Kälter - Andreas Pflüger - E-Book

Kälter E-Book

Andreas Pflüger

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Beschreibung

Einen Raubvogel wie mich hast du noch nie gesehen

Im Herbst 1989 führt Luzy Morgenroth auf Amrum das Leben einer Provinzpolizistin. Kaum jemand ahnt, dass sie vor langer Zeit eine Andere war. Als in einer Sturmnacht ein Einheimischer spurlos von der Fähre verschwindet, muss sie sich einem Killerkommando stellen, das auf die Insel kam, und verwandelt sich wieder in die Luzy von früher. Eine Waffe.

In einem spektakulären Agententhriller schickt Pflüger seine Heldin am Ende des Kalten Krieges als Racheengel um die halbe Welt. Sie tritt gegen ein Geheimdienstimperium an, das den Mann beschützt, der ihr Leben zerstörte. Und es wird sich zeigen, wer kälter ist: ihr Todfeind oder sie.

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Seitenzahl: 664

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Cover

Titel

Andreas Pflüger

Kälter

Roman

Suhrkamp

Impressum

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2025

Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Erstausgabe, 2025.

OriginalausgabeErste Auflage 2025© Suhrkamp Verlag GmbH, Berlin, 2025.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Umschlagfoto: Oliver Hitchen/mauritius images/Alamy Limited/Alamy Stock Photos

eISBN 978-3-518-78362-7

www.suhrkamp.de

Widmung

Was wäre ich ohne Dich

Motto

2923 Nächte

Ich seh euch gehen

immerzu

auf einem Seil aus

schwarzem Licht

Als sei es eben erst

geschehen, dass

meine Welt in

Stücke bricht.

Ich hüte leergeweinte

Räume, male

Bilder, eure,

nur aus Gischt

Doch wie ich

weiterleben konnte,

atmen, träumen,

weiß ich nicht.

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Motto

Frinjer

Kläämfögel

Fräämen

Duadmaage

Die Welt der Anderen

Sherpas

.

Damals

Lucy in the Sky

Die Bombe

452317

Neun Stockwerke

Wei

ß

clown

Hotel Méridien

Bethlehem, Maryland

Babel

.

Acht Jahre später

Don’t Worry, Be Happy

Kind of Blue

Pilger

Jesaja 14.19

Das Knacken

Träne auf Reisen

Hulk

Die Pfefferminzfalle

Malenko

Midas

Ali

Der unsichtbare Dritte

Der letzte Zug von Gun Hill

Nasse Sachen

Der kleine Mann

Die Toten bleiben jung

Abschied

Die letzte Ruhe

Senkrecht begraben

Broken Mirror

Ding Ding

Damenspitz

Salomon

Rike

.

Vor acht Jahren

Ein kurzer Schmerz

Das Kind

Der Blitz

White Noise

Aran

Run for Your Life

Dieses eine Mal

Einige Bemerkungen

Textnachweis

Informationen zum Buch

Kälter

Frinjer

WahreMacht über Leben und Tod hast du nur, wenn du dann und wann jemandem erlaubst, fürs Erste weiterzuatmen. Das weiß sie noch von ihrem Traum, als sie die Augen aufschlägt.

Dreiviertel fünf. Der Wecker klingelt erst in zwei Stunden, doch sie wird nicht mehr einschlafen. Luzy quält sich aus dem klammen Bett; die Heizung ist warm, das Zimmer eiskalt. Sie brüht Kaffee auf, brät Eier und Speck. Die Zeit tropft, während sie versucht, nicht an das Datum zu denken. Die erste Zigarette schmeckt so bitter wie jede seit acht Jahren. Aus der Finsternis wütet Wind gegen die Fenster. Luzy glaubt zu spüren, wie das Haus sich duckt. Der Sturm kommt steil aus Südsüdwest und nimmt weiter zu, heißt es im Wetterdienst. Sie duscht hart an der Grenze zum Verbrühen. Zieht die Uniform an, schnürt die Stiefel, schnallt den Gürtel mit Maglite, Funk, Pistole um.

Setzt sich wieder, wartet.

Als sie das Backsteinhaus am Halemwai verlässt, nimmt sie sich vor, endlich eigene Möbel zu kaufen. Vielleicht ein blaues Sofa, früher mochte sie doch Blau. Oder war es Rot?

Auf dem Weg zum Auto waschen die eisigen, steifen Güsse ihr die Nacht aus dem Gesicht. Das Dorf döst noch, jetzt, wo die Touristen fort sind. Luzy fährt durch den Düsterwald. Am Himmel taumeln Wolkenkolosse, hinter der Regenmauer das Meer. Die Insel ist der Schiss einer Riesenmöwe mitten in die Nordsee; an ihrer breitesten Stelle sind es zwei Kilometer von der Ost- zur Westküste. Der Länge nach hat man sie mit dem Auto in zwanzig Minuten durchquert.

Am Sanghughwai muss sie bremsen, weil ein Fasan über die Straße schreitet, mit stolzem Kopf, wehender Haube, einsam im Regen. Bis zur Hauptstadt Nebel rentiert sich keine Camel. Aber Stadt ist geprahlt, bei zweitausend Menschen auf Amrum. Sie biegt hinter Remmers verrammeltem Fischparadies ab und weiß, noch ehe sie den Streifenwagen sieht, Jörgen längst auf der Wache, heute. Als Luzy nach der Klinke greift, reißt er die Tür bereits auf und trällert Happy Birthday so schief, wie nur er das kann.

Jörgen ist eine Tonne von einem Menschen. Der Marsriegel, in den er eine brennende Wunderkerze gesteckt hat, wirkt in seiner Hand wie ein Einwegfeuerzeug. In dem Gesicht ist kein Quadratzentimeter ohne Sommersprosse; wenn er lacht, bebt der ganze Körper.

Er zieht Luzy ins Trockene, kann es nicht erwarten, ihr das Geschenk zu geben. Es ist flach und nach Männerart verpackt; sie weiß sofort, was es ist. Auf dem St.-Clemens-Friedhof gibt es die Sprechenden Grabsteine, auf denen sich die verwitterten Lebensgeschichten der Walfischjäger und Grönlandfahrer und Gewürzkapitäne finden, das Zittern und Bangen der Familien, Glück und Leid in der Fremde. Im Sommer sitzt Luzy oft unter der uralten Esche, das Blattwerk wie mit Brillantgrün betupft. Dort schaut sie über die Geesthöhen, die Salzwiesen, über das Meer bis Föhr und lässt die Zeit einen müden Matrosen sein.

Neulich hat sie Jörgen von ihrer Lieblingsinschrift erzählt.

Der Hoffnung ward ich zwar beraubt.

Und gleichwohl hofft ich doch.

So steht es auf dem Stein des Reeders Oluf Jensen, dessen Sohn vor zweihundertfünfzig Jahren auf dem Sklavenmarkt in Algier verschachert worden war, nachdem osmanische Piraten seine Galeone aufgebracht hatten. Bevor er hochbetagt starb, durfte Jensen den Sohn noch in seine Arme schließen, heißt es auf dem Stein. In manchen Leben fügt sich alles.

Nur nicht in ihrem.

Jörgen hat das Foto viel zu üppig rahmen lassen, mit Gold und Brokatbordüre, was eher in ein Habsburgerpalais als in ihr Häuschen passen würde, aber Luzy weiß, welche Freude ihm das gemacht hat, deshalb soll es einen Ehrenplatz neben dem Sessel am Fenster bekommen. Sie ist erst Anfang des Monats eingezogen und stellt sich vor, wie sie im Sommer von dort die Steinmauer mit den Wildrosen sehen wird.

Als sie Jörgen drückt, kommt sie mit ihren Armen kaum um seine Taille, so breit ist er. »Mensch, ich hätte heut Abend gern was mit dir getrunken«, hört Luzy ihn brummen. »Aber meine Mutter hat Grippe, muss mich kümmern.«

Natürlich ist das eine Finte, und es wird wie letztes Jahr eine Überraschungsparty für sie geben.

»Na ja. Fünfzig ist kein Geburtstag, sondern ein Zustand.«

»Erzähl das der Patentante meiner Oma, die hat mit fünfzig Drillinge gekriegt.«

»Letztes Mal waren’s noch Zwillinge«, sagt sie und nimmt ein Fax vom Schreibtisch. »Was ist das?«

»Stell dir vor: Im Deichgraf ist ein Mann mit einem falschen Ausweis abgestiegen«, raunt Jörgen.

Auch wenn die RAF ihre stärkste Zeit längst hinter sich hat, sind die Hotels und Pensionen nach wie vor verpflichtet, ihnen die Meldescheine der Gäste zur Überprüfung zu geben.

»Ist er schon weg?« fragt sie.

»Mit der Spätfähre abgedampft. Roter Renault. Ich hab die Nummer, Elmshorner Mietwagen. Das Fax ist nach Feierabend gekommen, konnt die Abfrage eben erst machen.«

Der letzte Anschlag liegt drei Jahre zurück; manchmal fragt Luzy sich, ob die Terrorgruppe überhaupt noch existiert.

»Wie lange war er im Hotel?«

»Nur eine Nacht.«

Jörgen grinst jetzt seit zwei Minuten.

»Deutscher?« fragt sie.

»Scheint so.«

»Und der Ausweis – eine Doublette?«

»Nee, die Frankfurter Adresse existiert nicht. Weil: Dort ist ein Straßenbahndepot.«

Jörgens Grinsen lässt die Augen hinter den hochgezogenen Wangen verschwinden. Am Samstag war Luzy im Inselkino in Batman. Jörgen ist der Joker ohne Schminke.

»Gibt es eine Personenbeschreibung?« fragt sie.

»Wollte ich grad klären.« Er telefoniert mit dem Hotel, dann sagt er: »Anfang vierzig, dünner Hering. Soll wie ein Vertreter für Trauerbekleidung aussehen. Ich geb’s an Niebüll weiter.«

Dort ist ihre vorgesetzte Polizeistelle; die Amrumer Station besteht nur aus ihnen beiden. In der Feriensaison stoßen noch zwei Beamte vom Bäderdienst dazu, doch die sind längst aufs Festland zurückgekehrt. Im Herbst und Winter ist für vier hier nicht genug zu tun. Die stummen Monate, nennt Jörgen das. Sachbeschädigung, Verkehrsdelikte, hin und wieder Teenager mit Hasch, manchmal ein Ladendiebstahl. Für Schnapsleichen gibt’s die Ausnüchterungszelle.

Vor drei Jahren Bente Reents, der seine Frau blutig schlug.

Von der Nachbarin gerufen, trafen sie im Dunkeln vor dem Haus ein. Jörgen kämpfte noch mit seinem Gurt, während sie bereits hineingestürmt war. Als er kam, war alles vorbei. Luzy griff sich einen Beutel Gefriergemüse aus dem Eisschrank, um ihre Fingerknöchel zu kühlen. Lange redete Jörgen mit Reents und schrieb dann in das Protokoll, er sei bei seiner Festnahme ausgerutscht und die Treppe hinuntergefallen. Die ganze Insel erfuhr davon; seither begegnet Luzy kein Einheimischer ohne ein Lächeln. Nach Reents’ Entlassung aus der Klinik fuhr sie jede Woche mehrmals bei seiner Frau vorbei, bis sie sicher war, dass er das Haus mied und sie sich wirklich scheiden ließ. Luzy und Jörgen sprachen nie wieder darüber.

Sie hört die Fensterscheiben unterm Sturm klirren. Erst als Jörgen sie anstupst, kehrt sie in die Welt zurück.

»Wir müssen.«

Luzy fährt den Streifenwagen. Die Wischer kommen kaum gegen die Wassermassen an. Windstärke neun, vielleicht zehn, schätzt sie. Bei zwölf muss der Fährverkehr eingestellt werden.

»Haben wir nicht herrliches Wetter!« sagt Jörgen.

»Ich mach mir Sorgen um dich.«

»Warum?«

»Ist das noch ein Grinsen oder schon Gesichtslähmung?«

»Gestern Abend waren Grietje und ich spazieren«, platzt es aus ihm raus.

Grietje ist das Mädchen, in das Jörgen seit dem Kindergarten verliebt ist. In ihrem klaren Gesicht spiegelt sich der Himmel. Sie hatte einen Kerl aus Cuxhaven-Döse geheiratet, der nichts taugt, und zwölf Jahre gebraucht, um es zu merken. Seit dem Winter ist sie wieder hier, was ungewöhnlich ist. Auf Amrum wird man geboren und begraben, oder man geht und kommt nie wieder, sagen die Leute. Grietje jobbt jetzt in der Boutique in Süddorf.

»So ein Dingsbums hatte sie an«, meint er.

»Sie war im Negligé spazieren?«

»Quatsch. Eine von diesen schicken Kapuzenjacken, weißt schon. Wie Michelle Pfeiffer sah sie aus.«

Bloß ist sie nicht Michelle Pfeiffer, sondern Melanie Griffith, und es wird nicht lange dauern, bis sie wieder auf irgendeinen Nichtsnutz hereinfällt, weil er ein Grübchen im Kinn hat. Das müsste sie Jörgen sagen. Aber bringt es nicht fertig.

»Wir haben uns geküsst.«

»Wow.«

»Zwei Mal. Und morgen Abend kocht sie was mit Nudeln.« Das sagt er, als erübrigten sich damit alle weiteren Fragen. Ein Bund für die Ewigkeit, besiegelt mit Makkaroni.

Sie fahren durch den Wald, der hier, gleich hinter Nebel, für Sekunden einen Tunnel bildet, am frühen Morgen so dunkel, dass Luzy das Fernlicht einschalten muss. Auf der Hauptstraße von Wittdün hat die alte Möllersen ihren Hund unter den Arm geklemmt, ein fledermausohriger Hutschefiedel, der an seiner Leine wie ein Drachen steigen würde. Links ist der Neubau, in dem Luzy zwei Zimmer hatte, bevor sie nach Norddorf zog, in das Hexenhäuschen mit dem frischen goldenen Reetdach. Die Schönheit der Wittdüner Geschäftsmeile zu entdecken, bleibt künftigen Generationen von Archäologen vorbehalten. Doch nicht weit von hier, über dem Deich, stehen die Anwesen von Hamburgern, die im Monat allein für die Gärtner das Doppelte von Luzys Verdienst ausgeben.

Ein Mann. Nur eine Nacht. Falsche Papiere.

Nein, nicht die RAF.

Ein Fehler wie der mit dem Straßenbahndepot passiert denen nicht. Nach ihren Einbrüchen in die Einwohnermeldeämter haben sie jede Menge Blankoausweise und nehmen ausnahmslos Adressen von Wohnungen, die sie wirklich gemietet haben.

Sie langen beim Fährhafen an. Die Bucht ist windgeschützt, doch der Wellenschaum türmt sich, als schütte es Waschpulver. Von der Urgewalt, mit der die See an den Kai brandet, wird die Gischt meterhoch in die Luft gejagt, ehe sie sich als grollende grauweiße Kaskade über den Beton ergießt. Zu immer neuen Hammerschlägen holt der Sturm aus; ein Brett aus Regen rast Luzy und Jörgen entgegen, jetzt beinahe waagerecht von vorn, vermischt mit Hagel, der wie Sauposten auf die Frontscheibe knallt. Links ahnt sie den Yachthafen, taumelnde Schatten. Sie stellt sich vor, wie das Meer mit Tjarks Fischerboot Jo-Jo spielt. Sicher hat er an Bord geschlafen, aus Angst, die Emma könne sich losreißen, und jetzt klammert er sich am Kaffee fest. Aber Tjark ist hart im Nehmen. Er hat an der Netzwinde drei Finger verloren und ging dann in die Kneipe einen trinken.

Gunnar, der Kollege von Föhr, wartet schon im Radarwagen; die Nachbarinseln teilen ihn sich wochenweise. »Bi sok üülag wedern jaaget am nään hünj ütj föör dör!« schnaubt er, als sie klatschnass zu ihm ins Auto springen.

»Baangboks«, sagt Jörgen nur.

Auf Föhr heißt die Sprache Fering, auf Amrum Öömrang. Für Luzy klingt sie wie Mikronesisch. Auch wenn sie mittlerweile einige Brocken kennt, hat sie es sich zur Gewohnheit gemacht, den Gesichtsausdruck zu deuten.

»Na, Jörgen, gestern netten Abend gehabt?« fragt Gunnar gedehnt. Der Schnack würde ihm nur halb so viel Spaß machen, wenn Luzy nichts verstünde.

»Hab ein Buch von diesem Wittgenstein gelesen. Und du?«

»Meine Schwester hat mit der Cousine in Nebel telefoniert, und die hat von ihrem Schwager gehört, dass dem sein Bruder um zehn mit dem Wauwi draußen war, wo er seine Nachbarin getroffen hat, die schwört, dich und Grietje am Deich gesehen zu haben. Unter der Knutscherei sollst du nicht mal geschnallt haben, wie’s dir die Mütze vom Kopf gefegt hat.«

»Da ist ja man so gut wie alles falsch dran«, brummt Jörgen, »angefangen mit der Mütze. So ’n Pudel ist was für Heulsusen wie dich.«

Es tut ihr gut, mit den beiden zu lachen, heute.

»Luzy, gib mal ’n Tipp ab: Wie lang wird’s halten? Wenn du mich fragst: Noch vor dem ersten Schnee brennt sie mit ’nem Fernfahrer aus Kopenhagen durch. Zwanzig Mark?«

Gunnar betont das Z in ihrem Namen, obwohl er weiß, dass sie das hasst und es weich ausgesprochen werden muss. Aber das gehört zum Schnack wie die Camel, die sie mit ihm raucht.

»Hast du nicht auch auf die Bibel geschworen, der Mensch würde höchstens ein halbes Prozent seines Gehirns nutzen?«

»Da hätt ich mit ihm wetten sollen«, sagt Jörgen.

»Wäre, wäre, Fahrradkette.«

Sie blödeln bis zum Ablegen der Fähre. Sogar dieser Goliath tanzt auf der Dünung. Als Gunnar über die Rampe läuft, muss er sich am Geländer festhalten, um nicht lang hinzuschlagen. Jörgen hat ihn nicht auf den Geburtstag aufmerksam gemacht, darüber ist Luzy froh. Er spürt, wie schwer sie sich damit tut, nicht allein mit diesem, sondern mit jedem in den acht Jahren, die sie sich jetzt kennen. Nach dem Grund gefragt hat er nie. Wie er auch nie wissen wollte, wieso eine Polizistin mit ihrem Dienstrang sich ausgerechnet hierher versetzen ließ. Vielleicht aus Furcht vor der Antwort.

Nein, die andere Frage hat er gestellt.

Vor drei Jahren im Winter.

Nach Bente Reents.

In der Feriensaison legen sie sich mit dem Radarwagen meist beim Leuchtturm auf die Lauer, wo gepflegt Gummi gegeben wird. Doch Ende Oktober sind fast nur noch Einheimische auf der Insel. Der Sommer war lang und kräftezehrend; die Leute haben Besseres verdient, als ihre Trinkgelder der Staatskasse zu spenden. Luzy stellt den Wagen in die enge Kurve auf den Waasterstigh, wo keiner schneller als fünfzig fährt, es sei denn Niki Lauda. Sie schaltet die Wischer aus und macht das Radio an. Eine Weile hören sie Schlager, hängen Gedanken nach. Das Auto zittert unter Böen.

Hello Again, über sieben Brücken musst du geh’n, und irgendwie, irgendwo, irgendwann schlaf ich heut Nacht nicht ein, dann ist ein bisschen Frieden jenseits von Eden.

Zwei Autos kommen vorbei, Swantje und Pieter mit seiner Frau; sie verlangsamen auf Schritttempo und grüßen, wissen den Dienst am Bürger zu schätzen. Jörgen sagt etwas, doch es ist nur ein Flüstern, als säße er nicht mehr neben ihr, sondern wäre beim Quermarkenfeuer oben in den Dünen und schreie gegen den Sturm an.

Eine Nacht, ein Tag. Nahm die Spätfähre.

Dünner Hering.

Plötzlich sieht sie den Raubvogelmann mit seinem Messer auf sie zufliegen, erhaben, für eine Ewigkeit schwerelos in der Luft, sich seiner Beute sicher, in den Augen das Wissen um die letzte Sekunde vieler Leben. Dann der Unglaube, als Luzy sich unter ihm auf den Rücken dreht und der Tod aus ihrer Hand zu ihm zuckt, mit über tausend Stundenkilometern, doch für sie so gemächlich wie die Dämmerung am Polarkreis, bis ihre Zeit beim Crash mit der seinen zerbirst und Schmerz durch Luzys Körper glüht und Neon in einem Flammenregen zerplatzt, als das Leben des Raubvogelmanns sich über sie ergießt, sie in ein Blutwesen verwandelt.

Dann Nachrichten. Gestern waren wieder Demonstrationen in mehreren ostdeutschen Städten; allein in Leipzig forderten dreihunderttausend Menschen freie Wahlen und Reisefreiheit. Abends wurde die Kür von Egon Krenz zum Nachfolger Erich Honeckers mit Sitzblockaden kommentiert. Erneut kam es zu Misshandlungen durch Schlägertrupps der Stasi. Helmut Kohl nennt Bedingungen für westdeutsche Wirtschaftshilfe: Wenn die SED auf ihren politischen Führungsanspruch verzichte, sei vieles machbar, alles denkbar.

Die DDR ist noch weiter weg als Jörgen; Nachrichten vom anderen Ende der Welt.

Mit einem Mal brüllt er ihr fast ins Ohr.

»Und was zieh ich da an?«

»Zu Nudeln Jeans, was sonst?«

»Mensch, wenn ich mit Grietje zum Feuerwehrball geh.«

»Was Rotes, wie jeder vernünftige Mensch.«

»Rot macht mich blass.«

»Jörgen, glaub mir, wenn sie dich wirklich will, könntest du auch als Kartoffel kommen.«

»Das würde jedenfalls meine Hüften zur Geltung bringen.«

Sie erschrecken beide, als das Radar anschlägt. Zwanzig zu schnell. Luzy stellt die Wischer an und fährt los. Das Auto ist schon zu weit weg, um das Kennzeichen erkennen zu können. Aber bestimmt niemand von hier. Hinter Nebel überholen sie; Jörgen reckt die Kelle in den Regen. Als sie stehen, spielen sie ein rasches Schnick, Schnack, Schnuck. Luzy verliert; sie muss aussteigen und zu dem Audi mit Kölner Nummer laufen. Die Minute, die sie braucht, um mit der Fahrerin zum Radarwagen zurückzurennen und sie nach hinten zu verfrachten, reicht für die Sehnsucht, Amrum wäre überdacht.

»Du meine Güte«, sagt die Frau. »Im Reisebüro hieß es, hier könne man im Herbst Strandurlaub machen.«

Es mit einem kleinen Scherz zu versuchen, ist immer eine gute Idee. Während Jörgen die Personalien aufnimmt, kommt der klassische Dreisatz: Bin ich wirklich zu schnell gewesen? Mein Tacho muss kaputt sein. Können Sie nicht ein Auge zudrücken? Als auch der Kleinmädchenblick nichts fruchtet, wechseln vierzig Mark den Besitzer. Die paar Meter zurück zum Audi ruinieren das Pariser Kostüm der Frau endgültig.

Sie kehren zu ihrem Posten auf dem Waasterstigh zurück, kurbeln die Sitze runter, fläzen. Wildgänse kauern starr in der Marsch, der Hagel schmirgelt den Lack. Sie hören Schlager, in denen alles gut wird. Die nächsten drei Stunden kommt kein Wagen mehr vorbei. Dann hält Svens Frau bei ihnen, er ist mit dem Trecker umgekippt. Verletzt ist er nicht, aber sie müssen die Unfallstelle sichern, sich um einen Abschlepper kümmern. Herausfordernder ist Smits Dobermann, der wieder mal seine Leine gefressen hat und in Nebel herumstreunt. Wie er heißt, weiß keiner. Alle nennen ihn Tus, Zahn. Durch die halbe Insel hat er sich schon gebissen, hätte längst eingeschläfert werden müssen. Aber der alte Smit hat sonst niemanden, das darf man ihm nicht antun. Sie kaufen ein Kilo Hack und stopfen sechs Schlaftabletten rein. Funktioniert auch diesmal.

Um fünf hat sie Feierabend, bleibt aber in Bereitschaft; das wechselt alle paar Tage. Sie lässt sich zuhause ein Schaumbad ein, genießt den wohligen Schauer, als sie in das heiße Wasser steigt. Schließt die Augen und hört die Beatles.

When you left I had no chance to say I love you.

And every day since then feels old instead of new.

Um sich abzulenken, denkt Luzy an die Frau, die sie geblitzt haben. Rechtsanwältin mit Spezialgebiet Klugscheißerei und einer Leidenschaft für Buttercremetorte zum Frühstück, tippt sie. Da ist sie Expertin, sie hat selbst fünfzehn Kilo zu viel auf den Rippen. Oder sind es schon mehr? Luzy ist so rund wie ihr Geburtstag. Ihre Waage führt ein sehr einsames Dasein.

And that’s the pain I’m going through.

Der erwartete Anruf aus dem Seeigel, der Dorfkneipe, kommt gegen sieben. Ali behauptet, Ärger mit einem besoffenen Gast zu haben. Um den anderen nicht den Spaß zu verderben, quält Luzy sich wieder in die Uniform, in die Stiefel. Normalerweise würde sie den kurzen Weg zu Fuß gehen, aber Wasser hatte sie für heute genug. Es ist bereits dunkel. Sie muss die Wagentür mit beiden Armen gegen den Sturm aufstemmen. Als sie den Seeigel betritt, lässt sie alles über sich ergehen, das Singen, die Tröten, das Schriftband Auf die zweiten Fünfzig!. Es gelingt ihr gar, überrascht dreinzuschauen. Viele sind gekommen, lauter liebe Menschen; sie weiß zu jedem eine Geschichte. Ali ist ihr längst eine Freundin geworden. Eigentlich heißt sie Albertine, aber wer sie so nennt, riskiert Lokalverbot. Luzy kann zu jeder Tages- oder Nachtzeit zu ihr. Ali wird immer einen Kaffee, ein Schweigen und eine Umarmung für sie haben.

Unter erwartungsvollen Blicken packt sie das Geschenk aus, für das alle zusammengelegt haben, das Bild eines Inselmalers, Sonnenaufgang über der Nordspitze; eine Anspielung auf ihren Nachnamen Morgenroth. Es ist kitschig, aber schön.

Jörgen steigt auf einen Tisch. Seine Reden sind ihrer Länge wegen gefürchtet; manche Gesichter sieht Luzy bereits in die innere Emigration flüchten. »Keine Panik, ich märe mich nicht aus. Weil ich nämlich einen mordsmäßigen Durst habe. Luzy, vor dir hatte ich schon mal einen Kollegen vom Festland. Der ist im ersten Winter stiften gegangen. Als du dann gekommen bist, haben wir gewettet, wie lange du’s bei uns aushältst. Ich habe gesagt: Die bleibt für immer. Tja, Leute: Von dem Reibach habe ich mir eine Gitarre gekauft.«

»Aber für Unterricht hat’s nicht gereicht!« ruft Arne.

»Lern du erstmal auf dem Kamm blasen.«

Alle grölen.

»Ich könnte Tage darüber sabbeln, was ich alles an dir mag«, fährt Jörgen fort. »Nein, keine Bange. Am allerbesten hat mir gefallen, dass du nie die Chefin rausgekehrt hast. Und ich halte jede Wette, Leute: In dreizehn Jahren, falls ich so uralt werde wie du heute, sprichst du besser Öömrang als wir alle, meinen toten Großcousin mütterlicherseits eingeschlossen. Dü beest nian frääm, dü beest ian faan üs. An dü beest man best frinj.«

Nian frääm – keine Fremde. Frinj – Freundin. Das kennt sie.

Jetzt ist sie froh, heut Abend nicht allein zu sein.

Frikadellen, Rollmops und Krabbenbrötchen auf die Faust. Dann wird getanzt, Nena, Spider Murphy Gang, Heinz Rudolf Kunze, Du bist mein Reim auf Schmerz. Doch Luzy ist Beatles, für immer. Sie lehnt mit einer Limo am Tresen. Im TV stumme Bilder aus Moskau, Gorbatschow ist in vier Jahren Jahrzehnte gealtert. Luzy sieht Grietje und Jörgen zu Grönemeyer tanzen, Flugzeuge im Bauch. Wie innig die zwei sind, seine Pranken zart um ihre Schauspielerinnentaille, ihr Kopf so ruhig auf seiner Riesenbrust, als läge er seit dem Kindergarten dort. Plötzlich weiß sie, dass es echt ist und für immer, so sicher, wie Jörgen es damals bei ihr gewusst hat, und Tränen steigen in ihr hoch, weil sie sich so für ihn freut.

Dann macht Jörgen Faxen, und sie lacht. Ali geht zu ihr und legt den Arm fest um sie. »Ich habe keinen Schimmer, warum du immer so traurig bist. Vielleicht erzählst du’s irgendwann, oder halt nicht. Aber du bist eine Eskimofrau. Wenn du lachst, geht die Sonne auf. Das passiert am Nordpol auch nur einmal im Jahr.«

Jörgen kommt. »Ali, tut mir leid, ich entführe sie mal eben, dringende Dienstgeschäfte.« Er hat schon einen im Tee, seine Wangen gehen ins Dunkelrot.

Sie fahren mit ihrem Auto, es sind bloß ein paar Kilometer bis zum Schützenhaus von Nebel. Das gehört zu ihrem Ritual, an ihrer beider Geburtstagen. Jörgen dreht das Radio bis zum Anschlag auf und singt 99 Luftballons mit. Das Haus ist mehr eine Baracke. Es riecht nach Waffenöl und Schweiß. Luzy mag ihre Dienstpistole. Die Walther P5 ist solide, liegt leicht in der Hand. Die Hülsen werden links ausgeworfen, ein Bonus für sie als Linkshänderin. Was auf Amrum natürlich unwichtig ist.

»Möge die Macht mit dir sein«, sagt Jörgen.

Sie stellt die Füße zu eng, drückt den Waffenarm nicht weit genug durch. Als sie das Magazin leerschießt, verzieht sie jede Kugel und setzt den letzten Treffer in die Decke.

Jetzt Jörgen. Seine Haltung ist katastrophal, die Hand nach acht Bier mit Kümmel nicht mehr ruhig. Aber es reicht locker, um sie zu schlagen. Er lacht. »Nenn mich Luke Skywalker!«

Im Vereinsraum schellt das Telefon. Außer Ali weiß keiner, wo sie sind. Im selben Moment wird Luzy so kalt wie seit acht Jahren nicht mehr. Sie läuft hin, nimmt ab.

»Tamme ist verschwunden«, sagt Ali.

Er arbeitet auf der Fähre.

»Was heißt: verschwunden?«

»Als sie angelegt haben, war er nicht mehr an Bord.«

Tamme ist Alis Bruder. Luzy hört ihre Stimme brechen.

Kläämfögel

Auf den zehn Kilometern nach Wittdün ist sie auf der Straße allein. Sie glaubt, das Grollen des Meeres zu hören. Oder ihren Herzschlag. Das Quermarkenfeuer ist eine bloße Ahnung, ein fahles Glimmen, fernes Wetterleuchten. Dann wieder absolute Dunkelheit. Luzy fährt in das Eis und Wasser wie in eine Wand, nein, schiebt es mit dem Auto weg, als sei es Erdreich, Geröll. Trotz des Fernlichts beträgt die Sicht keine zwanzig Meter.

Da durchbricht sie das Hindernis und ist urplötzlich in einer gläsernen Glocke, von der Wind und Regen abprallen. Still ist es und alles ganz klar: die Heidemondlandschaft bis zum Wald, auf der Straße grober Sand, als habe ein Baulaster die Ladung verloren, dazwischen Grassoden, vom Sturm entwurzelt. Vor Luzy ein Schatten, dann riesige Raubvogelaugen, Schwingen, weit ausgebreitet, der aufgerissene Schnabel so scharf wie ein Ka-Bar-Messer. In den Krallen ein roter Brocken Fleisch. Luzy weicht aus, schleudert auf die Gegenspur, wo eine tote Katze liegt, bedeckt mit frischem Blut, das im Halogenlicht glitzert. Sie schlingert über den Fahrbahnrand. Ein Baum rast auf sie zu, schrammt um Haaresbreite am Auto vorbei, als sie das Steuer rumreißt. Er erwischt den Seitenspiegel, nimmt ihn mit in die Finsternis. Im gleichen Atemzug ist der Sturm zurück wie ein Rammbock, so brutal, dass sie meint, die Frontscheibe würde splittern. Aber sie hat das Auto wieder unter Kontrolle, bringt es zum Stehen. Luzys Herz ist ein Orkan im Nichts und doch winziger als ein Stecknadelkopf. Ewigkeiten vergehen, bis das Zittern nachlässt und sie sich weiterzufahren traut.

Sie hat nicht wegen des Autos gezittert.

Als sie dann Süddorf erreicht, ist hinter den Fenstern blaues Fernsehflimmern; heute läuft eine neue Episode von Magnum. Doch noch immer sieht sie den Raubvogel, seine Augen braun wie ihre, das Fleisch in den Krallen, einsam auf der Jagd trotz des Sturms.

Weil er ist, was er ist.

Luzy kriegt Ali nicht aus dem Kopf, ihren Blick, als sie mit Jörgen zurück zum Seeigel kam. Tamme und sie waren seit der Kindheit unzertrennlich. Nach dem frühen Tod beider Eltern nahm ihre Tante sie zu sich.

Sind unzertrennlich, korrigiert sie sich sofort. Bevor sie nicht auf der Fähre war, darf sie nicht spekulieren. Bei der Rückfahrt zur Kneipe hat Jörgen auf sie eingeredet. Er wollte unbedingt mit zum Hafen, aber was soll das bringen, so viel wie er intus hat. Bei ihm war es keine Cola, wie bei ihr. Drinnen hörte sie die anderen in der Stille atmen. Sie starrten Luzy an, als könne sie mit den Fingern schnipsen und Tamme stünde neben ihr in der Tür. Doch allen war klar, was es bedeutet, wenn jemand in Dagebüll auf dem Schiff war und in Wittdün nicht mehr. Dass man keine Überlebenschance besitzt, nicht bei dieser See. Sie nahm Ali in die Arme und flüsterte: »Es ist viel zu früh. Lass den Mut nicht sinken.« Und einiges mehr, an das sie sich nicht erinnert. Was man halt redet. Luzy erwartete, Ali wolle sie zur Fähre begleiten, und hätte ihr das nicht abgeschlagen, obwohl es jetzt eine polizeiliche Ermittlung war. Doch Ali war bereits im Mantel, halb auf dem Weg zu ihrer Schwägerin, um bei ihr zu sein. Ehe Luzy aufbrach, meinte sie: »Fahrt kein Auto mehr, jedenfalls die nicht, die stramm sind. Jörgen ruft Helms an, der bringt euch heim.«

Helms ist der einzige Taxiunternehmer der Insel. Im Herbst macht er das Geschäft bis zum Frühjahr dicht, aber als er hörte, was passiert war, kam er gleich.

Der Hafen ist dunkel bis auf das Licht im Reedereigebäude. Unterm Dach der Bushaltestelle erwartet der Erste Bootsmann Luzy bereits und sprintet geduckt mit ihr auf die Fähre. Da die Uthlande jeden Abend um neun anlegt und erst am folgenden Morgen wieder Föhr und dann das Festland ansteuert, besteht die Mannschaft nur aus Amrumern. An der Autorampe nimmt der Erste Offizier sie in Empfang. Wenn er lächelt, erinnert er an Gene Hackman. Aber nicht heute.

»Moin, Luzy.«

»Moin, Jannik.« Auf der Insel duzen sich alle.

»Ist die Eiswette verständigt worden?« fragt sie im Fahrstuhl. So heißt der Rettungskreuzer, der im Seezeichenhafen auf der anderen Seite der Bucht stationiert ist.

»Sie sind vor einer halben Stunde raus. Aber da draußen ist das komplette Chaos. Du weißt, wie sinnlos das ist.«

»Und trotzdem seid ihr gefahren. Was für ein Schwachsinn bei dem Sturm!« blafft sie ihn ungewollt heftig an.

»Es war noch Unterkante Autodeck. Und solange das so ist, kann man sich auf uns verlassen.«

Luzy drückt kurz Janniks Hand, um sich zu entschuldigen. Und er drückt zurück. Der Fahrstuhl hält auf dem Casinodeck. Dort sitzt die volle Crew. Fünfzehn Männer und Frauen stieren ins Leere, kaputt von der Schicht. Etliche Gesichter sind grau vor Trauer, doch von einigen weiß Luzy, dass sie mit Tamme nicht gut standen. Es war nicht leicht mit ihm, zuletzt. Obwohl der Zweitausend-Tonnen-Pott fest vertäut ist, spürt sie zehn Meter überm Wasser sein Schwojen in ihrer Magengrube. Der Kapitän gibt ihr die Hand, Wilm, ein erfahrener Seemann, der die Strecke seit ehedem fährt und schlimmere Stürme als den überstand, vor allem den Krebstod seiner Frau im Winter.

»Wer hat ihn zuletzt gesehen – und wann?« fragt Luzy, als sie sich gesetzt hat und die Hände an dem Kaffeebecher wärmt, den einer ihr reicht.

»Muss ich wohl gewesen sein«, sagt Jannik. »Kurz nachdem wir in Wyk abgelegt haben.«

Wyk auf Föhr. Dort macht die Fähre nach etwa einer Stunde Station, um dann Amrum anzusteuern, wo sie fünfundvierzig Minuten später anlangt.

»Ich bin runter zum Maschinendeck; einer von den Dieseln muckt, und bei der Dünung brauchen wir jedes PS. Tamme hat vor den Autos gestanden und gequarzt. Hat damit angefangen, seit – weißt ja.«

Tamme ist einer der beiden Vorholer. Sein Job ist es, sich bei An- und Abfahrt um das Rangieren der Fahrzeuge zu kümmern. Während der Passage hat er wenig bis nichts zu tun.

»Habt ihr miteinander geredet?« fragt Luzy.

»Nein. Er hat mit dem Rücken zu mir gestanden, vorne am offenen Deck, und aufs Meer gestarrt.«

An Bord gibt es keine Videoüberwachung, weiß sie.

»Hat er oft gemacht«, wirft einer ein.

»Und wo warst du?« Sie meint Gesche, eine junge, zierliche Frau mit ewig müden Augen, der niemand ansieht, wie resolut sie als Vorholerin sein kann, besonders in der Saison, wenn es auf dem Autodeck schon mal ruppig zugeht.

»Hab hier gehockt und Tee getrunken. War ja nichts los. Für Imke hat es sich nicht mal gelohnt, die Bar aufzumachen.«

»Wann habt ihr sein Fehlen bemerkt?«

»Als das Deck leer war. Dachte, Tamme wär auf Klo oder so. Waren nur fünf Autos, da haben wir nicht beide rangemusst.«

»Und dann?«

»Hab ich seine Brille gefunden.«

»Wo?«

»Lag an der Wand. Ich hab Tamme gesucht. Es ist hektisch geworden. Der Käpt’n hat uns alle zusammengetrommelt. Wir haben das Schiff von oben bis unten gefilzt, bis klar war, dass er nicht mehr an Bord ist.«

»Ich habe bei Ali angerufen. Wusste ja, du feierst dort heute deinen Fünfzigsten«, sagt Wilm. »Gratuliere. Tut mir leid, wie es ausgegangen ist.«

Die anderen nicken stumm, ohne ihre Blicke zu heben. Von allen Geburtstagsglückwünschen, die Luzy nie kriegen wollte, sind diese die schlimmsten.

Könnte er ungesehen von Bord gegangen sein?

Nein, nicht bei fünf Autos. Gesche hätte das bemerkt.

»Die Brille lag also an der Reling«, sagt sie. »Wo genau?«

»Draußen auf dem Vordeck«, erwidert Gesche.

»Welche Seite?«

»Backbord unter der Ankerwinsch.«

Wie hoch ist die Schiffswand dort? Zwei Meter, schätzt sie. Es ist ganz unmöglich, über Bord geweht zu werden, selbst bei diesem Wind. Die Winsch ist auf einer Plattform, wenn sie das richtig erinnert, umgeben von einer kniehohen Reling.

»Könnte er was an der Winsch gemacht haben?« fragt Luzy.

Wilm schüttelt den Kopf. »Damit haben die Vorholer nichts zu schaffen, abgesehen davon, dass mit der Winsch nichts war. Wenn dort Bedarf wäre, würde der Öler das übernehmen, oder einer seiner Leute.«

»Hilf mir mal.«

»Ich bin der Öler«, meint ein kleiner, zäher Bursche, dessen Namen Luzy vergessen hat. Sein tiefer Haaransatz erinnert an einen Höhlenmenschen. »Wir kümmern uns um alles, was mit der Technik zu tun hat. Wenn von den anderen jemand nachts auf der Winsch rumturnen würde, hätte er meine Flachzange im Arsch.«

»Wi wijt dach al, dat at nään ünfaal as«, murmelt einer.

Das muss man ihr nicht übersetzen.

Als Luzy auf die Insel kam, war Tammes Tochter Nele zehn, ein fröhliches Mädchen mit spindeldürren Fohlenbeinen, das praktisch nur aus blonden Zöpfen bestand.

Nele war eine von denen, über die manche sagen: Die wird mal alle Männer verrückt machen. Für Tamme und seine Frau war sie alles. Als ihre Lehrer meinten, Nele habe das Zeug zum Abitur, ist sie die erste Zeit zwischen hier und Föhr gependelt, weil auf Amrum bloß eine Zwergschule und kein Gymnasium ist. Zwei Stunden hin und zurück. Mit fünfzehn zog sie in eine Schüler-Wohngemeinschaft in Husum und kam nur noch am Wochenende vom Festland nachhause. Für ihre Eltern war das schwer, aber das Gymnasium gehört zu den besten im Norden, und solche WGs sind nicht ungewöhnlich für die Kinder hier; auf Amrum wird man früh erwachsen.

Vor etwa einem Jahr verschwand sie auf dem Heimweg von der Disko. Man suchte sie mit zwei Hundertschaften und fand sie am nächsten Morgen in einem Gebüsch hinterm Sportplatz. Einmal nahm Ali allen Mut zusammen und fragte Luzy, ob sie Einzelheiten aus Neles Ermittlungsakte kenne. Sie verneinte. Eine Lüge. Es gibt keine Grausamkeit, die dem Mädchen nicht angetan wurde. Mehrere Täter, das ist sicher. Sie sind bis heute nicht gefasst worden. Und Luzy weiß: Da kommt nichts mehr. Tamme war einmal ein gutaussehender Kerl mit Schultern, die den Himmel trugen. Zuletzt sah sie ihn im vorigen Monat. Mit neununddreißig ein alter Mann.

Er steht morgens auf und geht abends ins Bett, sagte Ali. Aber ich glaube, er weiß nicht, ob er lebt oder tot ist.

Es ist schlimmer, denkt Luzy.

Man kann gleichzeitig am Leben und tot sein.

»Hat er heute anders gewirkt als sonst?« fragt sie.

»Anders als Milliarden Meilen weg?« Der Kapitän schüttelt den Kopf. »Ich kenne mich mit dem Sterben aus. Aber das mit Nele –« Er wischt sich über die Augen. Jannik legt ihm sachte die Hand auf die Schulter.

»Hat er mit jemandem von euch darüber geredet, sich was antun zu wollen?«

»Meinst du: heute?« fragt ein Bootsmann.

Sie hören bloß den Wind und den Regen auf den Fenstern. Wenn je ein Schweigen unerträglich war, dann dieses.

»In Wyk hat er mit einem von der Abfertigung geschnackt«, sagt Wilm. »Habe ich von der Brücke aus gesehen.«

»Vorhin?«

Der Kapitän nickt. »Sind ja immer ein paar Minuten.«

»Das war Thomas«, sagt Gesche. »Die haben eine geraucht.«

»Thomas – und wie noch?«

»Nitschke.«

»Den Anruf kannst du vergessen«, meint Wilm. »Jedenfalls heute. Auf Föhr sind mehrere Masten umgestürzt, dort ist das Telefonnetz im Eimer. Ich könnte deren Wache anfunken, aber da ist jetzt keiner mehr.«

»Habt ihr die Adresse von diesem Nitschke?«

»Müsste drüben sein.« Er nickt Jannik zu.

Luzy steht auf. »Geht nachhause zu euren Familien. Nehmt euch Zeit zum Reden und lasst euch in den Arm nehmen. Bei Jörgen und mir kriegt ihr immer einen Kaffee, das wisst ihr.«

Sie fährt mit Jannik und Gesche nach unten. Er läuft rüber zur Reederei. Luzy möchte sich von Gesche zeigen lassen, wo sie Tammes Brille gefunden hat. Sie streifen die Kapuzen über und zurren sie unterm Hals fest. Als sie auf das Vordeck treten, verpasst gleich die erste Bö Luzy einen Kinnhaken. Das grelle Neon aus dem Inneren des Schiffes wird direkt hinter dem Bug gänzlich absorbiert, als sei dort ein schwarzes Loch. Sie stellt sich die Fähre auf See vor, jede Welle ein Hammerschlag, sieht Tamme hier stehen, ins Nichts starren und an Nele denken, an die Fohlenbeine und Strohzöpfe seines kleinen Mädchens, das niemals erwachsen werden würde.

»Hier hat die Brille gelegen.«

»Von wo kam der Wind?« fragt Luzy.

»Backbord.«

Wäre ihm die Brille von der Nase gefegt worden, müsste sie auf der anderen Seite liegen, zumindest in der Schiffsmitte.

Er könnte sie abgelegt haben, ehe er auf die Reling gestiegen und gesprungen ist. Es gibt kuriose Berichte über Selbstmörder. Manche falten ihre Kleidung ordentlich und scheiden nackt aus dem Leben. Andere kämmen sich vorher noch die Haare.

»Sie haben sich umarmt. Das war komisch«, sagt Gesche.

Luzy schaut sie fragend an.

»Tamme und Nitschke, nach der Zigarette, so als ob sie alte Freunde wären. Dabei haben die sich kaum gekannt. Glaub ich jedenfalls.«

Jannik kommt und gibt ihr den Zettel mit Nitschkes Adresse. »Süderstraße, ist nicht weit vom Hafen.«

»Fahrt ihr morgen raus?«

»Kann ich mir nicht vorstellen. Die Personenfähre ist heute schon in Dagebüll geblieben. Und die Suppe wird immer dicker. Könnte in den nächsten Tagen ’ne Sturmflut werden. Wenn du mich fragst: Wir sollten alle mal Luft holen. Das schüttelt man nicht ab wie ein paar Regentropfen.«

Das Häuschen ist in Steenodde, einer kleinen Siedlung hinter der Bucht. Dort haben Ali und Tamme mit den Eltern gewohnt, bis die von einem besoffenen Bremer totgefahren wurden.

Ali macht ihr auf. Luzy ist froh, dass in ihrem Blick keine Hoffnung ist, die sie ihr sofort nehmen müsste. Merle hockt in der Küche. Wenn Luzy sie anschaut, sieht sie immer Nele. Wie sie aussähe, wenn sie nicht in dem Grab liegen würde, auf dem sommers wie winters frische Blumen sind.

Luzy setzt sich zu ihr, fasst ihre kalte Hand. »Die Eiswette ist rausgefahren. Wir wissen noch nichts.«

»Danke«, flüstert Merle.

»Wofür?«

»Dass du das an deinem Geburtstag machst.«

Luzy weiß nicht, was sie erwidern soll. Nach Minuten des Schweigens sagt sie: »Merle, ich muss dich das fragen. Hat er davon gesprochen, vielleicht –«

»Ja. Oft. Ich auch. Aber wusste immer: Ich tu’s nicht.«

Sie bleibt eine Zeit. Hält Merles Hand. Worte wären nichts.

Ali bringt sie raus und schließt die Küchentür. »Er ist nicht gesprungen, das ist unmöglich«, flüstert sie.

Ihre Augen machen Luzy Angst.

»Als wir klein waren, ist er fast ertrunken, beim Schwimmen vorm Süddorfer Strand. Weil das so schrecklich für ihn war, hat er Monate bloß bei Licht einschlafen können. Mit Merle hat er nie darüber geredet, glaube ich jedenfalls. Auch bei mir hat er es nur noch ein Mal erwähnt, nach Neles Tod. Er hat gemeint: Es muss schön sein, gar nichts mehr zu spüren. Aber ich krieg nicht in den Kopf, wie man ins Wasser gehen kann.«

Plötzlich weiß Luzy, dass es ein Fehler war, auf dem Schiff nicht gefragt zu haben, zu wem diese fünf Autos gehört haben, die auf Amrum von Bord gefahren sind.

»Kennst du Thomas Nitschke?«

»Nein. Wer ist das?«

»Er arbeitet in Wyk an der Fähre und war der Letzte, der mit Tamme geredet hat. Könnten die beiden befreundet gewesen sein, und Tamme behielt das für sich?«

»Wie kommst du darauf?«

»Weil sie sich umarmt haben.«

»Er hat ja Merle und mich nicht mal mehr umarmt.«

Luzy drückt Ali zum Abschied.

Die lässt sie nicht los.

»Wie wird das ablaufen?« fragt sie. »Egal ob man ihn findet oder nicht.«

»Wir müssen es an Niebüll geben. Wenn es kein Unfall oder Selbstmord war, geht es nach Husum zur Kripo.

Sie liest Alis Gedanken.

Dann endet es wie bei Nele.

»Du steigerst dich in was rein. Darauf deutet nichts hin.«

»Ich kenne meinen Bruder besser als du«, flüstert Ali. »Ich will, dass du den findest, der das getan hat.«

»Selbst wenn du recht hättest: Die nehmen uns das weg.«

»Was für eine Art Polizistin warst du, bevor du nach Amrum gekommen bist?«

Luzy wird steif.

»Nein, du bist mir nichts schuldig. Aber wenn wir wirklich Freundinnen sind, gib mir keine Antwort wie im vorigen Jahr, als ich dich gefragt habe, ob du etwas über Nele weißt, was die Kripo uns nicht gesagt hat.«

»Eine andere Art Polizistin«, sagt Luzy.

Ali lässt sie los und sieht sie an. »Das wusste ich immer. Und Jörgen auch, spätestens nachdem Bente Reents mit kaputtem Kiefer und gebrochenen Rippen aufs Festland ins Krankenhaus gebracht wurde. Einer, der drei Zementsäcke auf den Schultern tragen konnte wie Federkissen. Jörgen ist doch nicht blöd.«

Damals stellte er mir die Frage.

Hast du schon einmal einen Menschen getötet?

Er benutzte das Öömrang-Wort, als mache es das leichter.

Duadmaage.

Und ich habe gelogen.

»Bist du meine Freundin?« fragt Ali.

»Ja.«

»Dann versprich es mir.«

»Ich verspreche es.«

Ihre eigene Stimme ist ihr fremd.

»Hab dich lieb«, sagt Ali und kehrt zu Merle zurück.

Sie steht noch im dunklen Flur, lauscht auf die Stille hinter der Tür, hört das Ungesagte, das, was nie mehr gut wird. Dann geht sie hinaus in den Sturm.

Nach kurzer Fahrt ist sie am Seezeichenhafen. Die Eiswette hat gerade erst festgemacht. Ein Mann hantiert noch an Deck, die elektrischen Winschen zurren die Leinen fest. Luzy schaut auf die Uhr. Sie waren über drei Stunden dort draußen, mehr kann niemand von ihnen erwarten. Während der Wache ist das Boot mit vier Männern besetzt. In dieser Zeit wohnen sie rund um die Uhr an Bord. Ich habe bei denen mal mitgegessen, hat Jörgen gemeint. Mein Verdacht: Die haben eine verendete Robbe gekocht. Als sie sich über die Planke zu dem Zwanzigmeterboot tastet, ist es, wie auf dem Buckel eines Kampfstieres zu balancieren. Der Mann reicht Luzy die Hand, sie steigen nach unten. Dort sitzen die anderen. Ihre stumpfen Gesichter sind noch auf See.

»Ich habe noch mehr schlechte Nachrichten für euch«, sagt sie. »Muss rüber nach Föhr. Jetzt.«

Wenn sie erklärt hätte, ihr müsst mir Kisuaheli beibringen, hätten sie genauso geguckt.

»Beest dü desag?« raunzt Mario. Er ist hier der Chef. Würde er auf dem Rummel den Lukas hauen, flöge der ins Weltall.

»Ich würd’s euch gern ersparen. Und mir auch.«

Sie ziehen den Rotz hoch, machen das Boot aufs Neue klar. Luzy ist schon einmal mit ihnen gefahren, vor Jahren, als Alis Bedienung Inga im Seeigel Wochen zu früh die Wehen bekam und bei stürmischem Wetter nach Föhr in die Klinik gebracht werden musste. Ihr Mann war auf Montage in Dänemark, und aus Angst, das Kind würde auf dem Seenotkreuzer kommen, flehte Inga Luzy an, sie nicht mit den Kerlen allein zu lassen.

Als Mario auf der Brücke das Rotlicht einschaltet und unter ihnen über zweitausend PS aufbrüllen, macht das Boot einen Sprung wie ein Panther, sodass sie sich, obwohl sie mit einem Vierpunktgurt angeschnallt ist, am Schalensitz festklammert.

»Na, wie fühlt sich das an?« knurrt Mario.

»So muss es sein, wenn die Fruchtblase platzt.«

Von hinten hält der Funker ihr eine Kotztüte hin.

Die ultrastarken Carlisle-Scheinwerfer auf dem Radarmast der Eiswette leuchten die Monstersee geisterhaft aus, und Luzy sieht das Chaos, in dem eine Suche nach Tamme ganz und gar sinnlos gewesen ist.

Die Überfahrt mit Inga war schlimm, obwohl sie das meiste von dem Törn verdrängt hat und ihr immer bloß der Moment vor Augen steht, in dem sie Inga dieses winzige Bündel in ihre Arme legte, dreitausend Gramm Mensch.

Doch das war nichts gegen diesen Ritt.

In einer tückischen Choreografie rollen Brecher kreuz und quer von allen Seiten heran; Luzy ist, als ob sie sogar von oben kämen. Sie wuchten das Boot auf die Gipfel der Wellenberge, wo es durch einen Schleier aus Gischt im freien Fall in die Tiefe stürzt und Luzy eine Gratislektion in Schwerelosigkeit erteilt. Wenn der Bug auf die See kracht, explodieren Wasserbomben mit solcher Gewalt, dass die Wischer für Sekunden still stehen und die schmalen Fenster, die wenig mehr als Bullaugen sind, nichts als weißen Schaum zeigen. Beim Auftauchen schüttelt sich das Boot, wirft Ströme von Wasser ab, um sich erneut von den Wellen verprügeln zu lassen.

Nach fünf Minuten muss sie um die zweite Kotztüte bitten.

Es gibt gefährliche Untiefen; noch vor hundert Jahren sind hier zahlreiche Schiffe gesunken oder gestrandet. So stark, wie das Boot krängt, würde jedes andere kentern. Doch Luzy weiß, es ist unsinkbar, sogar bei einem Überschlag.

Haben die Männer damals gesagt.

Vielleicht auch bloß, um Inga zu beruhigen.

Als sie am Pier liegen, kratzt Mario sich am Kopf: »Nur drei Kotztüten, ich staune. Kriegst ’ne Portion Saure Nierchen.«

Sie schafft es gerade noch rechtzeitig.

»Geht doch. Jungs, die Firma dankt.«

Die anderen geben ihm je einen Zehnmarkschein.

Auf der Nachbarinsel ist der Sturm so stark wie bei ihnen. Aber, verrückt, ohne den Regen; jedenfalls kann man das bisschen Fissel nicht so nennen. Wie es scheint, hebt der Himmel sich das ganze Wasser für Amrum auf. Sie hat sich die Adresse auf dem Plan angesehen. Vom Fährhafen sind es bloß fünfhundert Meter zu Fuß. Föhr ist schön, aber sie mag es nicht besonders. Fast neuntausend Einwohner. Zu groß für sie.

An der Süderstraße stehen Häuser, in denen früher Kapitäne gewohnt haben könnten, doch das von Nitschke ist keins, vor dem Touristen die Fotoapparate hochreißen, es sei denn, man schätzt grauen Spritzputz. Mitten in der Nacht ist alles dunkel. Luzy schellt. Beim dritten Versuch geht die Tür auf. Der Mann ist angezogen, aber in der zerknitterten Kleidung hängt noch der Schlaf. Ali meinte mal, Häuser und ihre Bewohner würden sich im Laufe der Zeit immer ähnlicher werden. In der Tat hat Nitschkes Gesichtsfarbe sich der Fassade angepasst.

»Entschuldigung, ich weiß, wie spät es ist. Leider muss ich mit Ihnen sprechen«, sagt Luzy. »Es geht um Tamme Boisen.«

»Was ist mit dem?«

Nitschke stammt nicht von hier, aber sein Zungenschlag ist ihr vertraut. »Lassen Sie mich rein?«

Sie gehen in die Stube. Luzy kann sich nicht vorstellen, dass Nitschke mit einer Frau lebt. Und wenn doch, müsste sie eine Putzmittel-Allergie haben. Im TV läuft stumme Reklame auf RTL. Es müffelt nach Fisch aus dem Karton, schalem Bier und Abenden, deren einziger Höhepunkt Kampfstern Galactica ist.

Als sie sich setzt, lässt sie den Parka links am Holster offen.

»Tamme war auf Amrum nicht mehr an Bord«, sagt Luzy.

Sie ist sich nicht sicher, ob Nitschke sie verstanden hat.

»Er ist auf See geblieben.«

Nitschke fummelt eine Selbstgedrehte aus der Hemdtasche, seine Hand zittert. Die Camel, die Luzy sich anzündet, drückt sie nach dem ersten Zug aus, weil ihr wieder übel wird.

»Ich bin voriges Jahr von Berlin hergezogen«, sagt er. Seine Stimme schleppt Gebirge hinter sich her. »Kurz nachdem das mit Tammes Tochter – Kollegen haben es mir erzählt. Immer wenn die Fähre hier den Stopp hatte, hab ich ihn an der Rampe stehen und rauchen sehen. Tausendmal wollt ich zu ihm, hab’s nie gemacht. Aber gestern – Es waren genau sieben Jahre, dass meine Tochter – Britta. Zu Tamme habe ich gesagt: Ich wollte es jeden Tag tun, eine Ewigkeit. Bis mir klargeworden ist, dann gibt es niemanden mehr, der sich an Britta erinnern wird. Weil meine Frau auch –« Die Stimme kommt kaum noch gegen die Gebirge an. »Seitdem gibt es schlechte und bessere Tage. Aber die besseren werden mehr. Wir haben uns umarmt, das hat uns beiden gutgetan. Ich versteh das nicht. Versteh’s nicht. Er hat gemeint: Lass uns doch nächste Woche mal auf ein Bier treffen.«

Als Luzy zurück an Bord ist, liegen die Männer schon in den Doppelstockkojen. »Wir können«, sagt sie.

»Für heute hast du genug Spaß gehabt«, brummt Mario und wälzt sich zur Seite. »Wir legen im Hellen ab. Es sei denn, die Titanic sinkt heut Nacht vor Amrum.«

Luzy quetscht sich in die freie Koje über ihm, so erschöpft, dass das Boot sie nach einer Minute in den Schlaf geschunkelt hat. Das Brüllen der Motoren macht sie wach. In der Nasszelle hält sie das Gesicht unter eisiges Wasser, sieht im halbblinden Spiegel die Augen des Raubvogels. Schwankende Stufen hoch zur Brücke. Hagel hämmert. Kreuzseen schnappen nach dem Boot. Die Sturmwalze erschafft ein neues Monster.

Das Kotztüten-Angebot lehnt sie dankend ab.

»Kannst morgen bei uns anfangen«, sagt Mario. »Kaffee?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Jörgen hat uns angefunkt. Er wartet im Hafen auf dich.«

Ihr Magen fährt wieder Fahrstuhl.

»Sie haben Tamme.«

Fräämen

Am Finsterhimmel überschlagen sich Wolken. Bevor sie in den Streifenwagen steigt, starrt Luzy zum Fährhafen. Die Uthlande liegt fest. Jörgen nimmt die Strecke über Wittdün, obwohl die Schotterpiste vor dem Deich eine Abkürzung wäre. Doch dann müssten sie direkt an Merles Haus vorbei.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Der alte Smit. Er war mit Tus auf der Mole, bekloppt genug bei dem Wetter. Tus hat angeschlagen, und Smit hat die Leiche überm Strand entdeckt. Vom Meer an Land geschmissen.«

»Wer sichert das dort?«

»Zwei von der Freiwilligen Feuerwehr.«

»Hast du ihnen gesagt, dass sie Tamme nicht anfassen oder bewegen dürfen?«

»Warum sollte ich?«

»Weil das jetzt ein Tatort ist.«

Sein Kopf ruckt zu ihr. Sie gibt ihm einen Abriss der Nacht. Aber ihr Versprechen erwähnt sie nicht.

»Stimmt, er ist damals fast ertrunken«, meint Jörgen, als er sich gefasst hat. »Ich bin dabei gewesen. Sein Vater hat ihn aus dem Wasser gezogen und so lang auf seine Brust gehauen, bis aus seinem Mund ’ne Fontaine wie bei ’nem Wal kam.«

Jörgen und Tamme konnten sich nicht riechen. Luzy musste mal im Seeigel dazwischengehen, sonst hätten die beiden sich geprügelt. Was sie miteinander hatten, weiß sie nicht.

»Seid ihr als Kinder Freunde gewesen?« fragt sie.

»Er war ein Arsch«, knurrt Jörgen nur.

Als er an der Mole stoppt, sehen die zwei von der Feuerwehr aus dem Hanomag zu ihnen raus. Es ist würdelos, wie Tamme dort liegt, im blanken Sturm, verrenkt im Regen, mit nur noch einem Schuh. Gischt brandet nah. Luzy guckt zu Merles Haus, zweihundert unsichtbare Meter.

»Ich habe Smit eingebläut, es noch für sich zu behalten, bis du da bist«, sagt Jörgen. »Niebüll ist verständigt. Wenn sie den Seenotkreuzer nehmen, könnten sie demnächst hier sein.«

Sie weiß, wen man schicken würde. Es sind zwei von denen, die seit der Verbeamtung der Pension entgegendämmern. Den einen hat sie Fußpilz getauft, den anderen Koma.

Die kämen frühestens am Nachmittag.

Falls ich mich irre und sie die Eier dafür haben.

Luzy geht neben der Leiche in die Hocke. Ein Hämatom am Haaransatz, aber das könnte passiert sein, als er unter Wasser an die Bordwand gesaugt wurde. Weder an den Händen noch an den Handgelenken sind Gewaltspuren. Auch nicht am Hals. Vorsichtig betastet sie den Kehlkopf. Scheint nicht gebrochen zu sein. Nach Vorschrift müssten sie Tamme liegen lassen, bis Fußpilz und Koma kommen. Wann? Nächste Woche? Sie rennt zum Auto, holt die Polaroid. Macht Fotos.

»Hast du den Leichensack dabei?«

Jörgen nickt.

Luzy winkt den Feuerwehrmännern. »Wir bringen ihn zur Wache«, schreit sie gegen die kreischende Brandung an.

»Gibt ’nen Einlauf«, meint Jörgen.

Er will zum Streifenwagen, sie hält ihn am Arm fest. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Merle uns entdeckt. Soll sie ihn so sehen? Was sagst du, wenn du ihr in die Augen schaust? Dass du auf zwei Idioten wartest, bei denen die Leichenstarre jeden Morgen im Büro einsetzt?«

Als der Tote auf einer Pritsche der Arrestzelle liegt und sie mit Jörgen allein ist, ruft sie Ali an.

»Smit hat ihn gefunden, bei der Steenodder Mole.«

»Gott sei Dank.«

Sie weiß, wie ihre Freundin das meint. Es wäre schlimmer, einen leeren Sarg in die Erde lassen zu müssen.

»Hast du bei Merle übernachtet?« fragt Luzy.

»Ja. Ich zieh mich nur um, dann fahr ich wieder hin.«

»Er ist jetzt bei uns. Wenn ihr ihn sehen wollt, könnt ihr das. Aber es wäre keine gute Idee.«

»Ich habe ihr eine Schlaftablette gegeben. Sie ist frühestens in zwei Stunden wach.«

»Gut. In den nächsten Tagen könnten welche vom Festland kommen. Dann ruf ich vorher an.«

»Redest du mit diesem Mann auf Föhr?«

»Bei dem war ich heute Nacht schon.«

Sie hört, wie Ali scharf die Luft einsaugt.

»Mit der Eiswette?«

»War keine Butterfahrt.«

»Was hat er gesagt?«

»Wir reden nachher in Ruhe.« Sie legt auf und schenkt sich Kaffee ein. Wie immer, wenn Jörgen ihn gekocht hat, überlegt sie, auf Tee umzusteigen. Luzy schnappt sich eins der belegten Brötchen, die er geholt hat, und merkt jetzt erst, was für einen Riesenschmacht sie hat. Sie ruft bei der Reederei an, damit die gestrige Passagierliste für sie kopiert wird. Gesche soll an den Hafen kommen, Luzy wird dort warten.

Dann, zu Jörgen: »Das mache ich allein. Sollte Dagebüll hier auf der Matte stehen, während ich weg bin, sagst du, ich hätte das mit der Leiche über deinen Kopf hinweg entschieden.«

»Du glaubst echt, er ist nicht freiwillig ins Wasser? Nur weil er als Kind ein mieser Schwimmer war? Das ist irre. Er ist im letzten Jahr durch die Hölle gegangen. Was wissen wir, was in seinem Kopf war? Dein Spruch ist doch immer: Bei mehreren Möglichkeiten ist die einfachste meistens richtig.«

Ganz gleich, was zwischen ihm und Tamme gestanden hat, sie sieht, wie es ihn quält. »Gestern hast du gemeint, ich hätte nie die Vorgesetzte herausgekehrt. Tut mir leid, das wird sich fürs Erste ändern. Sollten die Dagebüller wirklich den Mumm haben, das Boot zu nehmen, kannst du nachhause. Sag ihnen, ich komme hierher. Die werden auf keinen Fall ohne mich bei Merle aufkreuzen.«

Sie wartet fünfzehn Minuten, dann springt Gesche am Hafen zu ihr in den Golf und gibt ihr einen Wisch. »Fünf Autos, wie ich gesagt hab. Vier sind von hier gewesen.«

Gesche mustert sie, weiß nicht, was das soll.

Luzy überfliegt die Namen und Kennzeichen. Vier Mal NF für Nordfriesland, sie kennt die Passagiere. Der letzte Wagen hat eine Kieler Nummer. Fünf Personen sind eingetragen, alles Männer, deutsche Allerweltsnamen.

»Was war der Kieler für ein Fahrzeugtyp?« fragt sie.

Gesche überlegt kurz. »Schwarzer Ford Transit.«

»Versuch, dich genau zu erinnern: neu, alt? War irgendwas daran auffällig?«

»Relativ neu, glaub ich. Vermackt war er jedenfalls nicht.«

»Lag er tief? Könnten die was Schweres geladen haben?«

Gesche macht eine ratlose Geste. Rote Flecken wandern im Uhrzeigersinn über ihr Gesicht.

»Sind die Männer oben im Casino gewesen?«

»Ja, hinten links, wo man für sich ist. Das war ein Stück weg von mir, ich hab bei Imke am Tresen gehockt. Der eine ist dann gekommen und hat O-Saft für alle gekauft.«

»Hast du ihn reden hören? Deutscher?«

»Keine Ahnung. Er hat kein Wort gesagt, hat die Fläschchen aus der Kühlung genommen und bar bezahlt.«

»War einer von den anderen Passagieren näher dran?«

»Bestimmt nicht. Die haben alle vorn gesessen.«

»Wie waren die Männer angezogen?«

»Wie’s sich bei dem Wetter gehört.«

»Beschreib sie mir.«

»Alle unter vierzig, kurze Haare. Vier waren groß. Könnten Sportler sein. Breites Kreuz. Ist bei den dicken Jacken nicht so aufgefallen, aber ich hab ’nen Blick dafür. Der Fünfte war klein, hatte nichts auf den Rippen. Als er mir das Ticket gegeben hat, hab ich den Ausschlag am Hals gesehen, so ’ne Echsenhaut.«

Luzy muss eine rauchen, obwohl sie weiß, dass Gesche das hasst. »Mach ruhig dein Fenster auf, nasser wird’s nicht mehr. Waren sie während der Fahrt ständig alle am Tisch?«

»Hab nicht drauf geachtet.«

»Wie war das beim Rangieren in Dagebüll. Hat Tamme dort mit den Männern geredet?«

Gesche zuckt die Schultern.

»Bei der Abfahrt in Wyk waren sie oben?«

»Muss so gewesen sein. Jedenfalls hab ich auf dem Autodeck keinen von den Passagieren gesehen.«

»Hatten sie’s in Wittdün eilig, von Bord zu kommen?«

»Ganz normal.«

»Hast du erkannt, wer von denen am Steuer war?«

»Einer von den Großen. Der mit der Echsenhaut hat neben ihm gehockt. Die anderen konnt ich nicht sehen, hinten waren die Scheiben verspiegelt.«

Fünf. Ein kleines Besteck.

Schnell rein, schnell raus. Und ein Terrier ist immer dabei.

»Jetzt fällt mir doch noch was ein«, sagt Gesche. »Als Imke dem, der die O-Säfte gekauft hat, das Wechselgeld gab, ist ihr ’ne Münze aus der Hand gefallen und übern Tresen gehüpft. Er hat sie mit dem kleinen Finger in die Luft geschnippt und mit links gefangen, in der anderen Hand waren ja die Fläschchen. Die Münze hatte ’ne irre Flugbahn, richtige Bananenflanke. So schnell kannst du gar nicht gucken.«

Luzy ekelt sich vor der Zigarette und drückt sie aus. »Sollte es wider Erwarten doch noch aufklaren, und die Kerle checken auf der Fähre ein, rufst du mich über Funk.«

»Du machst mir Angst.«

»Ja, tut mir leid. Ist wahrscheinlich nur falscher Alarm. Und wenn du das nächste Mal Thomas Nitschke in Wyk siehst, sag ihm, dass er recht hat und die besseren Tage mehr werden. Er weiß, wie ich’s meine.«

Sie fährt zurück. Wildgänse suchen Schutz unter entlaubten Bäumen. Auf der Wache ist es still, das Büro leer. Sie geht nach nebenan zur Arrestzelle. Jörgen sitzt auf der zweiten Pritsche, starrt den Leichensack an und weint. Sie hockt sich neben ihn. Es ist, als würden die dicken Wände unter seinen zweieinhalb Zentnern zittern. Minuten. Dann bringt er raus: »Als wir klein gewesen sind, war er immer der Held. Und später hat er jedes Mädchen gekriegt. Guck mich nur an. Ich war das Riesenbaby. Er wusste ganz genau, dass ich in Grietje verliebt war.«

Hier ist Platz für vier. Für sie, Jörgen, Tamme und den Tod.

»Ich hab dann was Hässliches zu ihr gesagt, das hat sie mir lange nicht verziehen. Alles wär vielleicht anders gekommen, und ich hätt nicht zwanzig Jahre auf sie warten müssen. Echt, er war so ein Arsch. Aber als das mit Nele passiert ist, hab ich mich geschämt für mein beschissenes kleines Elend. Und jetzt werd ich ihm das nie mehr sagen können.«

Luzy legt den Arm um ihn, soweit das bei einem so riesigen Mann geht. »Weiß du, schöne Dinge, auf die man lange wartet, sind doch viel schöner als die, die einem einfach in den Schoß fallen. Und tanzen tust du wie Travolta, du Riesenbaby.«

Jörgen lacht und weint in einem. Er schnäuzt sich. Luzy ist nicht sicher, ob es ein Taschentuch oder ein Bettlaken ist.

»Wer war auf dem Schiff?« fragt er.

»Vier von hier. Und ein Ford Transit mit fünf Männern.«

»Fräämen«, sagt Jörgen.

Fremde, die nicht von Amrum sind. Alles in einem Wort.

»Ja.«

»Wer sind die?«

»Das weiß ich nicht. Aber sie sind gefährlich.«

»Können wir’s mit denen aufnehmen?« Leise fügt er hinzu: »Wenn ich wir sage, meine ich dich.«

Früher vielleicht. Aber nun bin ich fünfzig und schleppe fünfzehn Pakete Zucker mit mir rum.

Um ihm Mut zu machen, sagt sie: »Ich denke schon.«

»Wo fangen wir an?«

»Jörgen, hör gut zu: Ich weiß, auf was ich mich einlasse, du nicht. Wir sind hier ganz auf uns allein gestellt.«

Er nickt. »Wie Humphrey Bogart und die Frau in dem Film, der in dem Hurrikan auf dieser Insel spielt.«

Key Largo. Nur ist er nicht Bogie. Und ich bin nicht die Bacall.

»Aus Dagebüll wird niemand kommen«, sagt Luzy. »Weder heute noch morgen. Das ist gut so, die würden wie Tamme in einem Leichensack landen. Ich könnte die Kripo in Flensburg informieren. Aber für die wäre ich nur eine Inselpolizistin, die jottwede versauert und sich wichtig macht.«

»Was ist mit Föhr? Die sind besser besetzt als wir.«

Luzy denkt an den gutmütigen Gunnar und seine Kollegen, die noch nie die Waffen ziehen mussten, außer im Vereinshaus. Männer mit Familien. »Nein. Wir beide können das eine oder andere zusammen machen. Doch wenn wir diese fünf finden, will ich weder dich noch sonst jemanden in meiner Nähe.«

»Okay.«

»Das genügt nicht. Du musst es schwören.«

»Ich schwör’s.«

»Ich mache die Halterabfrage, du übernimmst die Hotels.«

Einige Minuten später wissen sie, dass sie Zimmer für eine Nacht in der Friesenkoje reserviert hatten, aber nicht angereist sind. Das Nummernschild des Transit ist gefälscht.

Sie ruft den Kapitän der Fähre an. »Fahrt ihr heut bestimmt nicht mehr raus?«

»Vergiss es. Gesche ist hier. Sie hat von den Männern erzählt. Ich habe eine Waffe.«