Kaltes Verlangen - Natalie Tielcke - E-Book
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Kaltes Verlangen E-Book

Natalie Tielcke

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Beschreibung

Ich beobachte dich und jeden deiner Schritte. Ich bin absolut von dir besessen. Ich will dir nah sein. Immer und überall.

Am Tag schleich ich mich als Patientin in deine Praxis. Nachts sitze ich vor deinem Fenster und blicke in deine Wohnung. Ich warte dort, bis du schlafen gehst. Das ist mein Geheimnis.

Aber was, wenn dein eigenes Geheimnis noch viel schlimmer ist?

Ein außergewöhnlich vielschichtiger Thriller zum Thema Stalking, bei dem wenig so ist, wie es scheint und der in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele führt.

»Es gehört einfach zu der Natur des Menschen, sich und die Welt zu zerstören. Ein Zwang, ein Drang, ein Trieb, der vorhanden ist, noch bevor man geboren wird.«

Das sagen die Leserinnen und Leser in der Lesejury:

»Ich habe noch nie etwas Derartiges gelesen und bin begeistert!« (Blubb0butterfly)

»Natalie Tielcke hat hier einen Psychothriller geschaffen, bei denen niemand ahnen kann, worauf das Ganze letztlich hinausläuft. Sie hat mich mit ihrem Buch gleichzeitig schockiert und begeistert. Mit psychologischer Raffinesse steigert sie die Spannung von Kapitel zu Kapitel.« (Xanaka)

»Es ist sehr verstörend, wie sich Kim in fremde Leben schleicht. Man fühlt eigentlich keinerlei Sympathien mit ihr. Eher schon mit ihren Opfern Anna und Max.« (tkmla)

»Ich [habe] noch nie ein Buch mit so vielen Wendungen und psychisch kranken Personen gelesen und bin fasziniert, wie man eine solche Story erschaffen kann.« (Cora)

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Prolog

Teil 1

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

Teil 2

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

Teil 3

30.

31.

32.

33.

34.

35.

36.

37.

38.

39.

40.

41.

42.

43.

Epilog

Über dieses Buch

Sie ist von dir besessen. Sie beobachtet dich und jeden deiner Schritte. Sie will dir nah sein. Immer und überall. Am Tag schleicht sie sich als Patientin in deine Praxis. Nachts sitzt sie vor deinem Fenster und blickt in deine Wohnung. Wartet dort, bis du schlafen gehst. Das ist ihr Geheimnis.

Aber was, wenn dein eigenes Geheimnis viel schlimmer ist?

Ein außergewöhnlicher Thriller, bei dem wenig so ist, wie es scheint und der in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele führt.

»Es gehört einfach zu der Natur des Menschen, sich und die Welt zu zerstören. Ein Zwang, ein Drang, ein Trieb, der vorhanden ist, noch bevor man geboren wird.«

Über die Autorin

Natalie Tielcke wurde 1986 in Aachen geboren. Nach dem Abitur zog es die kreative Frohnatur zum Fernsehen und dort findet man sie noch heute. Sie schreibt Drehbücher und entwickelt TV-Serien. Die Kölnerin ist schon seit ihrer Kindheit davon begeistert, wenn nicht sogar besessen, sich Geschichten auszudenken. Ohne Stift und Papier geht sie nicht aus dem Haus.

Natalie Tielcke

KALTESVERLANGEN

Thriller

beTHRILLED

Digitale Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment

Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Charlotte Inden

Lektorat/Projektmanagement: Stephan Trinius

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven© Shutterstock: Irina Bg | RedGreen | ESB Professional

eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf

ISBN 978-3-7325-3936-9

www.be-ebooks.de

www.lesejury.de

Prolog

»Was ist der Unterschied zwischen Schauen und Sehen?«, fragte das Mädchen seine Mutter, die es an der Hand hielt, als sie über den Friedhof spazierten.

»Nun«, sagte die Mutter und drückte die Hand etwas fester, »das macht sogar einen sehr großen Unterschied. Wenn du nur zuschaust, dann kann dir nichts passieren. Aber wenn du erst mal richtig hinsiehst, dann kann das dein ganzes Leben verändern. Wenn du nicht mehr wegsehen kannst, kann etwas mit dir passieren. Und dann solltest du ganz genau aufpassen.«

»Was kann mir denn passieren?«, fragte das Mädchen. Leichte Panik stieg in ihm auf. Die Augen seiner Mutter füllten sich mit Tränen und sie drückte die Hand immer fester.

»Das kommt ganz darauf an, was du siehst.«

Teil 1

1.

Sie versuchte, sich auf das Poltern des Zuges und die tickende Armbanduhr des Mannes zu konzentrieren, der für ihren Geschmack viel zu eng neben ihr saß und zu allem Übel auch noch grunzend und schnarchend vor sich hin döste. Doch trotzdem war sie ihm dankbar. Die letzten Stunden hatte es nicht viel zu beobachten gegeben, und Kim war kurz davor abzudriften.

Es war der vierte Januar 2016. Kim hatte die Feiertage sogar über Silvester hinaus bei ihren Eltern verbracht. Sie fühlte sich völlig ausgelaugt. Doch zu wissen, dass sie auf dem Weg nach Hause war, auch wenn sie jetzt bereute, den Zug statt des Autos genommen zu haben, war befreiend. Ungefähr so, wie wenn sie nach einem echt harten Arbeitstag nach Hause kam und ihren BH aufmachte. Sie liebte diesen BH für seine Unterstützung und sie würde ihn immer lieben, er würde ihr immer Halt geben, aber sie ertrug ihn nicht vierundzwanzig Stunden am Tag. Genau so ging es Kim mit ihren Eltern.

»Und bitte such dir endlich einen neuen Therapeuten. Es kann ja auch eine Therapeutin sein.« Mit diesen Worten hatte ihre Mutter sie am Bahnsteig verabschiedet und dabei unwissend gleich zwei Wunden aufgerissen. Auch wenn sie nicht ahnen konnte, was sie mit ihrer Bemerkung angerichtet hatte.

Kim durfte nicht abdriften. Sie musste sich konzentrieren, doch all die Geräusche und Gerüche, all die Menschen und Gesprächsfetzen, das Lachen, Räuspern, Schniefen und nicht zu vergessen die piepende Dauerbeschallung dank Smartphones und WhatsApp lenkten sie ab. Der Mann auf dem Nachbarsitz gähnte und wurde langsam wach. Kim wurde mitgerissen. Das Ticken der Uhr entfernte sich immer weiter. Fokussier dich, Kim.

Ihre Augen suchten das Abteil ab. Sie musste etwas Neues finden. Jemand Neuen.

Schon immer hatte sie Menschen beobachtet und analysiert. Bis ins kleinste Detail. Und was war schon dabei? Sie tat den Menschen ja nichts. Sie schaute ihnen bloß bei ihrem Leben zu. Mal nur einen kurzen Moment, zum Beispiel an der Ampel oder im Supermarkt. Und dann eben manchmal auch so lange, bis sie die Lust verlor oder ihr ein interessanteres Beobachtungsprojekt begegnete.

Der Zug wurde langsamer, die Bremsen quietschten, ein kurzes Ruckeln und er blieb stehen. Noch zwei Haltestellen und auch Kim könnte aussteigen.

Eine Frau stieg ein und ging an Kim vorbei. Sie war wunderschön. Nicht wunderschön nach einem Maßstab. Diese Frau war nicht mit irgendeinem gängigen Hollywood-Sternchen zu vergleichen. Sie war groß und schlank, fast wie eine riesige Elfe. Sie hatte helles, langes kupferblondes Haar, einen großen Mund und gelbbraune, freundliche Augen, um die herum schon einige Lachfältchen zu sehen waren. Es mussten einfach Lachfältchen sein. Es war, als wäre ein Regenbogen in den Zug eingestiegen und seine positive Energie sprang auf alle in dem Abteil über. Sie roch nach Mandarinen und Vanille. Alles roch plötzlich nach Mandarinen und Vanille.

Danke. Kim inhalierte ihren Duft. Diese Frau war wie eine Droge, Kim war in Trance, obwohl sie sie gerade nicht einmal sehen konnte.

Zwei Haltestellen später. Kim hätte aussteigen sollen. Aber sie konnte spüren, dass die Frau noch da war, und ganz abgesehen davon konnte sie es riechen. Sie konnte jetzt nicht aussteigen. Aber sie durfte auch nicht verpassen, wenn die Frau es tat. Kim musste sich unauffällig einen neuen Platz suchen. Einen, von dem aus sie die Mandarinen-Vanille-Frau beobachten konnte. Praktischerweise stand die Mandarinen-Vanille-Frau genau in dem Moment auf, als Kim sich aufrichtete. Sie musste also schon an der nächsten Haltestelle raus. Kim schnallte sich ihren Rucksack auf den Rücken und folgte der Frau mit dem nötigen Abstand. Leute zu verfolgen war nicht schwer, wenn man den Dreh einmal raus hatte.

Kim hielt immer ein paar Meter Abstand und war beruhigt, dass die Frau sich nicht nach ihr umdrehte. Die Frau folgte der Straße, die vom Bahnhof stadteinwärts führte, und bog links in eine Seitenstraße ab. Sie hatte einen fast schon edlen Gang, federleicht, als läge keinerlei Last auf ihren Schultern.

Nach einem Fußweg von weniger als zehn Minuten verschwand die Frau in einer Arztpraxis, die neben einer Apotheke in einer überschaubaren, kleinen Einkaufsstraße lag. Und Kim folgte ihr. Da am Empfang niemand besonders aufmerksam war, setzte Kim sich einfach in das überfüllte Wartezimmer. Und da war sie, die Mandarinen-Vanille-Frau. Ihr direkt gegenüber. Sie blätterte mit ihren gepflegten Händen in einer Zeitschrift, ahnungslos, dass Kim sie bis hierher verfolgt hatte.

Was für eine Arztpraxis war das eigentlich? Kim sah sich um. Nur Frauen. Fuck. Sie wusste, wo sie war. Eine hochschwangere Frau nahm neben ihr Platz. Unbehagen stieg in Kim auf. Was, wenn diese Frau jetzt einfach so neben ihr platzte? Sie sah aus, als sei sie kurz davor.

»Frau Specht?«

Kim hielt die Luft an. Aber die Mandarinen-Vanille-Frau war nicht Frau Specht. Die Frau neben Kim hievte sich wieder aus ihrem Stuhl und Kim war sich nicht sicher, ob es angemessen gewesen wäre, sie von hinten anzuschieben. Aber die Schwangere schaffte es alleine und ging ins Behandlungszimmer. Kims Aufmerksamkeit galt wieder ganz ihrem neuen Ziel. Diese Frau würde ihr nächstes Beobachtungsprojekt werden. Wer war sie? Warum war sie hier? War sie auch schwanger?

»Frau Rose?«

Gebannt beobachtete Kim die Reaktionen der Patientinnen im Wartezimmer. Niemand regte sich, doch dann legte die Mandarinen-Vanille-Frau behutsam die Zeitschrift zurück auf den Stapel, stand in aller Seelenruhe auf und schenkte der Arzthelferin, die sie aufgerufen hatte, ein so herzliches, warmes Lächeln, dass diese augenblicklich zu strahlen begann und jeder ihre hyper-gebleechten Zähne zu sehen bekam.

Kim beschloss, draußen zu warten, bevor sie noch gefragt wurde, was sie hier wollte. Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Frau, von der sie jetzt unbedingt auch den Vornamen erfahren wollte, die Praxis wieder verließ. Kim folgte Frau Rose, die ihr Handy aus ihrer Handtasche kramte und abrupt stehen blieb. Kim konnte gerade noch unauffällig kurz hinter ihr in einem Häusereingang verschwinden. Und das Gespräch mithören.

»Hi Schatz, alles gut. Fehlalarm. Wie lange musst du noch? Ich bin in der Nähe von deiner Praxis und könnte dich abholen.«

Kims Gedanken überschlugen sich, ihr Herz raste. Wer mochte dieser Mann sein? Er faszinierte sie jetzt schon, allein wegen der Tatsache, dass er mit dieser Frau zusammen war. Und was für eine Praxis war das jetzt wieder? War Frau Roses Freund Arzt? Oder waren sie vielleicht sogar verheiratet? Nein. Kim hatte ihre Hände genau studiert und keinen Ehering entdeckt.

»Essen gehen? Ja, find ich super. Bis gleich.«

Sie legte auf und ging erst dann weiter, was Kim innerlich zum Schmunzeln brachte. Süße Angewohnheit irgendwie, dass sie beim Telefonieren stehen blieb. Für sie hätte es nach der Telefonzelle wohl keinen Fortschritt mehr gebraucht. Kim erinnerte sich an einen Jungen aus ihrer Schulzeit, der im Gehen nicht trinken konnte, essen konnte er dabei erstaunlicherweise schon, aber für jeden Schluck musste er stehen bleiben. Mit so jemandem eine Sauftour zu machen, musste verdammt schwierig sein.

Sieben Straßen, drei Ampeln, achtundzwanzig Menschen, zwei Hunde und drei Kiosks weiter bog die Frau in einen Häusereingang ab und verschwand hinter der Tür. Kim sah sich das Haus an. Mehrere Praxen unter einem Dach. Mehrere Optionen. Ihr Freund war entweder Hannes Wiebkind – Zahnarzt, Max Roth – Psychotherapeut oder Helge Fischer – Allgemeinmediziner und Heilpraktiker.

Knapp zehn Minuten später wurde die Tür des Hauses, das Kim nicht aus den Augen gelassen und Stein für Stein betrachtet hatte, von innen aufgehalten. Frau Rose (die Sache mit dem Vornamen wurmte Kim wirklich) verließ das Haus. Gefolgt von dem Mann, der ihr die Tür aufgehalten hatte. Das musste er sein. Sie gingen einige Schritte und hielten dann inne.

Kim studierte den Mann. Alles in allem sah er ziemlich attraktiv aus. Er war hübsch, aber kein Schönling. Er hatte eine drahtige, athletische Figur wie ein Stabhochspringer. Seine Haare waren kurz, dunkelblond und verteilten sich in wilden Wellen über seinen Kopf. Er trug eine schlichte halbrunde Brille, die bei seinen einnehmend großen, hellblauen Augen kaum auffiel. Seine Nase schaffte es durch einen leichten Haken, sein Gesicht zu dominieren. Dieser Mann hatte etwas Spezielles an sich. Kims Mutter würde das jetzt Charisma nennen. Und es falsch aussprechen.

Die Mandarinen-Vanille-Frau nahm die Hand des Stabhochspringers.

»Wo sollen wir hingehen? Zu Napo?«

»Wie du magst.« Er lächelte sie an. Warm, freundlich, ehrlich. Als könnte man ihm alles anvertrauen.

»Ich hätte Lust auf Pizza. Und Wein. Ganz viel Wein.«

»Wer kann da schon Nein sagen.« Er legte sanft seinen Arm um ihre Hüften und zog sie zu sich. Sie lehnte ihren Kopf an seinen und schloss kurz die Augen.

Kim hätte alles getan, um jetzt mit dieser Frau zu tauschen. Die Innigkeit zwischen den beiden war faszinierend. Sie wollte ein Teil davon sein. Sie folgte dem Paar zum Restaurant und überlegte, ob sie den Laden ebenfalls betreten sollte. Was, wenn die Frau sie doch bemerkt hatte? Aber Kim konnte nicht anders. Es war wie eine Sucht. Ein Verlangen so stark, dass sie es nicht aufhalten konnte. Es überwältigte sie einfach.

Sie entschied sich für einen Platz an der Bar. Ihr gegenüber hing ein Spiegel. Die Flaschen davor versperrten zwar etwas die Sicht, doch sie konnte Frau Rose und ihren Freund beobachten, ohne sich umdrehen zu müssen. Aber es war zu laut in dem Lokal, zu viele Geräusche lenkten Kim ab. Sie schaffte es nicht mal, ein paar Gesprächsfetzen der beiden aufzuschnappen. Allerdings konnte sie sehen, wie sie zusammen lachten, wie sie sich immer wieder berührten und sich fast ausnahmslos direkt in die Augen sahen.

Kim träumte davon, ihre beste Freundin zu sein oder seine Affäre oder das Kind der beiden. Im Davonträumen war sie schon immer ein Profi gewesen. So wurde sie geboren. Träumend oder besser gesagt schlafend. Als Kim auf die Welt kam, gab sie keinen Ton von sich. Sie versuchte, etwas zu erkennen, konnte aber noch nicht wirklich gut sehen und entschied sich, noch etwas auszuruhen. Sie schlief ganze neun Tage. Niemand vermochte sie zu wecken. Und Kim wusste das noch ganz genau. Sie erinnerte sich an ihre Geburt. Bis auf ihren Eltern und ihrem alten Therapeuten hatte Kim das aber nie jemandem anvertraut. Die Leute hielten sie so schon für sonderbar genug. Natürlich hatten ihre Eltern ihr versichert, dass das alles nicht so gewesen war und Kim ein ganz normaler Säugling war. Und auch ihr Therapeut hatte ihr mehrfach erklärt, dass aus medizinischer Sicht kein Baby tagelang durchschlafen kann. Aber warum sollte sie sich daran erinnern, wenn es nicht stimmte? Dr. Strang hatte sie immer wieder gewarnt, wie trügerisch Erinnerungen sein konnten. Trotzdem glaubte Kim fest daran.

Kim wurde müde und bekam Hunger. Sie saß zwar in einem Restaurant, aber sie wollte sich nicht alleine an einen der Tische setzen. Sie würde sich auf dem Heimweg etwas zu essen besorgen.

Der Barkeeper wandte sich Kim mit einem müden Lächeln zu und der Hoffnung in den Augen, sie heute Nacht noch abschleppen zu können. Wahrscheinlich war es ihm egal, wen er flachlegte, er sah nicht besonders wählerisch aus.

»Noch einen KiBa, Mäuschen?«

»Nein, danke. Einen Kaffee, bitte.«

»O-ho. Heute lassen wir es aber krachen, was?«

Kim zog ihre linke Augenbraue hoch und setzte ein schräges Lächeln auf. »Du musst es ja wissen.«

Er lachte kurz spöttisch auf und bereitete dann den Kaffee zu. Kim bemerkte, dass er immer wieder zu ihr herübersah, aber sie war beschäftigt. Sie hatte sich verliebt. In zwei Fremde. Das war ihr schon oft passiert, aber sie hatte sich noch nie in zwei Leute gleichzeitig, geschweige denn in ein Paar, verliebt.

»Hier, Schätzchen. Dein Kaffee. Und ein Keks.«

»Danke, ich mag keine Kekse.«

»Eine von der ganz harten Sorte, was?«

Er ging nicht weg. Wieso ging er nicht weg? »Ist noch was?«

»Sag du es mir.«

»Ich denke nicht.«

»So, so …« Er nickte, brabbelte noch etwas Unverständliches vor sich hin, drehte Kim den Rücken zu und hielt Ausschau nach etwas Anflirtbarem.

Kim bereute, dass sie sich für einen kurzen Moment hatte ablenken lassen, denn sie hatte verpasst, dass Frau Rose und ihr Freund die Rechnung geordert hatten. Sie zahlten schon. Er übernahm wie selbstverständlich die Rechnung. Alles ging plötzlich ganz schnell. Sie bewegten sich bereits Richtung Ausgang. Wieder hielt er ihr die Tür auf und sie waren verschwunden. Kim musste sich beeilen und wollte zahlen. Aber der Barkeeper hatte sich dazu entschieden, ihr die kalte Schulter, was in diesem Fall bedeutete nur seinen Rücken, zu zeigen. Sie machte auf sich aufmerksam, aber er reagierte nicht. Und das mit Absicht, das merkte Kim. Selbst Schuld. Sie glitt von dem Barhocker, machte ein paar leise Schritte rückwärts und verließ dann fluchtartig die Bar. Sie vernahm noch eine Stimme, die ihr aufgebracht hinterherbrüllte, aber Kim hatte ganz andere Probleme. Sie hatte die beiden verloren. In welche Richtung konnten sie gegangen sein?

Kim rannte erst in die eine, dann in die andere Richtung. Keine Spur von den beiden. Verwirrt stand sie plötzlich mitten auf einer Kreuzung und blickte sich um. Sie versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen, doch sie wurde unterbrochen. Von laut quietschenden Reifen, blendend hellen Lichtern und dem Schrei einer Frau. Ihrem eigenen, wie Kim wenig später feststellte. Sie wäre fast überfahren worden.

Und da waren sie. Sie saßen im Auto und starrten Kim erschrocken und fassungslos an. Sie sah direkt in die weit aufgerissenen Augen von Frau Rose.

Kim merkte, dass der Stabhochspringer ausstieg. Sie warf sich herum und rannte davon, so schnell sie konnte.

»Warten Sie doch!«, rief er hinter ihr her.

Sie rannte und rannte, ihre Knie fingen an zu pochen, ihre Beine schmerzten, ihre Lunge brannte, aber es trieb sie immer weiter, bis sie zu Hause angekommen war. Sie sprintete die vier Stockwerke hoch und verriegelte die Tür ihres Appartements, als würde sie verfolgt.

Nach Luft schnappend realisierte sie, dass sie wie im Wahn fast drei Kilometer ohne Pause gelaufen war. Und gleichzeitig kam ihr in den Sinn, dass sie doch eigentlich Hunger gehabt hatte. Sie musste laut lachen.

Es überkam sie ganz unerwartet und sie wusste nicht wieso. Aber sie lachte bei der Vorstellung, dass die beiden sie hätten eben wirklich überfahren können. Und sie hätten keinerlei Schuld gehabt. Denn es war Kims Entscheidung gewesen, dieser Frau zu folgen, und es hatte sie dermaßen wahnsinnig gemacht, dass sie schließlich mitten auf einer Kreuzung gelandet war. Nein, die beiden trugen wirklich keine Schuld an dem Vorfall. Kim machte sich einen Tee, setzte sich auf ihre Fensterbank und beobachtete, wie es langsam dunkel wurde. Winter. Ihre Lieblingsjahreszeit. Sie liebte es, sich dick einzupacken, mit Schal, Mütze und Handschuhen. Sie mochte das brennende Gefühl in ihrem Gesicht, wenn es draußen so kalt war, dass sie ihren Atem sehen konnte. Es war, als wäre die ganze Welt dann etwas klarer. Alles an ihr. Die Menschen, die Farben, die Klänge. Alles fühlte sich viel reiner an, und das gefiel Kim. Dass es vielleicht schneien könnte, bescherte ihr ein warmes, beruhigendes Gefühl.

Kims Wohnung war schlicht eingerichtet. Sie lebte in einem quadratischen, zwanzig Quadratmeter großen Raum mit integrierter und voll ausgestatteter Küchenzeile. Selbst der Wasserkocher war schon vor ihr hier gewesen. Einzig die Fensterbank bot eine Nische, in die man sich zurückziehen konnte. Das Doppelbett nahm fast den ganzen Raum ein. Am Fuße des Bettes stand ein schlichter, zweitüriger, rustikaler Schrank. Robuste Eiche. Wenn Kim sich anziehen wollte, musste sie das vom Bett aus tun. Man konnte die Türen des Schrankes nicht ganz öffnen, da sie dann gegen das Fußteil des Bettes stießen.

Die Wände waren übersät mit Fotos, die sie geschossen hatte. Aber es waren keine Fotos von Freunden, aus Urlauben oder von der Familie. Es waren Fotos von den Fremden, die sie in den letzten Jahren beobachtet hatte. Überhaupt hätte es auch gar keine Fotos von Freunden geben können. Kim hatte keine Freunde.

Schon als Kind war sie nicht besonders scharf darauf gewesen, mit anderen zu interagieren. Mit Puppen oder Ähnlichem zu spielen, war ihr schon immer trivial vorgekommen. Sie war sich sicher, dass ihre Eltern oft gehört haben mussten, dass sie eine seltsame Tochter hatten. Kim war eine selbst gewählte Außenseiterin. Sie gehörte in der Schule zu keiner Clique, obwohl man sich manchmal sogar für sie interessierte. Sie fragte sich immer, ob das wegen ihrer Andersartigkeit oder aus Mitleid geschah. Bisher hatte sie in ihrem ganzen Leben nur eine richtige Freundin gehabt. Louisa.

Kim musste als Kind einige Psychotests über sich ergehen lassen. Sie machte mit, ihren Eltern zuliebe. Aus demselben Grund spielte sie auch hin und wieder freiwillig mit anderen Kindern. Aber während diese Kinder wirklich spielten, schauspielerte Kim bloß.

Erst hieß es, sie sei Autistin, dann wiederum, sie sei hochbegabt. Die Schule war für Kim nie ein Problem. Sie hatte ein glattes Einser-Abitur. Aber Kim machte sich nichts aus Noten. Bewertet zu werden, fand sie generell absurd. Wie sollte man einen Mensch bewerten, wenn es doch nicht mal möglich war, einen anderen Menschen vollkommen zu begreifen? Nur weil jemand viel wusste, war er noch lange nicht intelligent. Und das galt auch andersherum.

Kim hatte schon so viele Menschen beobachtet und war am Ende immer wieder zu demselben Schluss gekommen: Die Menschen verstanden sich nicht. Natürlich waren sie in der Lage, miteinander zu kommunizieren, und sie mochten sich auch. Sie verstanden, was der andere sagte, und meist sogar, was er meinte. Sie konnten Verhaltensweisen des anderen nachvollziehen. Aber tief im Inneren verstanden sie die Beweggründe und Ängste ihres Gegenübers nicht. Wahrscheinlich, dachte Kim, weil es nicht ihre eigenen sind.

Auch Kim hatte die Menschen noch nie verstanden. Warum hielten sie sich für so unglaublich weit entwickelt und intelligent und taten dann so dumme Sachen? Sie zerstörten den Planeten, das wusste inzwischen jeder, und trotzdem machten sie fröhlich weiter. Sie führten Kriege und predigten gleichzeitig Nächstenliebe. Das machte alles keinen Sinn. Wenn die Menschheit sich nur ein Stück weit so verhielte, wie sie es könnte – denn wissen, wie und was sie besser tun sollte, das tat sie ja –, dann könnte es auf der Welt wesentlich entspannter, leidfreier und gerechter zugehen.

Als Kind war Kim der festen Überzeugung gewesen, nicht von diesem Planeten zu stammen. Und bis heute hatte sie die Hoffnung, dass sie eines Tages von einem Raumschiff abgeholt werden könnte, nicht aufgegeben.

Kim sah sich die Fotos an der Wand an. All die Menschen, die nicht einmal wussten, dass sie überhaupt existierte. Aber sie schaffte es nicht, sich auf sie zu konzentrieren. Dieses Paar ließ sie einfach nicht los. Und immerhin hatte sie einen Anhaltspunkt. Sie wusste, wo er arbeitete. Also würde sie nur noch herausfinden müssen, welcher der drei Ärzte in dem Haus der Freund von Frau Rose war. Deren Vornamen sie auch unbedingt erfahren musste. Jetzt konnte nur eine Sache weiterhelfen. Google. Sie zog sich aus, legte sich mit ihrem Handy in die Badewanne, ließ warmes Wasser einlaufen und googelte den Psychotherapeuten. Doch sie fand kein Foto von ihm. Auch nicht von dem Zahnarzt. Nur der als Allgemeinmediziner getarnte Heilpraktiker hatte ein Foto im Netz. Er war eindeutig nicht der Stabhochspringer. Mindestens zwanzig Jahre zu alt und locker genauso viele Kilo zu schwer. Also blieb Kim nur eine Wahl.

2.

Als ihr Wecker sie am nächsten Morgen aus dem Schlaf riss, war es schon halb elf, und trotzdem fühlte sich Kim noch völlig narkotisiert. Sie schleppte sich unter die Dusche und nach dem zweiten Kaffee fühlte sie sich bereit für ihr Vorhaben.

Bei dem Haus angekommen, wägte Kim ab, welchen Arzt sie zuerst aufsuchen sollte. Ihr Innerstes sträubte sich gegen den Therapeuten, deswegen entschied sie sich, zuerst zum Zahnarzt zu gehen. Seltsamerweise war die Praxis ziemlich leer, und als Kim vermeintliche Zahnschmerzen vortäuschte, fand sie sich schneller, als ihr lieb war, in einem Zahnarztstuhl wieder, umzingelt von Folterinstrumenten und waffenähnlichen Werkzeugen.

»Guten Tag und ein frohes neues Jahr wünsche ich Ihnen. Wie ich sehe, bestaunen Sie schon mein Equipment. Alles brandneu, wir haben kürzlich neue Geräte bekommen. Also, was kann ich für Sie tun?« Dr. Wiebkind gab ihr die Hand und zog dann seine sterilen Einmalhandschuhe an.

Und er war nicht der Freund von Frau Rose. Also blieb nur noch Dr. Max Roth übrig.

»Entschuldigung? Sie sind hier weil …?«

»Ja, sorry …« Kim öffnete ihren Mund und zeigte ihm willkürlich einen Zahn. »Seit einigen Tagen tut es hier etwas weh. Ich glaub, es ist der vorletzte Backenzahn oben.«

»Dann mal bitte weiiiit aufmachen.«

Sie schloss die Augen und versank in Gedanken. Sie hörte Dr. Wiebkind gar nicht richtig zu.

»Also, hier oben kann ich nichts erkennen. Wir können natürlich röntgen. Aber der untere Backenzahn ist stark befallen. Der braucht eine Füllung. Da müssen wir bohren. Vielleicht kommen die Schmerzen doch eher vom unteren Zahn?«

Kim war völlig überrascht, hatte sie doch überhaupt nicht damit gerechnet, dass er etwas finden würde.

»Ja, kann schon sein.«

»Gut, dann entspannen Sie sich mal. Ich gebe Ihnen erst mal eine Betäubung.«

Wie sollte sie sich denn jetzt entspannen? Abgesehen davon, dass ein völlig Fremder gerade in ihrem Mund rumhantierte und sie nicht mal sehen konnte, was genau er machte, musste sie gleich an die Tür der Psychotherapie-Praxis klopfen. Aber wenigstens brauchte sie dort am Empfang keine Ausrede zu erfinden. Ihre Eltern würden sich bestimmt außerordentlich freuen, wenn sie wieder in Therapie ging.

Die Betäubung wirkte schnell, und Kim spürte kein Pieken oder Zwicken, als Dr. Wiebkind den Bohrer ansetzte. Sie ließ die Behandlung über sich ergehen, ihre Augen fielen zu und sie träumte sich davon. Ihre Gedanken kreisten, sie rief sich den Geruch, das Gesicht und die elfenhafte Gestalt der Frau in Erinnerung. Frau Rose. Ihr langes, glänzendes Haar, ihren hypnotischen Duft. Vanille, Mandarine. Plötzlich klopfte der Zahnarzt ihr beherzt auf die Schulter.

»So, geschafft!«

Er verabschiedete sie und verließ den Raum, seine Assistentin nahm ihr das vollgesabberte Lätzchen ab. Jetzt war es also so weit. Es gab kein Zurück mehr. Kim verließ die Praxis, stand im Treppenhaus und ging langsam Stufe für Stufe zu der Therapiepraxis im zweiten Stock hoch. Jetzt musste sie sich einfach nur trauen, durch diese Tür zu gehen. Dr. Maximilian Roth.

Kim atmete noch einmal tief durch und betrat die Praxis des Stabhochspringers, der mit der Mandarinen-Vanille-Frau liiert war. Es gab keinen Empfang. Nur ein Patient wartete und schien sehr überrascht zu sein oder eher schon perplex, jemand anderen hier zu sehen. Der junge Mann verkrampfte sofort. Sie setzte sich ihm schräg gegenüber und hielt Blickkontakt. Sie wusste, er würde das nicht lange aushalten, und so war es auch. Schon nach wenigen Sekunden griff er reflexartig nach seinem Handy und begann, hin und her zu wischen.

Max Roths Praxis bestand bloß aus einer großen Diele, in der Kim gerade saß, einem Büro, einer Toilette und einer kleinen Küche.

Max trat mit einer Patientin aus dem Büro, die gerade eindeutig Rotz und Wasser geheult hatte, und verabschiedete sie sanft. Er würdigte Kim keines Blickes. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt ausnahmslos seinem wartenden Patienten.

»Kevin, möchtest du schon mal reingehen? Ich komme sofort.«

Kevin stand auf, traute sich, noch einmal Kim kurz verstohlen in die Augen zu schauen, und verschwand dann in dem Büro.

Erst jetzt nahm Max Notiz von ihr. »Ich kenne Sie doch.«

Seine stahlblauen Augen trafen Kim wie ein Schlag mitten auf die Brust. Sie bekam keine Luft mehr. Sie fühlte sich schutzlos und gelähmt.

»Doch, ich kenne Sie. Ich hätte Sie gestern fast überfahren.«

»Das muss eine Verwechslung sein.« In diesem Moment merkte Kim, dass die Betäubung vom Zahnarzt langsam an Wirkung verlor. Sie fühlte, dass sie sich mehrmals von innen auf die Lippe und Wange gebissen hatte, und zudem kam es ihr vor, als würde ihr Spucke aus dem Mundwinkel rinnen. Unweigerlich wischte sie sich über ihr Kinn, doch da war nichts. Kim nuschelte und hatte das Gefühl zu sabbern. Großartig! Und dabei verpasste die Anwesenheit von Max Roth ihr auch noch einen Puls von zweihundertzehn.

»Geht es Ihnen gut?«

»Ja, ich … Ich wollte um einen Termin bitten.« Es kam ganz unvermittelt heraus, ganz sachlich. Kim war von sich selbst überrascht und überprüfte erneut, ob sie wirklich nicht sabberte.

»Gut, ja … Lassen Sie mich nachsehen.«

Max wirkte irritiert. Er ging in das Büro, sagte Kevin, dass er sofort da sei, und kam mit einem kleinen, schwarzen Kalender zurück.

»Wie wäre es am Freitag um vierzehn Uhr?«

»Passt.« Kim musste nicht lange darüber nachdenken, ob sie konnte oder nicht. Selbst wenn sie einen anderen Termin gehabt hätte, würde sie ihn dafür um jeden Preis verlegen oder absagen.

»Okay. Und darf ich fragen, ob Sie schon mal bei einem Therapeuten waren?«

Lügen oder die Wahrheit? Lügen oder die Wahrheit? Lügen oder … Die Wahrheit.

»Ja. Einige Jahre sogar.«

Er sah sie urteilsfrei an und setzte einen Blick auf, der wohl jeder Frau das Gefühl gegeben hätte, augenblicklich ihr Herz ausschütten zu können. Wenn nicht sogar zu müssen. Dieser Blick war verpflichtend. Gute Taktik, dachte Kim. Aber bei ihr zog das nicht. Sie würde einfach nichts mehr sagen und seinem Blick trotzdem standhalten. Auch wenn sie von seinen Augen, die sie direkt ansahen, wie hypnotisiert war. Sie sah hinein und ihr war, als würde ein Strudel sie einen Abgrund hinabreißen.

»Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihre Akten anfordere?«

Ja, das habe ich absolut. »Nein, kein Problem.«

Er gab ihr Stift und Papier und sie schrieb ihm den Namen ihres ehemaligen Therapeuten auf. Ihre Finger zitterten unkontrolliert, und sie schaffte es nicht, das vor ihm zu verbergen, doch er tat so, als würde es ihm nicht auffallen.

»Gut, danke. Dann bis nächste Woche. Frau …?«

»Kim. Einfach nur Kim.«

»Wenn ich Ihre Akten anfordern soll, brauche ich aber schon etwas mehr als bloß einen Vornamen.«

Nein, in meinem Fall reicht mit Sicherheit auch nur der Vorname. »Kestrel.«

»Dann bis nächste Woche, Frau Kestrel.« Er schrieb ihren Namen in seinen Kalender.

»Kim. Wie gesagt, nennen Sie mich bitte einfach nur Kim.«

»Okay, Kim, aber nur, wenn du mich Max nennst.«

Sie gaben sich die Hand, er hatte sehr gepflegte und trotzdem etwas trockene, raue Hände. Kim lächelte ihn an, und er lächelte zurück, aber nur mit den Augen, sein Mund verzog sich dabei kaum. Kim konnte nicht aufhören zu lächeln, als sie die Praxis verließ und sich auf den Weg zur Arbeit machte.

3.

Kim hatten mit ihrem Einser-Abitur nach der Schule theoretisch alle Türen offengestanden. Sie war auch oft an der Uni gewesen, besuchte diverse Vorlesungen und Seminare. Eingeschrieben hatte sie sich jedoch nie. Sie hatte viel gelesen, von anspruchsvoller Literatur bis zum übelsten Schund. Und sie interessierte sich für alles Mögliche. Egal ob Philosophie, Psychologie, Literaturgeschichte, Maschinenbau, Elektrotechnik, Chemie, Physik, Medizin oder Rechtswissenschaften. Sie hatte alles in sich aufgesogen und trotzdem nicht gewusst, was sie damit anfangen sollte. Also hatte sie ihr Hobby zu ihrer Hauptbeschäftigung gemacht. Da sie aber kein Geld damit verdiente, fremde Personen zu beobachten, arbeitete sie nebenher für eine Reinigungsfirma. Sie putze alles von Privatwohnungen bis zu Bürogebäuden, Krankenhäusern und Diskotheken. Es waren zwar selten Menschen zum Beobachten da, aber gerade in den Häusern und Wohnungen der Leute gab es viel von ihrem Leben zu entdecken, auch wenn sie nicht anwesend waren.

Denn natürlich putze Kim nicht nur, wenn sie bei einem Job war, und mit Sicherheit wäre sie gefeuert worden, wüssten ihre Auftraggeber, wie genau sie die privaten Besitztümer ihrer Kunden studierte. Aber sie stahl nie etwas und legte alles wieder sauber an den richtigen Platz.

Es hätte viele Jobs gegeben, in denen Kim die Möglichkeit gehabt hätte, sich zu verwirklichen. Aber so hatte sie ihre Ruhe und war niemandem wirklich verpflichtet. Sie hatte sich mal als Detektivin probiert, aber schnell festgestellt, dass es ihr keinen Spaß machte, wenn sie die Menschen nicht selbst auswählen konnte, an deren Leben sie teilnahm. Zudem hatte sie dem ein oder anderen Ladendieb seinen Erfolg gegönnt, wenn er sich besonders kreativ oder gewitzt angestellt hatte.

Die Reinigungsfirma, für die Kim arbeitete, hatte ihr vorgestern Bescheid gegeben, dass sie heute für eine Kollegin einspringen musste, die sich weigerte, weiterhin bei einem Kunden zu putzen. Er sei schräg, hieß es. Das Haus des Kunden befand sich nicht weit weg, war aber extrem abgelegen, also würde Kim den Wagen nehmen. Wie immer, wenn sie in ihrem Auto saß, musste sie daran denken, dass es der alte Wagen ihrer Eltern war, den sie ihr vor einigen Jahren geschenkt hatten. Ihre Mutter hatte sich immer darüber aufgeregt, dass das Auto keinen Beifahrer-Airbag hatte. Warum sollte das Leben des Fahrers, in dem Fall Kims Vater, wichtiger sein als ihres? Fast auf jeder Autofahrt hatte Kims Mutter darüber lamentiert, was jetzt passieren könnte, wenn sie einen Unfall hätten. Derweil hatte Kim immer hinten gesessen und sich gefragt, was wohl mit dem Insassen auf der Rückbank passieren würde, wo es genauso wenig Airbags gab wie auf der Beifahrerseite.

Sie hatte noch eine Stunde Zeit, also konnte sie sich auf dem Weg dorthin Zeit lassen und nachdenken. Über Max. Über seine Freundin. Darüber, dass sie ihn am Freitag besser kennenlernen würde. Bei dem Gedanken, mit Max allein in einem Raum zu sein, verspürte sie ein plötzliches Kribbeln und Ziehen in der Brust. Es schnürte ihr die Kehle zu.

Sie war bei dem abgelegenen Haus angekommen. Der nächste Nachbar wohnte gut einen halben Kilometer entfernt. Das Gebäude grenzte an ein hochgewachsenes Maisfeld. Kim klopfte, da sie keine Klingel fand. Ein grauhaariger, bärtiger Mann öffnete ihr die Tür und musterte sie griesgrämig. Er hustete sie an. »Sind sie die andere Putzfrau?«

»Ja, die bin ich. Frohes neues Jahr.« Wahrhaftig die Freundlichkeit in Person.

»Aha. Dann.« Scheinbar kein Mann vieler Worte. Er wedelte mit seiner Hand, was Kim wohl zeigen sollte, jetzt reinkommen zu dürfen. Sie sah sich um. Das Haus sah von außen wesentlich größer aus als von innen. Und auf den ersten Blick gab es nicht viel zu tun.

»Der Keller. Da gab es ein Missgeschick.« Abermals wedelte der Mann mit seiner Hand, und Kim folgte ihm zu einer Tür, die von der Küche abging und zum Keller hinunterführte. Er schaltete das Licht an und ging hinunter. Die Stufen knirschten, als Kim ihm folgte, und als sie unten angekommen waren, wurde ihr klar, was er mit Missgeschick gemeint hatte: Zwei Metallregale waren umgekippt und in ihnen mussten unzählige Dosen mit Farben, Ölen und sonstigen Chemikalien gestanden haben.

»Ich krieg die Regale alleine nicht wieder hoch und, ehrlich gesagt, hatte ich einfach keine Lust drauf, die Sauerei hier selbst wegzumachen.«

Wenigstens ehrlich. »Darf ich fragen, wie das passiert ist?«

»Herzinfarkt.«

Kim war sowieso kein Freund von Small Talk und der Mann wohl genauso wenig. Also hievte sie mit ihm die Regale wieder in die Senkrechte und machte sich ans Werk, während der Mann im Haus herumpolterte. Das Ganze würde Stunden dauern. Die Farben hatten sich wunderbar mit dem Terpentin vermischt, das konnte Kim riechen. Aber die Komposition aus den vielen bunten Flüssigkeiten, die sich aufgrund unterschiedlicher Dichte teilweise nicht verbanden, sah bezaubernd aus. Es war fast schon ein Kunstwerk. Nein, es war ein Kunstwerk.

Manche Farben hatten sich vermischt und einen neuen Ton entstehen lassen. Aus Blau und Gelb war Grün geworden. Andere Flüssigkeiten lagen darunter wie ein Teppich, schwammen darauf oder aber flossen in schmalen Streifen zwischen zwei anderen entlang. Kim erinnerte sich, dass sie für ein Schulprojekt mal einen Lebenstraum nennen sollte, und sie hatte angegeben, dass sie gerne eine neue Farbe entdecken würde. Daraufhin wurde sie mehrmals darüber aufgeklärt, dass das nicht möglich war. Kim verstand bis heute nicht wieso. Nur, weil wir es uns nicht vorstellen konnten, hieß es doch noch lange nicht, dass es im Universum nicht noch unzählige Farben gab, die wir mit unseren Augen vielleicht nur nicht wahrnahmen. So wie Ultraviolett. Es gab mit Sicherheit noch Unzähliges zu entdecken, von dessen Existenz der Mensch bis heute keine Ahnung hatte.

Erst nachts kam Kim völlig erschöpft und mit Farbe verschmiert zu Hause an. Sie konnte sich kaum noch an die Rückfahrt erinnern und war sich nicht mal mehr sicher, wo sie geparkt und ob sie ihr Auto überhaupt abgeschlossen hatte. Aber so müde wie sie war, war ihr das gerade absolut egal. Schon auf der Treppe zu ihrem Appartement öffnete sie ihren BH. Sie ließ sich aufs Bett fallen und wickelte sich in ihre Decke ein.

04.01.1995

Liebes Tagebuch,

ich fange zwar fast jedes neue Jahr ein neues Tagebuch an, aber diesmal gibt es einen richtig guten Grund. Gestern Nacht hatten wir unser erstes Mal und es war der Hammer! Ich will unbedingt mehr davon. Wir haben uns gewürgt, an den Haaren gezogen, geschlagen und geliebt.

4.

Die Tage bis zum Treffen mit Max vergingen schleichend. Kim musste einen Zeitvertreib finden. Also beobachtete sie Menschen. Überall. Bahnhöfe, Cafés, Geschäfte, Bars, Clubs, sogar ein Tierheim besuchte sie. Selbst im Altenheim und auf dem Friedhof trieb sie sich herum. Sie hoffte, vielleicht auf jemanden zu treffen, der sie ebenso faszinierte wie Max und Frau Rose. Aber dem war nicht so.

Wenigstens aber konnte Kim herausfinden, wo die beiden wohnten. Sie hatte Max nach der Arbeit bis nach Hause verfolgt. Jetzt stand sie vor dem vierstöckigen gelben Mehrparteienhaus. Kim besah die Baumaterialien, die vor dem Haus aufgetürmt waren, und hoffte, dass sie richtig vermutete. Es sah aus, als würde hier bald ein Gerüst angebracht.