4,99 €
EIN IRRSINNIG LUSTIGER KRIMI MIT VIER SCHRÄGEN ERMITTLERN.
Psychologin Hanna ist tot. Ermordet im eigenen Badezimmer - mit einem Golfschläger. Die Polizei tappt im Dunkeln und vor Hannas Praxis treffen verzweifelte Patienten aufeinander. Ist einer von ihnen der Mörder? Ein Motiv hätten sie alle: Nele, Sascha, Jenny und Finn. Doch dann beginnen die vier Schlafgestörten auf eigene Faust zu ermitteln - und das auf ziemlich unkonventionelle Weise.
Vier eindeutig therapiebedürftige Menschen machen Jagd auf den Mörder ihrer Therapeutin: Schräg, unkonventionell und zum Brüllen komisch.
eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 231
Cover
Über dieses Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
1. Hanna
2. Nele
3. Sascha
4. Hanna
5. Sascha
6. Phil
7. Jenny
8. Sascha
9. Nele
10. Sascha
11. Jenny
12. Hanna
13. Nele
14. Finn
15. Nele
16. Phil
17. Jenny
18. Phil
19. Sascha
20. Finn
21. Phil
22. Nele
23. Sascha
24. Jenny
25. Hanna
26. Finn
27. Phil
28. Finn
29. Nele
30. Sascha
31. Jenny
32. Finn
33. Phil
34. Finn
35. Nele
Noch 29 Tage …
36. Phil
37. Nele
38. Jenny
39. Phil
40. Nele
41. Phil
42. Finn
43. Nele
44. Phil
45. Hanna
Noch 28 Tage …
46. Jenny
47. Nele
48. Sascha
49. Finn
50. Jenny
51. Nele
52. Phil
53. Finn
54. Phil
55. Sascha
56. Hanna
57. Jenny
58. Nele
59. Phil
60. Sascha
61. Phil
62. Finn
63. Sascha
64. Finn
65. Phil
66. Jenny
67. Sascha
68. Alex
69. Jenny
70. Sascha
71. Hanna
72. Finn
73. Nele
74. Finn
75. Phil
27 Tage später …
76. Nele
77. Hanna
Psychologin Hanna ist tot. Ermordet im eigenen Badezimmer – mit einem Golfschläger. Die Polizei tappt im Dunkeln und vor Hannas Praxis treffen verzweifelte Patienten aufeinander. Ist einer von ihnen der Mörder? Ein Motiv hätten sie alle: Nele, Sascha, Jenny und Finn. Doch dann beginnen die vier Schlafgestörten auf eigene Faust zu ermitteln – und das auf ziemlich unkonventionelle Weise.
Vier eindeutig therapiebedürftige Menschen machen Jagd auf den Mörder ihrer Therapeutin: Schräg, unkonventionell und zum Brüllen komisch.
Natalie Tielcke wurde 1986 in Aachen geboren. Nach dem Abitur zog es die kreative Frohnatur zum Fernsehen und dort findet man sie noch heute. Sie schreibt Drehbücher und entwickelt TV-Serien. Die Kölnerin ist schon seit ihrer Kindheit davon begeistert, wenn nicht sogar besessen, sich Geschichten auszudenken. Ohne Stift und Papier geht sie nicht aus dem Haus.
Natalie Tielcke
beTHRILLED
Digitale Originalausgabe
»be« – Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment
Copyright © 2017 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Charlotte Inden
Lektorat/Projektmanagement: Anna-Lena Meyhöfer
Covergestaltung: FAVORITBUERO, München unter Verwendung von Motiven von: © Shutterstock: STEVEN CHIANG |imagedb.com | Ensuper | TomZa | Zonda | Afone4ka | Javier Brosch | Impact Photography | Macrovector
eBook-Erstellung: Urban SatzKonzept, Düsseldorf
ISBN 978-3-7325-5278-8
www.be-ebooks.de
www.lesejury.de
Es war ein Abend wie jeder andere auch. Eigentlich. Und eine Fahrt wie jede andere auch. Eigentlich. In eine schicke Gegend. Eine Frau abholen. Sie irgendwohin fahren. Kein Problem. Eigentlich. Machte er gerne. Klar war Taxifahrer nicht sein Traumjob. Er hatte Meeresbiologe werden wollen. Oder Popstar. Aber trotzdem hatte er ein gutes Leben. Ein sehr gutes Leben. Eine liebe Frau, tolle Kinder, nette Freunde, ein Dach über dem Kopf, der Familie ging es gut. Und dafür arbeitete er gern. Das ließ ihn ruhig schlafen.
Warum also musste dieser Penner ihm ausgerechnet heute Abend eine Waffe ins Gesicht halten?
Ich stand unter der Dusche, ließ das warme Wasser meinen Körper entlanglaufen und spülte all die Probleme der anderen Menschen den Abfluss hinunter. Ihre ganzen Sorgen und Ängste konnte ich wieder abwaschen. Nur von meinen eigenen Problemen konnte ich mich nicht reinwaschen.
Und da war es wieder. Ich hatte es vor wenigen Minuten schon einmal verspürt. Dieses unerklärliche Gefühl, etwas vergessen zu haben. Es war nur eine Intuition, keine Gewissheit, aber es plagte einen trotzdem. Hatte man überhaupt etwas vergessen? Und wenn ja, was? Ich fragte mich, woher dieses Gefühl kam. Vielleicht war mein Gehirn einfach gerade zu müde, um den Gedanken laut zu denken, und schickte mir bloß dieses besorgniserregende Grummeln in der Magenregion, das mich an etwas erinnern sollte. Das mich dazu aufforderte, noch an etwas denken zu müssen. Aber an was?
Ich überlegte gerade, ob ich vorhin die Terrassentür wieder geschlossen hatte, als ich frisch geduscht aus dem Bad kam und über mir im Spiegel einen Golfschläger aufblitzen sah, der auf meinen Hinterkopf zuschnellte. Erst spürte ich ein heftiges Stechen, genau da, wo ich sonst den Kamm ansetze, um meinen Scheitel gerade zu ziehen. Dann folgte ein lähmender, schmerzender Druck, der sich vom Kopf aus über den ganzen Körper ausbreitete. Ich ging zu Boden. Das Letzte, das ich sah, war ein Rinnsal Blut, das sich zwischen den Fugen der Fliesen entlangschlängelte. Und dann war alles schwarz.
Wenig später fand ich mich an derselben Stelle wieder. Allerdings sah ich mich selbst vor mir in einer Blutlache liegen. Den Körper nur mit einem darum gewickelten Handtuch bedeckt, die Haare immer noch nass, lag ich zusammengesackt auf dem Boden im Flur vor dem Badezimmer. Und ich war tot. Zumindest sah es stark danach aus.
Verdammte Scheiße! Dann hatte ich wohl tatsächlich vergessen, die Tür zum Garten zu schließen.
Nele war wütend. Das kam äußerst selten vor. Aber wenn sie wütend wurde, dann richtig. Und heute war sie bereit, jemandem den Kopf abzureißen. Einfach so.
Sie fühlte sich, als hätte sie die Kraft dazu, genau wie der Hulk. Sie würde Hannas Kopf nehmen und ihn zerquetschen. Wieso hatte sie ihr die ganze Zeit etwas vorgemacht? Verlogenes Drecksstück! Das war so unfair! Heute würde Nele sie zur Rede stellen.
Nele war schon auf dem Weg zu Hannas Praxis, es war auch egal, dass sie heute keinen Termin hatte. Sie musste mit ihr reden – sofort! Sie hatten sich bis hierhin so gut verstanden, damit war jetzt Schluss. Wenn sie nicht Neles Therapeutin gewesen wäre, vielleicht wären sie dann richtig gute Freundinnen geworden. Aber in diesem Fall wollte sie Hanna, nachdem sie ihr den Kopf abgerissen hatte, nie wieder sehen.
Auch wenn Hanna ihr geholfen hatte. Ein wenig zumindest. Neles Schlafwandelattacken kamen immer seltener vor. Es war letztes Jahr wieder richtig schlimm geworden, als ihr Verlobter sie verlassen hatte. Und Hanna war die erste Therapeutin gewesen, der sie sich richtig anvertrauen konnte. Bei Nele handelte es sich nicht um eine normale Form des Schlafwandelns. Sie litt gleich unter mehreren Schlafverhaltensstörungen.
»Parasomnie«, hörte Nele Hanna sagen.
Das Schlimmste war das Sexschlafwandeln. Oder auch Sexsomnia, wie Hanna es fachlich nannte. In den meisten Fällen stöhnten und masturbierten die Betroffenen, während sie schliefen, oder sie befummelten ihren Partner. Aber Nele lebte ihre Träume aktiv aus. Sie stand auf, zog sich sexy Wäsche an, schminkte sich, föhnte sich die Haare und stiefelte beispielsweise los, um ihren Nachbarn zu verführen. Auch dass sie sich selbst einschloss, brachte nichts. Ihr nächtliches Ich war nämlich äußerst intelligent und schaffte es immer wieder, sich zu befreien. Nele hatte sich sogar schon selbst ans Bett gefesselt, nichts half. Sich selbst – oder auch sein schlafendes Selbst – zu überlisten war anscheinend unmöglich.
Für gewöhnlich erinnerte Nele sich nach dem Aufwachen nicht mehr daran, was sie nachts getan hatte. Meist bemerkte sie es nur dann, wenn sie an einem anderen Ort wach wurde. In der Straßenbahn, einer fremden Wohnung, im Treppenhaus, in einem Hotel oder aber – dieses Highlight konnte sie seit letzter Woche dazu zählen – auf einem Friedhof. Sie hatte Angst vor der Person, die sie war, wenn sie schlief. Sie war unberechenbar. Dabei hatte Nele sich im Wachzustand immer bestens unter Kontrolle. Na ja, nicht immer, aber meistens.
Hanna hatte sich bei der Behandlung hauptsächlich auf ihre anderen Schlafstörungen, wie das Schlafwandeln an sich, konzentriert und war der Meinung, dass damit auch die Sexsomnia verschwinden würde. Sie hatte Nele erklärt, dass ihr wahres Ich nichts mit ihrem schlafenden Ich gemein hatte, aber wo kam das Ganze dann her?
Als Nele an Hannas Praxis ankam, die in einer abgelegenen Einkaufspassage lag, stand eine junge Frau davor und weinte. Sie kam ihr bekannt vor. Hatte Nele sie schon mal in Hannas Praxis gesehen? Sie glaubte schon, vermutlich war die andere Frau auch eine Patientin. Aber warum stand sie hier rum und heulte? Egal! Nele hatte gerade bestimmt keine Lust, Mutter Teresa zu spielen.
Stattdessen holte sie noch etwas mehr Wut hervor, indem sie sich in Erinnerung rief, wie schön diese Einkaufsmeile in ihrer Kindheit ausgesehen hatte. Doch seit vor einigen Jahren nur knapp einen Kilometer entfernt ein großes Einkaufszentrum im amerikanischen Stil eröffnet hatte, verkümmerten die kleinen Lädchen auf der früher noch mit prachtvollen Kirschbäumen geschmückten Allee. Heute standen hier Mülltonnen. Mülltonnen! Dort wo früher wunderschön blühende Bäume gestanden hatten. Unfassbar.
Die Praxis befand sich zwar im Erdgeschoss eines Bürogebäudes, hatte aber einen eigenen Eingang. Nele versuchte mit ihren neu erworbenen Hulk-Superkräften die Tür aufzustoßen, doch sie war abgeschlossen. Die weinende Frau sah Nele an, zog die Nase hoch, schluckte den Rotz herunter und schniefte.
»Keiner da. Es ist bestimmt was ganz, ganz Schlimmes passiert!«
Sie klang wie ein kleines Mädchen, das alleine zu Hause war und seine Eltern nicht erreichte, während draußen ein Orkan tobte.
Wohl keine Optimistin, die Kleine, dachte Nele. »Warum denn gleich was ganz, ganz Schlimmes?«
»Weil Hanna immer zuverlässig ist. Sie ist immer da. Immer pünktlich! Ich hab es auch schon hundert Mal auf ihrem Handy versucht. Da geht auch keiner ran!« Schnief, rotz, schluck. Die junge Frau zog die Nase hoch wie ein ungehobelter Bauarbeiter, was überhaupt nicht zu ihrer zierlichen Statur passte.
»Du hast ihre Handynummer?«
»Ja klar, für Notfälle. Ich bin übrigens Jenny.«
Nele war irritiert. Notfälle? Auf sie wirkte diese Jenny eher so, als wäre sie der Notfall. Nele gab ihr die Hand und stellte sich vor. Es war kaum ein Händedruck spürbar, fühlte sich eher so an, als würde man einen Lappen in die Hand gelegt bekommen.
Jenny war klein und zierlich, hatte strohiges aschblondes Haar bis zu den Schultern und schmale Lippen. Sie trug eine bronzefarbene elegante, schlichte Brille. Ihre Augen hatten eigentlich einen schönen Blaugrünton, doch dass sie vom vielen Weinen rot unterlaufen waren, fiel wesentlich mehr auf als ihre Augenfarbe selbst. Nele schätzte, dass Jenny jünger wirkte, als sie war. Sie kam rüber wie ein nervöser, aufgewühlter Teenager, war aber wahrscheinlich schon Anfang oder Mitte zwanzig. Auf jeden Fall war sie um einiges jünger als Nele, die mitten in ihren Dreißigern steckte.
»Was sollen wir denn jetzt tun?« Jenny schien heilfroh darüber zu sein, jemanden gefunden zu haben, mit dem sie ihre Sorgen teilen konnte.
Nur dass Nele die Therapeutin aus einem anderen Grund sehen wollte. Sie brauchte keine Hilfe von ihr, nicht mehr. Nicht nach dem, was Hanna getan hatte. »Warten, bis sie auftaucht.« Nele fingerte in ihrer braunen Lederhandtasche nach der Zigarettenschachtel, die sie am Vorabend im Kiosk gekauft hatte.
»Aber ich warte schon seit über zwei Stunden!«
Puh, die hat ja einen langen Atem. »Du scheinst echt ein geduldiger Mensch zu sein.« Nele steckte sich eine Zigarette an. Sie hatte gestern wieder angefangen zu rauchen. Gestern, etwa zehn Minuten, nachdem sie von Hannas Verrat erfahren hatte. Sie wollte Hanna zur Rede stellen. Jetzt! Wo war sie?
»Du rauchst? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist?« Jenny schien ernsthaft schockiert zu sein. Sie sah Nele an, als würde sie sich gerade mitten auf der Straße einen Schuss setzen.
»Das ist eine rhetorische Frage, oder?«
»Nee. Ernsthaft jetzt. Das tötet dich. Das weißt du doch, oder?«
Nele sah auf die Zigarettenpackung, die neuerdings verstörende Fotos zeigte, die mit Sicherheit keinen Raucher abschreckten, und versuchte einen Scherz. »Du hast recht! Da steht ja sogar ein Warnhinweis auf der Schachtel.«
»Siehst du!«
Diese Frau hatte einen Sinn für Humor, der meilenweit von Neles entfernt lag. Wenn sie überhaupt einen hatte. Jenny antwortete so ernst, als ob die Möglichkeit bestünde, dass Nele tatsächlich noch nie davon gehört hatte, dass Rauchen gesundheitsschädigend war. Nele beantwortete den naiven Kommentar mit einem gleichgültigen Schulterzucken und einem schiefen Lächeln. Dann hielt sie Jenny die Packung hin und bot ihr eine Kippe an.
»Beruhigt die Nerven.«
»Nein danke.« Jenny atmete dreimal hintereinander tief und laut durch. Nele äffte sie nach, allerdings inhalierte sie dabei den Qualm ihrer Zigarette. Jenny sah sie kopfschüttelnd an und wedelte den Rauch weg, der in ihre Richtung waberte. »Wir müssen was machen. Lass uns die Polizei rufen.«
»Moment mal. Wir? Uns? Also, mach gern, was du willst. Aber ich schlag hier jetzt keinen Alarm, nur weil die nicht da ist.«
Nele hatte den Eindruck, dass Jenny ihr gar nicht richtig zuhörte. Sie plapperte einfach weiter: »Oder ins Krankenhaus könnten wir auch fahren. Ja, da hab ich auch noch nicht angerufen. Gute Idee. Ich ruf erst im Krankenhaus an, und wenn die nichts wissen, bei der Polizei.« Jenny schob ihren eigenen Film. Aufgeregt griff sie zum Handy, sodass es ihr beinahe runterfiel, und ließ sich von der Auskunft mit dem Krankenhaus verbinden. Während es läutete, nahm Jenny Neles Hand. Sie drückte plötzlich so fest zu, dass Nele keine Chance hatte, ihre Hand aus dem Griff zu lösen.
Steckt also doch was in dir, dachte Nele, trotz des laschen Händedrucks. Nur entsprang Jennys plötzliche Kraft aus Angst und nicht aus Stärke. Warum sie wohl bei Hanna in Therapie war?
Sascha sah, wie die schöne Frau mit den langen dunkelbraunen, lockigen Haaren die Zigarette austrat und die kleine Unscheinbare ganz aufgeregt telefonierte und dabei die Hand der anderen hielt. Die beiden bemerkten ihn nicht, und das war auch gut so. Er saß einige Meter abseits, versteckt auf einer Bank hinter einer Mülltonne. Hier hat bestimmt mal ein Baum gestanden, dachte er. Sascha hatte die Kapuze seines Pullis über den Kopf gezogen und trug zusätzlich eine rote Kappe, deren Schirm darunter hervorlugte.
Warum war Hanna heute noch nicht aufgetaucht? Sie war sonst immer pünktlich, und nun wartete er schon über drei Stunden auf sie. Die flachbrüstige Blonde war ungefähr eine Stunde nach ihm hier aufgetaucht und seitdem panisch auf und ab gerannt. Bis die Hübsche aufgetaucht war. Und die war echt granatenmäßig hot. Auch wenn sie wesentlich älter war als Sascha, bestimmt schon über dreißig. Aber vielleicht stand sie ja auf junge Kerle. Die Kleine ohne Titten redete ununterbrochen auf die Granate ein.
Die zwei waren vermutlich Patientinnen von Hanna. Und trotzdem hatte Sascha das Gefühl, Hanna besser zu kennen. Obwohl sie sich noch nie unterhalten hatten. Er war ihr näher gewesen als diese beiden Frauen. Zumindest in den letzten Wochen. Was die zwei wohl zu Hanna geführt hatte? Die Zierliche wirkte scheu und unsicher, als wäre sie von Ängsten zerfressen. Sascha tippte auf Albträume. Sie sah aus, als bekäme sie nur wenig Schlaf. Blass, müde, unterlaufene Augen. Und dass Sascha das sogar aus dieser Entfernung beurteilen konnte, sprach für sich.
Plötzlich näherte sich den beiden Frauen ein glatzköpfiger, muskulöser Mann, der trotz herbstlicher Temperaturen nur ein T-Shirt trug. Seine Unterarme waren tätowiert. Er stapfte mit bedrohlich erhobener Hand auf die Frauen zu und brüllte die kleine Blonde an. Die andere stellte sich vor sie und schrie zurück.
Mutig, dachte Sascha, denn der Kerl sah so aus, als wäre er bereit, jede Sekunde zuzuschlagen. Sascha konnte nicht genau verstehen, was der Tätowierte brüllte, aber fest stand, er war stinksauer.
Die Hübsche stand weiterhin schützend vor der Kleinen. Natürlich hätte auch Sascha einschreiten können, aber er hatte keinen Bock auf Prügel. Und wenn Sascha sich irgendwo einmischte, endete es immer so, dass einer was auf die Fresse bekam. Meist er selbst. Trotzdem blieb er sitzen, bis der Glatzkopf abgezogen war. So viel Gentleman steckte dann doch in ihm.
Die Kleine fing an zu heulen, sobald der Kerl weg war. Die Vollbusige nahm sie mütterlich in den Arm und beruhigte sie. Die beiden unterhielten sich, und die Ängstliche schien irgendwohin zu wollen. Der Hübschen blieb wohl keine andere Wahl, als sie zu begleiten. Auch wenn sie nicht gerade glücklich darüber aussah, ging sie mit der Heulboje mit.
Die zwei liefen an Sascha vorbei. Die Kleine schenkte ihm nur einen kurzen Blick. Aber die sexy Schnecke sah zweimal hin. Sascha drehte den Kopf weg und wartete, bis sie außer Sichtweite waren. Dann stand er auf und machte sich auf den Weg.
Fragte sich nicht jeder Mensch diese eine Sache? Jeder formulierte es vielleicht etwas anders, aber jeder wollte am Ende wissen: Was, zur Hölle, ist der Sinn des Lebens?
Und dabei war es doch eigentlich total logisch: Überleben.
So simpel, so klar. Mehr war es nicht. Wir sollten überleben, und damit war es geschafft. Sich vermehren, um nicht auszusterben, wäre dann konsequenterweise auch noch eine ganz gute Idee. Aber das war’s. Warum sollte es bei uns anders laufen als im Tierreich?
Ich war also im Krankenhaus und musste mich mit dem Gedanken abfinden, nicht mehr in meinen Körper zurückzukehren. Zumindest sagte das der Arzt, der soeben neben mein Bett getreten war, meine Eltern und meinen Freund im Schlepptau. Er erklärte mich für so gut wie tot.
Meine Mutter begann zu weinen, mein Vater unterdrückte seine Tränen, fuhr sich pausenlos mit der Hand über die Augenbrauen und schluckte. Ich sah Michael, der versuchte, meine Mutter zu trösten, meinen Vater, der ihn von ihr wegschob, weil er ihn noch nie gemocht hatte.
Der Arzt erläuterte trocken, was meine Patientenverfügung besagt: Bei einem Hirntod werden die Geräte nach einem Monat abgestellt. Das hatte ich so veranlasst. Ich wollte es niemandem antun, in so einem Fall eine derartige Entscheidung treffen zu müssen.
Bald wäre ich siebenunddreißig geworden, aber ich habe es nicht geschafft zu überleben. Dabei war das doch der einzige Sinn des Lebens. Oder?
Noch dreißig Tage also. Ab jetzt.
Sascha wollte bei Hanna zu Hause nachsehen, und wenn sie nicht dort war, würde er bei ihrem Macker vorbeischauen. Sascha konnte den schmierigen Kerl nicht ab. Falsches Lächeln, mit Gel zurückgeklatschte Haare, gemachte Zähne und einen Stock im Arsch. Er fuhr ’ne geile Karre, okay, das war aber auch schon alles, was er an dem Typ bewundernswert fand.
Sascha war fast angekommen.
Hanna lebte nur einige Straßen entfernt von ihrer Praxis, also ging Sascha zu Fuß. Er hasste den Bus und die Bahn. Er war noch nicht lange in der Stadt, erst seitdem er Hanna ausfindig gemacht hatte, aber er fand sich überall schnell zurecht. Außerdem hatte er als Kind schon mal für ein paar Monate hier gelebt. Er war sich nicht mehr sicher, bei welcher Familie. Waren es die steifen, strengen Schmidts gewesen oder doch die irre Künstlerfamilie, die keine Türen hatte? Nicht mal im Bad! Sascha erinnerte sich nicht mehr genau daran, dafür hatte er zu oft die Familie gewechselt. Vielleicht waren es auch die hochpädagogischen “Man-kann-über-alles-reden“-Lehrerpflegeeltern gewesen, die Sascha nach einer Woche wieder rausgeschmissen hatten. Er hatte damals seine Pyromanen-Phase gehabt, und das war nicht besonders gut angekommen. Vor allem, da er ihr komplettes Haus abgefackelt hatte. Aber wirklich aus Versehen! Damals war er zehn oder elf Jahre alt gewesen.
Er war noch durch diverse Pflegefamilien gehüpft, doch keiner wollte ihn. Am Ende war er in einer Einrichtung für betreutes Wohnen von schwer Erziehbaren volljährig geworden. Ohne Familie und ohne richtige Freunde. Ein richtiges Zuhause kannte er nicht, auch wenn er eine grobe Vorstellung davon hatte. Seit knapp einem Jahr lebte er mal hier, mal da. Er war ein Überlebenskünstler, und dieses Talent konnte ihm keiner nehmen.
Noch war es dem Hotel, in dem Sascha eingecheckt hatte, nicht aufgefallen, dass er das mit einer geklauten Kreditkarte getan hatte. Und da der Heini, dem er sie entwendet hatte, bestimmt fünfzig von den Dingern besaß, würde es bestimmt noch eine Weile dauern, bis er es checkte und die Karte sperren ließ. Und bis dahin konnte Sascha relaxen und es sich gut gehen lassen.
Schon als er in Hannas Straße einbog, bemerkte Sascha die Polizeiautos, die direkt vor ihrem Haus parkten. Hanna wohnte allein in einem kleinen gelben Reihenhaus mit bodentiefen Fenstern. Die Gegend war perfekt für Kinder. Es gab Schulen, Spielplätze und jede Menge verkehrsberuhigte Zonen. Mehrere Beamte tummelten sich vor der offen stehenden Haustür. Saschas Herz schlug augenblicklich schneller. Hanna durfte nichts passiert sein. Bitte nicht.
Er schlenderte möglichst unauffällig an Hannas Haus vorbei, aber die Beamten sahen ihn direkt an und fingen an zu tuscheln. Sascha musste rausbekommen, was hier passiert war und ob es Hanna gut ging. Er hatte keine andere Wahl, als zu fragen. Also nutzte er den Augenkontakt, den einer der Polizisten zu ihm aufnahm, und ging direkt auf ihn zu.
»Hallo, ich wohne nur ein paar Häuser weiter. Was ist denn hier passiert?«
»Kennen Sie Frau Felder?«, erkundigte sich der bierbäuchige Beamte.
»Wie das halt so ist unter Nachbarn. Man sagt Hallo, macht ein bisschen Smalltalk. Ist ihr was passiert?« Sascha war schon immer ein Meister gewesen, wenn es darum ging, zu lügen. Er überlegte immer wieder, Schauspieler zu werden.
»Sie wurde letzte Nacht angegriffen, ja. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht. Sieht wohl nicht gut aus.«
»Heißt?«
»Mehr darf ich dazu nicht sagen. Ist Ihnen eventuell diese Nacht etwas Merkwürdiges aufgefallen?«
Sascha verneinte. Er hätte dem Polizisten am liebsten aufs Maul gehauen. Danke du Pisser! Erst anfixen und dann die Fresse halten. Arschloch! Er musste wissen, wie es Hanna ging.
Sascha versuchte, einen Blick ins Haus zu werfen. Er sah einen sportlichen dunkelhaarigen Mann mit Dreitagebart in ziviler Kleidung. Er trug eine verschlissene Jeans und ein nicht gebügeltes kariertes Hemd. Es sah aus, als hätte er das Sagen. Dann versperrte Sascha ein anderer Polizist die Sicht.
»Hey, was wollen Sie hier?«
»Nichts. Bin schon weg.«
Sascha wollte gerade abhauen, da trat der Mann mit dem zerknitterten Hemd aus der Tür. Er hatte volles Haar, obwohl er bestimmt doppelt so alt war wie Sascha. Der Mann ging auf die vierzig zu, und Sascha war etwas neidisch, weil er selbst leider schon immer sehr dünnes Haar gehabt hatte. Und es keine Chance gab, sie irgendwie cool zu stylen. Mit Gel sah es einfach nur nass und fettig aus; ließ er sein Haar wachsen, wirkte er wie ein ungepflegter Penner. Und war es kurz, hätte man denken können, er hätte soeben eine Chemotherapie hinter sich gebracht. Er fand seine Haare zum Kotzen, weshalb er eigentlich immer eine Mütze oder Kappe trug.
Der Mann im Karohemd entdeckte ihn. Im Gegensatz zu seinen Kollegen nahm er Sascha wohl direkt als einen Verdächtigen ins Visier. Er kam näher. Sascha konnte sich keinen Ärger mit den Bullen leisten. Also drehte er sich weg, machte ein paar Schritte Richtung Straße und setzte ein versöhnliches Lächeln auf. »Bin schon weg.«
Der Polizist im Karohemd machte zwei große, schnelle Schritte auf ihn zu und packte Sascha am Arm. »Schön hier geblieben.«
Phil ließ den Arm des Jungen mit der roten Kappe wieder los. Am liebsten hätte er den Vogel geduzt, der hier an seinem Tatort rumschlich. »Was wollen Sie hier?«
»Ich wollte nur fragen, was hier los ist.«
Der Kleine wollte ihn doch verarschen. Obwohl er nicht klein war. Aber jung. Vielleicht so achtzehn, neunzehn. »Und Sie sind?«
»Aus der Nachbarschaft.«
»Name? Adresse?« Phil traute ihm nicht, und mit seinem Bauchgefühl lag er fast immer richtig. Der Junge log.
»Ich wohne direkt da vorne. Bin schon weg.«
»Könnte ich wohl mal deinen Ausweis sehen.« Scheiße! Jetzt war ihm also doch ein Du rausgerutscht. Der Junge fing an, in seinen Hosentaschen zu kramen.
»Kennst du die Frau, die hier wohnt?« Phil dachte an das Sprichwort, dass Täter immer zum Ort des Verbrechens zurückkehren. Aber warum hätte dieser junge Kerl der Therapeutin Hanna Felder etwas antun sollen? Andererseits, warum nicht? Phil war kurz abgelenkt, als er einen Kollegen seinen Namen rufen hörte. Und der kleine Bastard nutzte den Moment seiner Unachtsamkeit sofort aus: Er rannte plötzlich los. Damit hatte er sich innerhalb einer Sekunde zu einem Verdächtigen gemacht.
Phil sprintete ihm nach, ebenso zwei seiner Kollegen, aber der Typ war verdammt flink. Er hüpfte über Motorhauben und Gartenzäune. In der Zeit, in der Phil einen Schritt schaffte, machte er zwei. Der Junge hatte echt verdammt lange Beine. Er war um eine Ecke gebogen, und als Phil sie erreichte, war der Junge nicht mehr zu sehen.
»Verfluchter Mistkerl! Dich krieg ich noch!«, keuchte Phil und blieb stehen. Seine Kollegen gaben per Funk eine Fahndung raus: Männlich, circa einen Meter fünfundneunzig groß, trägt rote Kappe und blauen Kapuzenpulli, Jeans, weiße Turnschuhe. Alter schätzungsweise zwischen achtzehn und zwanzig.
Phil ging zurück zum Haus und sah Steffen, seinen neuen Kollegen, auf sich zukommen. Er hatte ein langes stählernes Ding in der Hand. Es war ein Golfschläger.
»Hey Phil. Den hab ich gerade im Gebüsch vier Häuser weiter entdeckt. Ist Blut dran.« Steffen präsentierte ihm stolz den Kopf des Schlägers. »Soll ich das in die Kriminaltechnik bringen lassen, damit die Jungs den Schläger auf Fingerabdrücke untersuchen können? Und gucken, ob das Blut von dem Opfer stammt?«
»Spurensicherung ist noch vor Ort. Gib ihnen das Teil einfach mit.«
»Mach ich, Chef. Gut, wa? Wenn das die Tatwaffe ist, dann haben wir den Fall bestimmt bald gelöst.«
Steffen wollte gelobt werden, wie immer. Selbst dafür, dass er täglich den Weg zum Büro alleine fand, hätte er wahrscheinlich gerne eine Urkunde bekommen.
»Ja, ja. Glückwunsch. Du verdienst einen Orden.«
Sein Kollege grinste und verstand den Sarkasmus eindeutig nicht. Phil konnte diesen Klugscheißer nicht ab. Egal, was er tat, Steffen musste immer alles kommentieren und wie in der Sendung mit der Maus erklären. Und er erzählte einem ständig Dinge, die man entweder längst wusste oder gar nicht wissen wollte. Er hatte diesen Steffen jetzt seit knapp zwei Wochen an der Backe, und Phil hatte versucht, seine Grenzen auszutesten, um auszuloten, woran er bei Steffen war. Er wollte wissen, mit wem er es zu tun hatte. Und rauszubekommen, was jemanden auf die Palme brachte, half da oft weiter. Erst war es ein kumpelhaftes Verarschen und Aufziehen gewesen, so wie es unter Männern oft üblich war. Er gab ihm Frauennamen, hatte ihn alle Laufarbeiten und unnötigen Papierkram erledigen lassen. Dann war er aufs Ganze gegangen, hatte ihm jegliche Böswilligkeiten an den Kopf geschmissen, ihn beleidigt, fast schon gequält. Aber Steffen war immer noch da, grinste sich von morgens bis abends einen ab, trank pro Tag mindestens fünf Energydrinks und war einfach nicht kleinzukriegen. Hieß: Phil hasste ihn, fand ihn aber trotzdem gut. Steffen ging ihm wirklich auf den Sack, doch er war engagiert und machte einen guten Job. Nur kaum versuchte Phil Sympathien für Steffen in sich zu wecken, legte der wieder los.
»Ich kenn mich da übrigens etwas aus. Mein Onkel spielt Golf, weißt du? Recht erfolgreich sogar. Arbeitet gerade an seinem Handicap. Er strebt eins von vier an, soweit ich weiß. Oder warte, sein Handicap ist vier, und er will ein dreier. So war es, glaub ich.«
»Er will einen Dreier? Tja, wer will das nicht?« Phil erinnerte sich an seinen letzten und bisher einzigen Dreier, der schon viele Jahre zurücklag. Er war Anfang zwanzig und mit der Situation total überfordert gewesen. Eigentlich hatten die Mädels sich auch mehr miteinander vergnügt als mit ihm. Trotzdem hatte er sich danach unbesiegbar gefühlt und seinen Kumpels alles erzählt. Er hatte richtig damit rumgeprahlt. Albern, aus heutiger Sicht. Jetzt, da die ersten grauen Haare kamen, bevorzugte er es, ein Gentleman zu sein und zu schweigen.
Schweigen – eine Tugend, die Steffen nicht beherrschte. »Also, drei ist besser als vier beim Golf, so als Handicap. Aber wie man das genau berechnet, habe ich noch nie so ganz kapiert. Du, Phil?«
»Das interessiert mich gerade und im Allgemeinen herzlich wenig. Aber wenn du jetzt nicht auf den Punkt kommst, verpass ich dir gleich ein Handicap. Eins, das nichts mit Golfen zu tun hat. Verstanden?«
»Warum denn so gestresst heute? Hast du schon mal Minigolf gespielt, Phil?«