zum Heck des Langboots. „Zumindest sagt der Kapitän das.“

Die Vargin rümpfte die Nase und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Und was, wenn er falsch liegt?“

„Dann werden wir wohl schwimmen müssen, Marca“, lächelte der Gnom.

„Schwimmen!“ Die Vargin schüttelte den Kopf und wischte mit ihrer rechten Pranke über die Reling, auf der sich die Eiskristalle festgesetzt hatten. Unter ihren Krallen entstand ein schabendes Geräusch. „Wir würden es nicht mal bis an Land schaffen.“

„Wie lange sind wir jetzt schon gemeinsam unterwegs, Marca?“, fragte Baro und steckte sich seine Pfeife in den Mundwinkel. „Ich habe dich noch nie so angespannt erlebt.“

„Liegt vielleicht daran, dass wir in den letzten zehn Jahren meistens unsere Füße genommen haben“, antwortete sie zischend. „Es sind diese Schiffe. Und das Meer.“ Sie streckte ihren Arm aus und der Wind bauschte ihr Fell. „Schau dir das an! Wenn die Götter gewollt hätten, dass wir uns im Wasser aufhalten, dann hätten sie uns doch Schuppen und Schwimmhäute gegeben!“

„Wer versteht schon die Pläne der Götter?“ Baro zuckte mit den Schultern. „Schau dir doch mein Volk an. Wir sind klein. Flink vielleicht auch, aber – wie du immer sagst – zerbrechlich. Man könnte doch meinen, dass wir dafür geschaffen sind, an einem Ort geboren zu werden und diesen nie zu verlassen. Stattdessen aber werden viele Gnome von einem Drang angetrieben, die Welt zu sehen und zu wandern. Wenn die Götter das gewollt hätten, hätten sie uns doch wenigstens lange Beine geben können!“

Sein Grinsen war ansteckend und es sorgte dafür, dass Marca einmal laut auflachen musste.

„Baro, du bist einfach vom Fernweh getrieben. Das ist alles. Andere Gnome in deinem Alter haben begriffen, wie gefährlich die Welt sein kann und sich niedergelassen. Du hingegen…“

„Ich hingegen?“, echauffierte sich der Gnom und stemmte die Hände in die Hüften. „Du sprichst ja mit mir, als ob ich uralt wäre!“

„Du bist älter als die meisten Varge, die ich kenne.“

„Ich bin vierundvierzig Jahre alt“, gab er zurück. „Für einen Gnom ist das nichts!“

„Für die meisten von euch ist die Zeit lang genug, um endlich die Flausen mit der Wanderschaft zu vergessen.“

Die beiden sahen sich an und begannen herzlich zu lachen. Einige Momente trat danach das Schweigen zwischen die beiden und sie blickten einfach weiter hinaus auf das Meer, spürten den Wind und rochen das Salz. Eine kreischende Möwenschar folgte dem Langboot eine Weile, drehte dann jedoch wieder in Richtung Land ab. Marca räusperte sich.

„Wie ist es dort, Baro?“

„Wo?“

„In…“, sie verzog kurz das Gesicht und versuchte dann, das richtige Wort zu formen. „In… Zitra…byt.“ Es war nicht so, als ob der Name ihr Schwierigkeiten bei der Aussprache machte, er schien nur so ungewohnt.

„Du wirst es sehen“, meinte der Gnom, nahm die Pfeife aus dem Mund und sah auf die glimmende Asche. „Und du musst es sehen, um es glauben zu können.“

„Das soll mich beruhigen?“

„Es ist eine Stadt aus Eis. Im Eis“, erklärte der Gnom und sah seine Begleiterin an. „Einzigartig, nach allem was ich weiß. Eine Kaverne mitten im Eispanzer des Kontinents“, führte Baro mit leuchtenden Augen aus. „Wenn man in den Hafen einfährt, dann befindet man sich unter meterdicken Eisschichten und…“

„Unter Eis“, raunte Marca kopfschüttelnd und unterbrach ihn. „Und das soll mich beruhigen?“

„Ich hoffe doch. Oder hast du kein Vertrauen in die Baukunst der Zwerge?“, entgegnete Baro. Seine Stimme war dabei so leise geworden, dass sie nicht zu den anderen Passagieren auf dem Langboot getragen wurde. Denn bei ihnen handelte es sich ausnahmslos um Zwerge.

„Wenn Zwerge in Erde und Stein bauen, dann halten ihre Bauwerke“, tat Marca die Frage mit einer Handbewegung ab. „Aber das hier ist Eis. Eis ist… flüchtig. Es schmilzt doch.“

„Gut beobachtet. Ja, es schmilzt. Wird wieder zu Wasser. Aber hier oben im Norden ist es anders. Es ist so kalt, dass das Eis gar nicht schmelzen kann.“

„Du willst mir also erzählen, dass es noch kälter wird?“, fragte die Vargin und sog hörbar Luft durch die Nase.

„Ein bisschen. Aber Kälte dürfte für dich doch eigentlich kein Problem sein, dachte ich.“

„Nur weil ich Fell habe, heißt das ja nicht, dass Eis und Schnee mich nicht stören.“

„Sicher.“ Baro versuchte mit seinem Pfeifenwerkzeug der schwindenden Glut Herr zu werden, ein Unterfangen, das wegen der dicken Handschuhe zum Scheitern verurteilt war. Er seufzte, reckte seinen Arm über die Bordwand und schüttelte die Pfeife behutsam aus. Die Reste des glimmenden Pfeifenkrauts rieselten zischend auf das Wasser und versanken, nicht aber ohne noch einmal ihre starke, süße Schwere zu verbreiten. „Du wirst schon sehen, es wird dir gefallen.“

„Hmmm…“ Marca klang mürrischer als sie eigentlich wollte und kratzte sich hinter dem Ohr. Ihre Ohrringe klimperten. „Und du warst schon einmal da? Wie kam das?“

„Mein Fernweh, würde ich meinen.“ Baro reckte erst den einen Fuß und dann den anderen vor. „Und natürlich dank denen hier. Ich kann sie eben nicht still halten.“

„Da steckt doch sicher mehr dahinter“, meinte die Vargin und sah ihn eindringlich an.

„Muss denn hinter jeder Reise eine große Geschichte stecken? Ich denke es ist anders. Du gehst auf Reisen und wenn du Glück hast, findest du eine große Geschichte. Wenn nicht, dann siehst du eben nur die Welt. Und allein das ist es wert, aufzubrechen.“

Gegen Abend änderte sich der Kurs des Langboots: Der Kapitän lenkte sein Schiff etwas weiter auf das Meer hinaus und ließ dann die Segel einholen. Während Marca das Manöver argwöhnisch beobachtete, war Baro die Ruhe selbst, denn er wusste was folgte. Mit gebrüllten, zackigen Kommandos brachte der Kapitän seine Mannschaft an die Ruderbänke, dann wurden die Riemen zu Wasser gelassen. Wieder blaffte der Kapitän ein Kommando, dann begannen die Zwerge zugleich mit einem kräftigen Ruderschlag, der das Langboot spürbar vorantrieb. Die ersten Schläge bedurfte es der dröhnenden Stimme des Kapitäns – einem breitschultrigen Zwerg mit langem und dichtem Bart bis zum Gürtel und einem Holzbein – dann fand die Mannschaft ihren Rhythmus. Einer der Ruderer begann ein einfaches Lied zu singen, die anderen Zwerge wiederholten den Refrain. Das Lied handelte von einem Kaperschiff voller Zwerge, das ausfuhr, um sein Glück und reiche Beute zu suchen. Doch das Schicksal wendete sich immer wieder auf komische Weise gegen sie. Das Lied brachte zum Schmunzeln, sparte nicht vor Übertreibungen und Seemannsgarn – aber es erfüllte vor allem einen Zweck: Sein Rhythmus hielt die Ruderer im Takt. Der Kapitän schien zufrieden mit der Arbeit seiner Mannschaft, nickte anerkennend und ging über den Mittelgang zurück zum Steuermann.

Das Langboot hatte den Scheitelpunkt seines Kurses erreicht. Nachdem es zuerst weiter aufs Meer hinausgefahren war, ließ der Kapitän den Bug nun wieder landwärts einschlagen. Mit jedem Pull an den Riemen näherte sich das Schiff nun der schroffen Küste. Die Zwerge hatten Gelegenheit zu zeigen, was in ihnen steckte, ihre kräftigen Arme sorgten für beachtliche Beschleunigung.

Marca blickte in Richtung Land. Mittlerweile war Dunst aufgezogen, die Sichtweite nicht mehr so gut wie noch am Mittag. Zwischen den nebligen Schwaden waren die Umrisse der Küste zu erkennen, doch es hätten genauso gut auch nur trügerische Schattenwürfe sein können. Sie kniff die Augen zusammen und spähte angespannt in den Nebel, dann entdeckte sie das warme, helle Leuchten. Die Vargin legte ihre Pranken auf die von Raureif überzogene Reling und beugte sich vor, sah, wie das Licht heller wurde. Es schien über der Küstenlinie zu schweben und hatte eine solche Intensität, dass Marca sich fragte, warum es ihr nicht schon viel früher aufgefallen war. Das Langboot jedenfalls richtete sich nach dem Licht aus und an Bord schien es niemanden zu stören, dass jeder Ruderschlag näher an die gefährliche Küste führte.

Wellen rauschten und brachen sich krachend an Klippen, die im Dunst auftauchten. Die Vargin, die eigentlich mit allen Wassern gewaschen war und eine Menge Gefahren gesehen und durchgestanden hatte, spürte, wie ihr Herz zu stampfen begann. So nah an der Küste war das Meer tückisch, unter den wogenden Fluten verbargen sich scharfkantige Felsen, die nur manchmal an den Schaumkronen der Wellen zu erkennen waren. Andere Klippen ragten viele Meter aus der Brandung. Es war ein gefährliches Wasser, in das sie sich begeben hatten und Marca blickte über ihre Schulter zum Kapitän. Der hatte mittlerweile das Ruder vom Steuermann übernommen, stand dort still wie eine Statue, die Augen zu Schlitzen verengt. Die Bewegungen seines Arms waren viel filigraner, als man es einem Mann mit seiner Erscheinung zugetraut hätte und das Boot reagierte auf jede noch so kleine Regung des Ruders. Mit stoischer Ruhe brachte der Kapitän sein Schiff vorbei an den zahllosen Klippen, manchmal so dicht, dass Marca die Muscheln, die sich an ihnen festgesetzt hatten, hätte zählen können.

„Da wird einem anders, was?“, fragte Baro. Der Gnom war neben sie getreten und schien sich an der drohenden Gefahr gar nicht zu stören.

„Wie kannst du nur so ruhig bleiben?“, presste Marca hervor, die ihren Blick nicht vom Fahrwasser nehmen konnte. Sie erwartete jeden Moment, einen verräterischen Wellenkamm, eine Verwirbelung, die Spitze eines Felsbrockens zwischen den Fluten zu erblicken.

„Ich habe es schon einmal erlebt“, antwortete der Gnom. „Und mir ging es nicht anders, das kannst du mir glauben. Aber der Kapitän versteht sein Handwerk. Sie lassen niemanden eins der Boote kommandieren, wenn er kein Händchen dafür hat.“

„Er muss sich nur einmal vertun, das Schiff nur ein wenig falsch ausrichten. Oder in eine unerwartete Strömung geraten…“, flüsterte Marca. Ihre Ohren hatten sich aufgestellt, ihr Schwanz war starr.

„Ich glaube, er könnte den Weg auch finden, wenn er schlafen würde“, fand Baro und nickte in Richtung des holzbeinigen Kapitäns. „Entspann dich. Und genieß den Ausblick.“

„Das ist leichter gesagt als…“, setzte sie an und verstummte.

Der Nebelschleier riss auf und wenige Schiffslängen vor dem Bug des Langboots erhob sich die schroffe, steile Küste aus Eis. Marca entglitt ein erstaunter Schrei, ihre Augen weiteten sich. Dann erst begriff sie, dass das Langboot nicht auf Kollisionskurs mit der Wand aus Eis war. Verborgen zwischen einigen mächtigen, scharfkantigen Felsen die wie Wellenbrecher wirkten, gab es ein ovales Loch im Eis, drei oder vier Schiffslängen breit. Die Einfahrt in die Kaverne wurde zu beiden Seiten von Tranfeuern markiert, deren dichter, schwarzer Qualm hinaus auf das Meer gerissen wurde. So nah an der Küstenlinie war die Strömung wild und brutal, das Langboot wurde von zwei Schlägen getroffen, die nicht nur Marca, sondern auch Baro zusammenzucken ließen. Dann aber hatte der Bug des Langboots diese Zone durchstoßen, passierte unbeschadet die Klippen und fuhr in die Kaverne ein. Marca hob den Kopf, erwartete, dass die Mastspitze des Langboots mit dem Eis kollidierte – doch oberhalb des Masts waren noch einige Meter.

„Unglaublich …“, hauchte sie.

„Hab ich es nicht gesagt?“ Baro lächelte breit und versetzte ihr einen Stoß mit dem Ellbogen, der aufgrund seiner Körpergröße aber nur auf Höhe ihres Oberschenkels lag. „Und es wird noch besser.“

Das Langboot glitt durch einen breiten Tunnel im bläulich-weißen Eis. Alle paar Meter säumten magische Laternen den Weg und sorgten für ein atemberaubendes Farbspiel. Schlagartig schienen das Meer und die tosende Brandung so weit entfernt. Das allgegenwärtige Eis schluckte jedes Geräusch und wirkte wie ein undurchdringlicher Panzer. Zu beiden Seiten des Tunnels hatte man einen Steg aus dem Eis geschlagen, an einer Stelle waren einige Zwerge mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt. Kleine, kräftige Gestalten in Pelz und Leder, die das Eis bearbeiteten wie ihre Artgenossen anderswo auf dem Kontinent den Stein. Sie blickten auf, als das Schiff passierte und grüßten. Baro und Marca konnten die Blicke der Arbeiter auf sich spüren.

„Die haben hier sicher nicht oft Gäste, was?“, raunte die Vargin.

„Selten. Und ich schätze, du bist die einzige Vargin, die es nach Zitrabyt geschafft hat.“

„Was für eine Ehre…“

Der Tunnel maß vier oder fünf Schiffslängen und mündete dann in eine Kaverne. Die Einfahrt in die Stadt im Eis war schon eine einzigartige Erfahrung gewesen, doch die Kaverne übertraf alles noch einmal um Längen. Zitrabyt lag unter einem dicken Eispanzer mitten an der Küste und die Frynjord hatten es geschickt verstanden, die Gegebenheiten des hohen Nordens für sich zu nutzen. Die Gletscherzwerge hatten eine ganze Stadt unter dem tonnenschweren, meterdicken Eis errichtet. Der Kavernenhafen, in den das Langboot einfuhr, war imposant: Seine kuppelförmige Decke spannte sich weit über den Köpfen, war drei oder vier Mal höher als der Mast des Schiffs, mit dem Baro und Marca gekommen waren. Die Höhle beschrieb ein Oval und an ihren Seiten ragten Stege in das azurblaue Wasser, einige davon aus weißem Eis, andere aus Holz. In der hinteren Hälfte der Kaverne begann die eigentliche Stadt. Hier erhoben sich Bauten, die an einem Stück aus dem Eis gehauen waren, kunstvolle Zeugnisse der Handwerkskunst der Frynjord. Doch nicht alles in Zitrabyt war aus Eis: Die Hafenstadt musste am Rande eines Gletschers liegen, die südlichen und westlichen Wände der Kaverne schimmerten dunkel. An einigen Stellen war das Eis vollständig abgetragen und der nackte Fels kam zum Vorschein. Die Zwerge hatten Stollen und Tunnel getrieben, Kammern und Säle aus Eis und Fels geschlagen. Unter der Decke der großen Kaverne verliefen schmale Stege in schwindelerregenden Höhen, an ihnen hingen wiederum Laternen, deren gleichmäßige, goldene Leuchtkraft es schaffte, die gesamte Höhle auszuleuchten.

Das Langboot passierte breite Rampen im vorderen Teil der Kaverne. Das Leben im hohen Norden war hart und die Gletscherzwerge hatten schnell erkannt, dass sie hinaus aufs Meer mussten, wenn sie überleben wollten. Binnen weniger Jahre hatte sich so eine Walfangtradition etabliert, die sich als meisterhaft bezeichnen ließ. Die Rampen waren untrügliches Zeichen dessen: Sie führten hinauf zum Zerlegeplatz, dem Flensplan, und waren gesäumt von mächtigen Kränen. Das Eis hier hatte eine rosa bis rötliche Färbung, untrügliches Zeichen der erfolgreichen Fänge der vergangenen Sommer. Jetzt aber waren die Flenspläne leer.

An den Stegen und Piers von Zitrabyt lagen nur wenige Schiffe und während Marca dieses Detail nicht einordnen konnte, wusste Baro dafür eine einfache Erklärung. Es war Sommer. Die Flotten der Frynjord fuhren in den wenigen warmen, eisfreien Monaten weit hinaus auf das Meer um sich tagelang auf die Pirsch nach den Walschulen zu begeben. Die Gletscherzwerge hatten immer nur einige Wochen des Jahres, um Vorräte für den Rest der Zeit anzulegen, denn je weiter das Jahr voranschritt, umso weiter wanderte auch der Eispanzer aus dem Norden über das Meer. Die Winter waren unbarmherzig und so kalt, dass das Meer bis vor die Pforten von Zitrabyt gefror.

„Du hast nicht zu viel versprochen“, gab Marca zu, als sie den Anlegestellen entgegenfuhren.

„Es ist eine Reise wert, wie ich gesagt habe.“

„Bei dir ist immer alles eine Reise wert, Baro“, kommentierte die Vargin kopfschüttelnd.

„Lag ich denn irgendwann falsch?“

„Kommt ganz darauf an. Das ein oder andere Problem wäre uns sicher erspart geblieben.“

„Problem.“ Baro winkte ab. „Was du Problem nennst, nenne ich Erfahrung. Außerdem sind es doch Abenteuer. Und sind das nicht die Dinge, von denen ihr Varge euch so gerne erzählt?“

„Nichts ist gegen eine gut erzählte Geschichte eines noch besseren Abenteuers einzuwenden“, stimmte Marca zu.

„Also. Schätze, wir haben nun schon eine ganze Menge erlebt, von dem du erzählen kannst wenn du alt und grau geworden bist.“ Baro schmunzelte und zupfte einmal am Fell der Vargin. Er machte diesen Scherz oft, und sie konnte nur die Augen verdrehen und brummte.

„Dieser Witz wird nie alt, was?“

„Mir gefällt er.“

„Immerhin einem von uns. Wie geht es jetzt weiter?“

„Wir bleiben ein paar Tage hier, vielleicht etwas länger. Wenn wir Glück haben, können wir uns einem der Züge anschließen, die von hier nach Zimahora gehen.“

„Aber nicht wieder mit dem Schiff, oder?“

„Ich kann dich beruhigen.“ Baro hob beschwichtigend die Hände. „Zitrabyt ist die einzige Hafenstadt, die es hier gibt. Weiter kommenen wir nur auf althergebrachte Art und Weise. Mit unseren Füßen.“

„Und? Ist diese andere Stadt sehenswert?“

„Das weiß ich nicht“, gab der Gnom zu. „Ich war noch nicht dort. Das letzte Mal, als ich nach Zitrabyt kam, war der Sommer schon beinahe vorüber und ich hatte die Wahl, nur ein paar Tage hier zu bleiben und dann eines der letzten Schiffe nach Süden zu nehmen oder den ganzen Winter zu bleiben. Das war mir dann doch zu lang.“

„Ja.“ Sie musste grinsen. „Du wärst wahnsinnig geworden, wenn du so lange an einem Ort geblieben wärst.“

„Ein Gnom muss eben tun, was ein Gnom tun muss“, erklärte Baro. „Die Welt ist so groß, da wäre es doch eine Schande, wenn man sein ganzes Leben nur die gleichen Ecken gesehen hätte, oder? Wovon soll ich meinen Enkeln denn einmal erzählen, wenn ich dann alt und grau bin?“ Wieder wanderte das Grinsen über seine Lippen und er begann eine brüchige, alte Stimme zu imitieren. „Kinder, heute will ich euch von meinem eintönigen Leben erzählen…“ Er schüttelte den Kopf und räusperte sich, sprach wieder mit normaler Stimme weiter. „Das will doch niemand hören! Hab ich dir schon mal von meinem Großvater erzählt?“

„Viele Male.“

„Macht nichts. Ich kann es nicht oft genug sagen. Sein größtes Erlebnis war, dass er in jungen Jahren einmal ein paar große Städte besucht hat. Das musst du dir vorstellen! Die erzählenswerten Dinge waren immer, dass er eine Stadt gesehen hat. Kannst dir ja vorstellen, wie langweilig seine Erzählungen nach dem ersten Mal waren. Keine Abenteuer, nichts, was begeistert.“

„Ja, ja“, winkte Marca ab. „Das erzählst du immer wieder. Baro, es ist mir doch egal, warum du reist. Aber solange du mit mir reist, musst du damit leben, dass ich von Zeit zu Zeit einen spitzen Kommentar habe. Das gehört dazu.“

„Es macht diese Reisen eigentlich auch ganz angenehm“, gab er zu.

Kapitel II

Böses Blut

Das Langboot trieb einem der hölzernen Piers entgegen und behände sprangen einige junge Zwerge auf die Planken, um es zu vertäuen. Baro und Marca verabschiedeten sich vom Kapitän und seinen Leuten, zahlten für ihre Passage und gingen an Land. Mit dem Gepäck über den Schultern – Baro trug einen prall gefüllten Rucksack, der ihn beinah überragte, Marca neben einem Rucksack noch ein beachtliches, in Öltuch eingeschlagenes Waffenarsenal unter dem Arm – marschierte das ungleiche Duo in Richtung der Gebäude. Es war ein langer Pier und ihr Schiff hatte am entferntesten Ende angelegt. Auf halbem Weg zu den Häusern lag ein weiteres Langboot. Es schien ebenfalls noch nicht lange eingefahren zu sein, die Mannschaft war noch an Bord beschäftigt.

Als der Gnom und die Vargin noch eine Schiffslänge entfernt waren, tönte vom Anfang des Piers ein lauter Pfiff, der sie verharren ließ. Sie wurden Zeuge, wie eine ganze Gruppe Zwerge, wahrscheinlich handelte es sich um eine Mannschaft, den Pier erreichte und schnellen Schrittes zum Langboot eilte. Man musste kein Hellseher sein, um zu bemerken, dass sie nicht bei bester Laune waren: Ihre Gesichter waren rot vor Wut, die Augen zornig, die Fäuste geballt. Sie schrien und krakeelten und machten damit die zweite Mannschaft, jene Zwerge auf dem Boot, auf sich aufmerksam.

„Was wird das, Baro?“, flüsterte Marca und schob Kopf und Schultern etwas nach vorn. Im Gegensatz zu Baro war Marca des Fryntos, welches die Gletscherzwerge sprachen, nicht mächtig. Baro hatte zwar die Reise genutzt um seiner Freundin die grundlegenden Begriffe zu vermitteln, doch damit war wenig anzufangen. Auf eines aber konnte die Vargin sich verlassen: Auf ihr Gespür, das auf den Reisen fein ausgeprägt worden war. Und genau dieses Gespür war angeschlagen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte Mimik und Gestik der Zwerge zu lesen.

„Willkommen in Zitrabyt“, meinte Baro und rieb sich die behandschuhten Hände. „Es sind Zwerge, die mitten im Eis leben. Was glaubst du denn, wie die Sitten hier sind?“

„Du meinst …?“

„Denke, die werden nicht gekommen sein, um sich über die letzten Fänge zu unterhalten“, stimmte der Gnom zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir werden es aber gleich erleben. Schätze, wir kommen eh nicht an denen vorbei, solange die dort zugange sind.“

Damit lag er richtig. Die aufmarschierende Zwergengruppe sorgte dafür, dass die andere Mannschaft ihrerseits vom Langboot sprang und sich auf dem Pier formierte. An ein Durchkommen war wirklich nicht zu denken.

„Wie wird es ablaufen?“, brummte die Vargin und ließ ihre Schultern rollen.

„Sie werden sich erst anbrüllen, dann wird irgendwer etwas sagen, was das Blut zu sehr zum Kochen bringt und sie beginnen, sich ordentlich zu vermöbeln“, erklärte Baro mit beängstigender Ruhe und suchte nach einer seiner Pfeifen. „Wenn dann alles fertig ist, gehen die Mannschaften auseinander und heute Abend werden sie sich dann in irgendeiner Kneipe treffen und gemeinsam saufen.“ Er seufzte. „Es ist immer dasselbe.“

„Bist du dir sicher?“ Die Vargin musterte die aufmarschierenden Zwerge. Es war nicht so, dass sie Interesse daran hatte, in einen Kampf gezogen zu werden, der nicht ihrer war – doch Marca hatte ein Gespür dafür, wenn Dinge gefährlich wurden. Genau dieses Gespür meldete sich jetzt und ihre Ohren stellten sich auf. Baro bemerkte dies natürlich und schnalzte mit der Zunge.

„Beruhige dich. Wir können auch einfach ein wenig hier warten.“

„Und wenn sie sich zu fest die Schädel einschlagen? Wenn einer von ihnen eben nicht mehr aufstehen wird?“

„Das wird nicht passieren“, winkte der Gnom selbstsicher ab und stopfte bereits Kraut in den Pfeifenkopf.

„Du sprichst doch ihre Sprache, Baro.“

„Aber ja.“

„Übersetz mir, was sie sagen.“

„Wenn es dich beruhigt“, stimmte Baro zu und übersetzte ihr alles, was folgen sollte.

Die beiden Zwergengruppen hatten sich derweil beinahe erreicht. Sie blieben einige Schritte voneinander entfernt und blafften sich Verwünschungen zu. Auf beiden Seiten standen mehr als zwanzig Zwerge jeden Alters und jeden Geschlechts, sie bildeten Mauern aus Zorn und Verachtung. Etwas braute sich wie ein Gewittersturm zusammen und es war nur eine Frage der Zeit, bis es zur Entladung kommen musste. Jetzt, da sie alle still standen, war zu erkennen, dass sich die beiden Gruppen anhand von Wappen unterschieden, die sich in ganz unterschiedlicher Form auf ihren Kleidern fanden. Die Mannschaft, die gerade noch auf ihrem Langboot gearbeitet hatte, war an der Silhouette eines weißbärtigen Zwergengesichts zu erkennen, das einen einfachen Helm trug. Auf den Kleidern der zweiten Gruppe, die heranmarschiert war, zeigte sich ein durch drei Linien angedeuteter Wind, um den sich eine mächtige Faust schloss.

„Ihr räudigen Hunde!“, schallte es aus Richtung der heranmarschierten Mannschaft. „Habt ihr eure Klüven nicht offen gehabt, oder was? Ihr verdammten Eisbärte hättet uns im Nebel beinah erwischt!“

„Lügner!“, wurde aus Richtung der Eisbärte – das war offensichtlich der Name ihrer Sippe – zurückgebrüllt. „Draußen in dieser Hechtsuppe war nichts!“

„Gesoffen habt ihr auch noch, oder was?“, schallte es zurück. „Euer verdammter Kahn hat unser Boot fast erwischt! Dreckige Ratten!“

„Ja, so kennen wir die Windzwinger“, tönten die Eisbärte. „Wahrscheinlich nichts gefangen und jetzt hier eine dicke Lippe riskieren, damit ihr vor eurem Alten besser dasteht!“ Aus den Reihen der Eisbärte tönte hämisches, schmerzendes Gelächter, auf Seiten der Windzwinger verfinsterten sich die Mienen.

„Wer von euch Küstenschiffern hat das gesagt?“, keifte eine raue Frauenstimme aus dem Lager der Windzwinger. Die Menge teilte sich und eine kräftige Zwergin mit blondem Haar trat vor. Sie trug ihren Schopf mit vielen Zöpfen und in jeden davon waren Perlen und andere Dinge eingeflochten. Ihr Blick war hart, ihre Nase krumm, ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie in ihrem Leben an mehr als an einer Schlägerei teilgenommen hatte. Ihr Mantel zeigte das Wappen der Windzwinger, doch es war kunstvoller gearbeitet als bei ihren Begleitern. „Na, wer war es?“, bellte sie die Eisbärte an. „Ich geb‘ ihm meine Faust zu fressen!“

„Kannst die Wahrheit wohl nicht ertragen, was?“, brüllten die Eisbärte zurück.

Die Zwergin starrte zornig in die Menge, schnell hatte sie den ausgemacht, der den Mut gehabt hatte, ihr zu antworten. Sie hob die Hand und deutete auf den Zwerg, einen rotnasigen Kerl mit Walroßbart. „Dein Gesicht hab ich mir gemerkt. Wenn das hier vorbei ist, wirst du ein paar neue Zähne brauchen!“

„Oh, ich zittere!“, lachte der Angesprochene zurück.

Dann ging alles ganz schnell. Aus Richtung der Eisbärte flog etwas über die Köpfe hinweg und landete klatschend inmitten der Windzwinger. Irgendjemand hatte beschlossen, dass die Zeit des Redens vorbei war, dass es an der Zeit war, eine zünftige Schlägerei vom Zaun zu brechen. Das, was dort geschleudert worden war, war nicht weniger als der Inhalt des hölzernen Eimers, in den die Eisbärte während ihrer Fahrt ihre Notdurft entrichtet hatten. Der Unrat klatschte in die Reihen der Windzwinger und besudelte Kleider und Gesichter. Er wurde mit Geschrei und einer nach vorne wälzenden Masse aus Zwergenleibern beantwortet. Eisbärte und Windzwinger verbissen sich ineinander, innerhalb zweier Herzschläge war eine Rauferei erster Güte entstanden. Die Reihen waren schnell aufgebrochen und ein Durcheinander entfaltete sich, in dem die Zwerge sich prügelten. Eine rundliche Windzwingerin nutzte zuerst die wenigen Schritte Anlauf und dann die Wucht ihrer Körpermasse, um ungebremst durch die Eisbärte zu pflügen. An anderer Stelle nahm es ein kräftiger Eisbart gleich mit drei Windzwingern auf, wehrte ihre Schläge ab und teilte selbst mit beachtlicher Präzision und Stärke aus. Es gab einen kleinen, gedrungenen Windzwinger, der seinen Kopf wie eine Ramme einsetzte und wie ein wilder Stier, Schädel voran, attackierte. Mitten im Getümmel gab es eine überaus kräftige Zwergin der Eisbärte, die ihre Gegner kurzerhand am Gürtel packte, hochhievte und dann über den Pier ins Hafenbecken schleuderte.

Es war eine Schlägerei, die sich sehen lassen konnte, besser als die meisten Kneipenschlägereien, die Baro und Marca auf ihren Reisen erlebt hatten. Und auf eine komische Art und Weise schienen beide Lager auch noch Freude an dem zu haben, was sie dort taten.

„Schau genau zu“, stichelte Baro. „Vielleicht kannst du dir noch den einen oder anderen Handgriff für das nächste Mal abschauen.“

„So wie das da?“, knurrte die Vargin und deutete mit einem Kopfnicken zum Langboot. Zwei der Eisbärte waren im Tumult wieder an Bord gesprungen. Einer von ihnen hatte ein Entermesser in der Faust, der andere hielt eine Spleißaxt und unter dem Arm einige weitere Klingen, mit denen er seine Leute zweifelsohne bewaffnen wollte.

„Ach, verdammt“, seufzte Baro, steckte die ungerauchte Pfeife weg und setzte sich in Bewegung.

„Was hast du …?“, brachte Marca hervor. Die Vargin war über die Reaktion ihres Begleiters derartig verdutzt, dass sie ihm einen Moment nachsah, bevor sie ihm folgte. Derweil hatte der Gnom bereits einige Fässer auf dem Pier erreicht und kletterte behände hinauf. Oben angekommen, steckte er sich zwei Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus, der in der Lage dazu war, den Lärm der Schlägerei zu übertönen und unter der Kavernendecke echote. Schlagartig hielt der zerzauste, prügelnde Mob inne und dutzende Augenpaare wandten sich zu Baro.

„Schön, dass ich jetzt eure Aufmerksamkeit habe“, erklärte er mit einem immer noch freundlichen Lächeln. „Ich weiß, ich weiß: Mir steht es nicht zu, mich in Angelegenheiten der Frynjord einzumischen und dennoch mache ich es.“ Die Zwerge, gerade eben noch damit beschäftigt, sich gegenseitig die Nasen zu brechen, standen allesamt auf. Egal ob Windzwinger oder Eisbart, in ihren Gesichtern lag Erstaunen und eine Prise Ärger. Man konnte sogar zu dem Eindruck kommen, dass ihr Zwist vollkommen vergessen war, jetzt, wo ein Fremder sich eingemischt hatte. „Ihr klärt die Dinge hier gerne einmal so, das weiß ich“, fuhr Baro mit beschwichtigenden Gesten fort. „Und daran ist nicht viel auszusetzen, aber …“

„Was fällt dir ein, Holzkopf?“, schrie einer der Zwerge und schüttelte die Faust.

„Ich wollte nur …“

„Uns von einem Hornschädel belehren lassen! So weit kommt es noch!“, fiel eine Zwergin in die wütenden Rufe ein.

Marca trat an die Seite von Baro. Ohne seine Übersetzung hatte sie zwar nicht genau verstanden, was dort gesprochen worden war, ihre Erfahrung jedoch hatte sie gelehrt, dass Beleidigungen und Unflätigkeiten immer mit bestimmten Gesichtszügen einhergingen, ebenso auch mit einem besonders auffälligen Klang der Stimme. Beides hatte sie aufgefangen und sich entschlossen, aktiv zu werden. Die Vargin war doppelt so groß wie der zugegeben kleine Gnom, überragte aber auch alle der anwesenden Zwerge um mehrere Köpfe. Demonstrativ ließ sie die Schultern rollen, reckte den Kopf nach vorn und fletschte knurrend die Zähne – eine Geste die Eindruck schindete. Es war, wie Baro gesagt hatte: Eine Vargin sah man in Zitrabyt wahrscheinlich selten. „Was mein Freund hier sagen wollte“, presste sie auf Basargnomisch hervor, in der Hoffnung, dass diese Sprache auch im hohen Norden weit genug verbreitet war, damit man sie verstand, „ist, dass wir uns nicht in eure Prügelei einmischen wollten. Wir haben es getan, weil zwei von euch Vögeln der Meinung waren, Messer mit zu einer Schlägerei bringen zu müssen.“ Um ihre Aussage zu unterstützen, streckte sie ihre Pranke aus und deutete in Richtung des Schiffs. Die beiden Eisbärte dort waren nicht auf den Kopf gefallen und hatten die anfängliche Verwirrung genutzt, um die Waffen wieder zu verstecken. Auf dem Pier folgten die meisten Zwerge der Handbewegung der Vargin und schüttelten dann die Köpfe.

„Und? Was sollen wir da sehen?“

„Steigt selbst auf das Boot, wenn ihr mir nicht glaubt. Sie hatten Waffen“, knurrte Marca.

„Lügnerin!“, rief einer der beiden Eisbärte auf dem Schiff. Wahrscheinlich war er nur so mutig, weil zwischen ihm und der Vargin eine ganze Menge argwöhnischer Zwerge standen.

„Komm hier her und sag mir das noch einmal!“, forderte Marca.

Baro wusste, dass es an der Zeit war, die Situation zu entschärfen. Seine erhöhte Position ermöglichte ihm etwas, zu dem er sonst nicht in der Lage war: Er legte seiner Begleiterin die Hand auf die Schulter. „Ruhig“, flüsterte er und wandte sich dann wieder der Menge zu. „Sie hat recht. Das ist genau das, was ich euch sagen wollte, bevor ihr mich unterbrochen habt.“

„Wenn ich mir die Eisbärte so ansehe“, krähte einer der Windzwinger, ein grauhaariger Zwerg mit wettergegerbtem Gesicht, „dann kann ich keine Waffe bei ihnen erkennen!“

„Guter Mann, dann steigt doch auf das Schiff und überzeugt euch selbst“, forderte Baro.

„Ich will verdammt sein, ehe ich einen Windzwinger auf ein Schiff der Eisbärte lasse!“, brüllte eine kräftige Zwergin. Es war jene, die während der Prügelei ihre Gegner wie Puppen durch die Gegend geschleudert hatte. Noch bevor Baro und Marca etwas sagen konnten, stimmten die anderen Eisbärte ein. „Und überhaupt!“, sprach die Frau weiter. „Was soll das beweisen? Wir kommen gerade von einer Fahrt in den Norden. Das ist ein Schiff der Frynjord! Natürlich haben wir Stahl an Bord. So wie jedes andere Schiff auch.“

„Das will ich nicht in Abrede stellen“, entgegnete Baro, der merkte, dass es immer schwerer wurde, seine Begleiterin im Zaum zu halten. „Was meine Freundin hier eigentlich meinte, ist, dass die beiden Jungs dort“, er gestikulierte zum Duo an Bord, „gerade noch Waffen in den Händen hatten und sie in die Schlägerei bringen wollten.“

„Schwachsinn!“, schrie ein anderer Eisbart und schüttelte die Faust.

„Lügner!“, brüllte die kräftige Zwergin der Eisbärte.

Die Windzwinger schwiegen derweil, doch es war offensichtlich, dass sie Baro und Marca ebenfalls wenig Glauben schenkten. Immerhin waren der Gnom und die Vargin Fremde und wahrscheinlich wog es in der Vorstellung der Zwerge schwerer, dass sich Fremde in Angelegenheiten der Frynjord eingemischt hatten. Marca schüttelte derweil unsanft die Hand ihres Begleiters ab und machte einen großen Schritt nach vorn.

„Keiner von euch wird mich oder meinen Freund einen Lügner nennen!“, verkündete sie und funkelte die Zwerge an, die zurückwichen. „Wir wollten nur verhindern, dass ihr dreckigen Ratten euch die Bäuche aufschlitzt!“ Ratten, das war ein Wort, das eigentlich nicht in den Wortschatz der Vargin fiel, zumindest nicht, wenn es um Beleidigungen ging. Marca hatte einfach eines der Schimpfworte genommen, die sich die Zwerge vor und während der Rauferei an die Schädel geworfen hatten. Ihr war nicht klar, welche Wucht diese Bezeichnung unter den Frynjord hatte – gerade wenn sie von einem Fremden ausgesprochen wurde.

„Wie hast du uns genannt?“

„Du hast schon richtig verstanden“, entgegnet Marca.

„He, Hörnerschädel!“, gellte es aus der Menge an der hochaufragenden Vargin vorbei zu Baro. „Besser du nimmst deine Hündin an die Kette!“

Baro machte einen Satz vom Fässerstapel und eilte zu Marca, bei ihr hatte der Schmähruf jedoch voll gesessen.

„Hündin?“, grollte sie und fixierte die Zwergin, die den Mut gehabt hatte, sie so zu nennen. Es war eine rothaarige Zwergin mit Augenklappe, die am Ende der Menge stand. „Komm her, ich werde dir das andere Auge auch noch aus dem Schädel drücken!“

„Halt, Halt, Halt!“, mühte Baro sich ab und machte eilige Schritte, platzierte sich zwischen Marca und den Zwergen. „Ich glaube, wir haben das alle in den falschen Hals bekommen. Beruhigen wir uns doch …“ Er versuchte, Marca zurückzuhalten, doch das war ein Unterfangen, zu dem seine Kräfte kaum ausreichten. Sie war nicht nur viel größer und schwerer als er, sie war auch kräftiger und seine Versuche, sich zwischen ihre Beine zu stellen und sie aufzuhalten, verlangsamten sie lediglich.

„Schau mal, wer seinen Köter da nicht an der Leine halten kann!“, geiferte es hämisch aus der Menge. Eisbärte und Windzwinger, einige Momente vorher noch spinnefeind, standen nun Seite an Seite.

Marca knurrte tief und guttural. Die Zwerge hatten eine Grenze überschritten und sie war nicht bereit, noch weitere Schmährufe hinzunehmen. Polternd fiel ihr Waffenbündel auf die Holzplanken, dann hatte sie mit einem schnellen Griff die Riemen ihres Rucksacks gelöst und er rauschte zu Boden.

„Oh, verdammt …“, murmelte Baro und klammerte sich an ihren Gewändern und an ihrem Fell fest. Doch es bremste sie kaum. Sie machte zwei große Sätze und hatte die Zwerge erreicht. Dem ersten verpasste sie einen rückhändigen Schwinger, der ihn ein gutes Stück taumeln ließ, den zweiten Gegner packte sie kurzerhand am Kragen und schleuderte ihn vom Pier. „Marca, aufhören!“, rief Baro verzweifelt, doch er wusste selbst, wie schwer seine Begleiterin einzufangen war. Die Eisbärte und Windzwinger traf die erste Eruption der Gewalt unvorbereitet, wahrscheinlich hatten sie nicht gedacht, dass eine einzelne Person es wirklich mit einer zahlenmäßigen Übermacht aufnehmen würde. Als dieser Schock jedoch überwunden war, stürzten sie sich auf die tobende Vargin.

Marca verpasste einer heranstürmenden Zwergin einen üblen Tritt und langte nach einem Windzwinger. Gebrüll breitete sich auf dem Pier aus, Eisbärte und Windzwinger stürzten sich johlend, kreischend und zuweilen lachend in den Kampf. Baro bemerkte, wie nachteilig seine Position war und er ließ von Marca ab, die ihn lediglich mit sich geschleift hatte. Er verlor das Gleichgewicht und schlug der Länge nach hin. Die Vargin beförderte derweil einen weiteren Zwerg ins Hafenbecken, dann aber traf sie die Wucht zweier Zwergensippen mit aller Macht. Es war jene rundliche Zwergin, die schon am Anfang der Schlägerei aufgefallen war, welche Marca zu Fall brachte, indem sie sich gegen die Beine der Vargin warf. Marca klappte seitwärts und noch bevor sie die Planken erreicht hatte, stürzten sich drei, vier Zwerge mit erhobenen Fäusten auf sie. Baro hob den Kopf und sah, wie seine Freundin in der Masse der Zwergenleiber zu ertrinken drohte, biss sich auf die Unterlippe und sprang auf. Der kleine Gnom war vieles, nur kein Kämpfer, doch er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, dass sie mit seiner Freundin so umgingen. Er ballte seine Fäuste und dachte an die zahlreichen Kämpfe, deren Zeuge er zwar geworden war, an denen er aber niemals wirklich teilgenommen hatte. Wie schwer konnte es denn sein? Die Eisbärte und Windzwinger in der Nähe beachteten ihn nicht, sie waren ganz und gar von dem Schauspiel um Marca in den Bann gezogen. Baro machte derweil einen Ausfallschritt und schubste die Zwergin, die ihm am nächsten stand, aus dem Weg. Zu seiner Verwunderung – hatte er doch alles an Kraft aufgewendet, was er zu bieten hatte – rührte sie sich nur wenig, drehte sich dann in seine Richtung und lachte. Irgendwo in dem Gerangel hatte die Zwergin sich eine blutende Nase geholt, doch das hielt sie kein Stück zurück.

„Ach, der Hörnerschädel!“, frohlockte die Zwergin und hob ihre Fäuste. Baro wich den ersten zwei Schwingern noch einigermaßen galant aus, wurde dann aber mit dem Rücken an die Fässer getrieben, die ihm als Bühne gedient hatten. Er duckte sich, vernahm ein dumpfes Knirschen und realisierte, wie die Faust seiner Kontrahentin gegen ein schweres Fass gedonnert war. Die Zwergin schrie vor Wut und Erstaunen auf und Baro wusste, dass dies sein Moment war. Er schnellte voran, katapultierte sich gegen den massigen Oberkörper der Kämpferin und riss sie von den Beinen. Eigentlich der perfekte Moment, um einige Schläge zu landen, doch stattdessen sprang er auf und eilte wieder in Marcas Richtung. Die hatte es fertiggebracht, noch zwei weitere Zwerge kurzzeitig aus der Prügelei zu nehmen, mittlerweile hockten jedoch sieben weitere Gestalten auf ihr, hielten sie auf dem Boden fixiert. Sie tobte und spannte sich gegen das Gewicht und die Griffe, knurrte und fletschte die Zähne, war gegen diese Übermacht jedoch machtlos. Schläge und Tritte regneten herab und immer dann, wenn es ihr gelang, einen der Zwerge abzuschütteln, sprang ein anderer aus den Umstehenden heran, um seinen Platz einzunehmen.

Baro fluchte und sah sich hilfesuchend um, doch auf dem breiten Steg war niemand zu erwarten, der sich in den ungleichen Kampf einmischte. Seine Augen erfassten Schaulustige an Land, die Prügelei hatte eine beachtliche Menge Zwerge aller Schichten zusammenkommen lassen, die nun an der Kaimauer standen und sich an der Abwechslung vom alltäglichen Trott ergötzten. Ihn beschlich zum ersten Mal der Gedanke, dass es eine dumme Idee gewesen war, nach Zitrabyt zu kommen. Das Problem war, dass die Zeit und die Zwerge um ihn herum nicht warteten, bis er zu einem Schluss gekommen war. Der Gnom vergeudete wertvolle Momente damit, sich umsehen zu wollen und hatte so nicht die geringste Chance, als sich drei Zwerge – zwei Eisbärte und ein Windzwinger – auf ihn stürzten. Er schlug hart auf den Planken auf, die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst. Was er aber noch hinbekam, war, die Arme schützend vor den Kopf zu nehmen – und es war eine gute Entscheidung. Denn kaum, da sie ihn zu Boden gebracht hatten, was wirklich keine schwere Aufgabe war, regneten und prasselten die ersten Schläge.

„He! Aufhören!“, tönte eine Frauenstimme über den Lärm hinweg. Sie gehörte zu der blonden Zwergin mit den zahlreichen Zöpfen. „Sie haben genug! Wir wollen ihnen ja nicht alle Knochen brechen, oder?“ Die Versammelten grölten und lachten. Baro versuchte den Kopf zu heben, bekam dafür aber gleich wieder einen Schlag in den Nacken. „Werft sie ins Hafenbecken. Denke, das wird sie ein bisschen abkühlen!“, verlangte die Windzwingerin.

„Nein!“, keuchte der Gnom, konnte sich jedoch nicht wirklich wehren. Starke Hände packten ihn unter den Armen und zogen ihn in die Höhe, der Rand des Piers und das azurblaue Wasser kamen näher. Einige Schritte weiter wehrte Marca sich gegen die Zwerge und als sie wirklich versuchten, die Vargin zum Rand des Stegs zu zerren, nutzte sie die Gelegenheit, um einer unachtsamen Zwergin ihren Ellbogen ins Gesicht zu donnern. Die Zwergin taumelte heulend zurück, hielt sich die blutige Nase. Doch es war nur ein kurzer Triumph, denn ein anderer Zwerg hatte irgendwo einen Knüppel aufgeklaubt und hieb nun damit zu. Marca knurrte, dann sackte sie bewusstlos zusammen.

„Halt!“, gelte es donnernd über den Steg. Windzwinger und Eisbärte erstarrten gleichermaßen und ließen ihre Opfer zu Boden gleiten. Benommen wischte Baro sich das Blut aus dem Gesicht und hob wieder den Kopf. Aus Richtung des Kais eilte eine dritte Gruppe Zwerge herbei und der Gnom brummte kraftlos, fürchtete schon, in die Fänge der nächsten Sippe von Zitrabyt gefallen zu sein. Doch irgendetwas an der Stimme kam ihm so vertraut vor. Über das Rauschen des Bluts in seinen Ohren hinweg hatte er die Stimme jedoch nicht richtig einordnen können. Was er mit Sicherheit sagen konnte, war, dass sie zu einer Frau gehörte.

„Hafenmeisterin!“, raunte ein Zwerg in der Nähe und sein Erstaunen pflanzte sich durch die Reihen fort. Endlich spürte Baro wieder etwas anderes als Verzweiflung: Hoffnung. Hoffnung, aus dem Durcheinander ohne ein feuchtes, kaltes Bad – oder Schlimmeres - zu kommen.

Er setzte sich auf und massierte sich den dumpf pochenden Schädel, registrierte das Pulsieren des Schmerzes in jedem Winkel seines kleinen Körpers. Marca hatte recht behalten, Gnome waren weder für Schlägereien noch für andere körperliche Auseinandersetzungen auf der Welt gemacht. Sie waren zerbrechlich. Baro schluckte die bittere Galle hinunter und sah wieder zum Kai. Dort kam eine Gruppe gerüsteter Wachen mit ernsten Gesichtern heran, angeführt von einer alten Freundin: Hafenmeisterin Vychoda.

Kapitel III

Wiedersehen

Die Frynjord legten die Geschicke ihres Volks in die Hände des Gletscherrats, eines Triumvirats bestehend aus Bergregent Jaro, der in Jordheim residierte, der Zeremonienmeisterin Priroda in Zimahora und der Hafenmeisterin Vychoda in Zitrabyt. Somit war gewährleistet, dass die Belange des nördlichen Volks immer im Einklang militärischer, wirtschaftlicher und religiöser Interessen lagen.

Hafenmeisterin Vychoda war also nicht irgendwer. Sie war eine der drei mächtigsten Personen im Bund der Gletscherzwerge und ihr Wort hatte Gewicht. Kaum verwunderlich also, dass die Eisbärte und Windzwinger auf dem Pier erstarrten, als Vychodas Stimme erklang. Die Hafenmeisterin war eine relativ kleine Zwergin und im Vergleich zu ihren Brüdern und Schwestern wirkte sie beinahe schmächtig. Ohne Zweifel steckte in dem robusten, stämmigen Körperbau der Hafenmeisterin immer noch immense Kraft, doch sie wirkte eben nicht so gefährlich und zäh wie die meisten Frynjord. Das musste sie auch nicht. Vychodas Fähigkeiten lagen auf einem ganz anderen Gebiet. Sie hatte wache, tiefgrüne Augen und dichtes, braunes Haar, das sie zu einem einzelnen dicken Zopf geflochten hatte. Die Hafenmeisterin war für ihr Auge für das Detail und ihren Weitblick bekannt, Dinge, die zwingend notwendig waren, wenn man Zitrabyt am Laufen halten musste. Sie war Organisatorin und Verwalterin, zuweilen sehr pragmatisch und nüchtern. Doch ihr Geschick und ihr Weitblick hatten Zitrabyt erblühen lassen und für diese Leistung hatte sie sich den Respekt ihrer Brüder und Schwestern verdient. Die kleine Zwergin hatte einen Weg gefunden, aus der Menge hervorzustechen, ihre Kleider waren aus dem schneeweißen Pelz des Eisfuchses geschneidert. Um den Hals trug sie eine goldene Kette, die aus großen, schweren Gliedern geschmiedet war – das Würdezeichen ihres Amtes. Vychoda trug keine Waffen. Warum auch? Das war ihre Stadt.

„Was hat das hier zu bedeuten?“, verlangte die Hafenmeisterin zu wissen. Ihre Stimme war nun nicht mehr so laut, dennoch bestand kein Zweifel, dass sie jeder auf dem Pier hören konnte. Flankiert von Wachen mit grimmigen Gesichtern blieb Vychoda am Rande des Durcheinanders stehen und ließ ihren Blick schweifen. Ihr strenger Blick verbiss sich dabei im Antlitz eines jungen Zwergs, der ganz in der Nähe stand. Der Jungspund wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht und mühte sich, Haltung zu zeigen, doch es bedurfte keiner besonderen Beobachtungsgabe um zu erkennen, dass er am ganzen Körper zitterte.

„Ich … wir …“, begann der Jungspund zu stottern.

„Was ist los mit dir? Frierst du etwa?“, fragte Vychoda.